Zum Wegverlauf geistlicher Berufung

[33] Gott ist der immer Neue, er wiederholt sich nicht. So viele Menschen seinem Ruf folgten, so viele Erfahrungen, so viele unterschiedliche Lebenswege tragen sich in die Geschichte der Menschheit ein. Und doch ist die Vielfalt nicht ohne Ordnung, ist sie eine Harmonie. Ihr Klang kann nicht im Voraus berechnet werden; er gibt sich zu hören, wenn wir uns auf den Ruf einlassen, wenn wir uns auf den Weg machen. Im Austausch geistlicher Erfahrung bilden sich Strukturen spezifischer Wegverläufe heraus.

Es gibt bestimmte Rhythmen und Abfolgen, die von Menschen in der Nachfolge Jesu immer wieder erfahren und bezeugt werden. Um Berufungen zu entdecken, zu fördern und zu begleiten, ist es bedeutsam, solche Wegverläufe zu kennen. So kann es gelingen, Menschen auf dem Weg zu geleiten, ihnen zu raten, Werkzeug des Geistes zu sein, der allein das Herz des Menschen bewegt. Bei näherem Hinsehen entdecken wir, daß die großen „Spiritualitäten“ in der Geschichte des Christentums Wegerfahrungen sind. Sie haben sich einem oder einigen erschlossen, die sich auf den Geist einließen - und dann wurden andere angezogen, sind andere mitgegangen, haben andere auf dem Weg dieses ersten oder dieser ersten ihren eigenen Weg gefunden.

Beim Freiburger Katholikentag 1978 hat mich in einem Gespräch ein Wort von Mutter Teresa von Kalkutta betroffen: „Aus dem Gebet wächst der Glaube, aus dem Glauben wächst die Liebe, aus der Liebe wächst der Dienst.“ Das Nachdenken über dieses Wort und das Gegenlesen dieses Wortes an unterschiedlichen Erfahrungen weisen auf drei „Wegverläufe“ geistlicher Berufung hin.

[34] Erster Wegverlauf

Zunächst spiegelt das Wort von Mutter Teresa selbst einen Wegverlauf geistlicher Berufung, der durch ihre reiche Erfahrung mit jungen Menschen gedeckt ist und durch vielfältige Erfahrung anderer bestätigt wird.

Die Stufenfolge heißt also: Beten - Glauben - Lieben - Dienen. Angewandt auf den Beitrag des begleitenden Mitgehens: Menschen mit einer Sensibilität für Gott zum Beten führen - dieses Gebet als Erfahrung des Glaubens durchsichtig machen, den Glauben vertiefen - aus dem konkreten Glauben die unteilbar doppelte Liebe zu Gott und den Menschen fördern - darin die Bereitschaft zum Dienst erwecken. Wo dieser Dienst liegt, ist die Sache Gottes. Aber auf diesem Weg wachsen die Bereitschaft, den Dienst Gottes zu übernehmen, und die Erkenntnis, welcher Dienst dem konkreten Ruf Gottes entspricht. Suchende, Fragende, „Angerührte“ vom Sprechen über Gott hinzuführen zum Sprechen zu Gott - das ist der eröffnende Schritt. Die konkrete Einweisung in die Erfahrung des Gebetes hilft entdecken, daß wir auf einem tragfähigen Grund, daß wir in einer lebendigen Beziehung stehen. Gott hört auf, ferner Bezugspunkt, äußerster Horizont zu sein; er wird Partner, Gegenüber, Hörender und Rufender. - Wie sollte ohne solche Erfahrung Berufung in den Blick eines Menschen treten? Der Gott, den ich nicht mehr rufen kann, kann auch mich nicht rufen. Wer beten lernt, der lernt glauben - dieser Glaube bedarf der Vertiefung. Und in diesem Glauben geht es nicht nur darum, möglichst viel von Gott zu wissen, auch das Wissen über Gott muß Wissen „zu Gott hin“ werden: liebendes Wissen um ihn. Im Umgang mit ihm, im glaubenden Kennenlernen Gottes ist es entscheidend, sein Ja, das mich trägt, anzunehmen und ernstzunehmen, um es mit einem tragenden, liebenden Ja zu beantworten.

Das Ja, das er zu mir spricht, ist unteilbar dasselbe Ja, das [35] er zu den anderen spricht, und so wird mein Weg zu ihm Weg auf die anderen zu, Weg des Ja zu allen anderen. Im Glauben wächst jene Liebe, die sich zugleich Gott und den Nächsten zuwendet: Liebe führt zum Dienen. Das Ja Gottes weitersagen, um des Ja Gottes willen auch anders für die anderen leben: das erst eröffnet jene Verfügbarkeit, in welcher der Ruf Gottes eintreffen und seine Richtung zeigen kann.

Zweiter Wegverlauf

Nicht selten treffen wir bei jungen Menschen auf einen Wegverlauf von Berufung, der zunächst wie eine „Umkehrung“ des Weges von Mutter Teresa erscheint. Also: im Dienen wächst Liebe, im Lieben Glaube, im Glauben Gebet - und aus dem Gebet, aus dem Gespräch mit dem lebendigen Gott die Sensibilität und Bereitschaft für seinen Ruf.

Oft überrascht und betrifft uns spontane, unreflektierte Bereitschaft junger Menschen zum Helfen, zum Dienen, zum Einsatz für andere. Es gilt, die in solcher Bereitschaft verborgen anziehende und bewegende Liebe zu entdecken und zu entfalten: Ja zum anderen, Ja zu jedem anderen, Ja zum Ja, Liebe zur Liebe. Um ein augustinisches Wort aufzugreifen: Wer liebt, der liebt die Liebe. Wer liebt, der liebt - anfanghaft, indirekt - Gott.

Das Ja zum Ja, das Ja zur Liebe aus der maßgebenden, tragenden, je mächtigeren Macht muß aber vom bloßen Idealismus zur glaubenden Entscheidung weiterfinden. Wenn nur ich liebe, hat dann die Liebe wahrhaft schon recht? Und kann ich, werde ich immer aus mir der Liebe als meinem Lebensentwurf treu sein?

Die Botschaft von dem Gott, der Liebe ist, der bis zum letzten liebt und der durch seine Liebe unsere Liebe ermöglicht, trägt, ergänzt und vollendet, von dem Gott, der unser Nichtlieben auffängt, der vergibt und uns neuen An-[36] fang schenkt, von dem Gott, der alles in Liebe verwandelt gewinnt ihren Sitz im Leben. „Wir haben geglaubt an die Liebe!“ (1 Job 4,16). Wo aus der Liebe Glauben an die Liebe wächst, da wachsen auch Sprechen zur Liebe, Hören auf die Liebe: Gebet als Offenheit, sich rufen zu lassen. Und aus solchem Gebet wird sich dann neu der Wegverlauf ergeben, der im Wort von Mutter Teresa aufgezeichnet ist.

Die „Hermeneutik“ der Einsatz- und Dienstbereitschaft auf Liebe hin, das Geleit vom Liebenwollen zum Glauben und Gebet hin sind entscheidende Schritte in jener „Kunst der Seelenführung“, die Papst Johannes Paul II. in seinem Gründonnerstagsbrief 1979 an die Priester fordert.

Dritter Wegverlauf

Vielerlei authentische und gerade für unsere Situation typische Erfahrungen lassen auf einen nochmals anderen Einstieg aufmerksam werden. Immer zahlreicher bilden sich Gruppen und Zellen, die im Evangelium ein Angebot und einen Anruf zum „Anders-Leben“ entdecken. Man trifft sich morgens oder abends oder wöchentlich und tauscht Erfahrungen mit einem Wort des Evangeliums oder mit einem Impuls aus, der von einer überzeugenden Gestalt der Nachfolge ausgeht. Zugleich mit dem Leben aus dem Evangelium wächst die Gemeinschaft miteinander, ein Leben auf den lebendigen Herrn in der Mitte zu. In solchen Gemeinschaften bricht eine Beunruhigung des einzelnen auf: Wo ist mein Weg? Der mit seinem Wort - wenn ich daraus lebe - meinen Alltag verwandelt, der mit seiner Gegenwart - wenn wir sie suchen - unsere Gemeinschaft verwandelt: Warum sollte er nicht auch einen Ruf auf ganz und immer für mich bereithalten? Viele geistliche Berufungen erwachen heute im Feld lebendiger Zellen und Bewegungen. Der einzelne braucht dabei Rat und Geleit auf seinem Weg von der gemeinsamen Begeisterung zur [37] personalen, tragfähigen Lebensentscheidung. Dieser Weg wird wiederum jene Stufen integrieren müssen, die von Mutter Teresa bezeichnet sind: Beten, das den Herrn fragt: Was willst du, daß ich tun soll - Glaube, daß der Herr nicht nur aus dem Boot ruft, sondern auch auf dem Wasser trägt - Liebe, die Krisen und Enttäuschungen besteht und bereit ist, sich wie Jesus und um Jesu willen für die anderen zu verschenken - Entdecken und Annehmen des Dienstes, zu dem der Herr für immer ruft.

Wie - so mag der Leser am Ende dieser knappen Wegskizzen sich selber fragen - soll ich andere auf diesem Weg begleiten können? Antwort: begleiten heißt mitgehen, heißt selber gehen. Für jeden gilt immer neu, immer wie zum ersten Mal persönlich: aus dem Beten wächst das Glauben - aus dem Glauben wächst die Liebe - aus der Liebe wächst das Dienen.