Kriterien und Anzeichen einer Berufung
[51] Vorbemerkung: Anzeichen einer Berufung sehen anders aus bei einer Postulantin oder einem Theologiestudenten als bei heranwachsenden Jugendlichen, die von der Frage nach Sinn und Weg ihres Lebens betroffen sind, anders wiederum bei Kindern, in denen fromme Begeisterung und religiöser Eifer aufbrechen. Sie sehen anders aus bei jungen Menschen, die in einem kirchlich geprägten Milieu aufwachsen, die sich in der Gemeinde, in religiösen Gruppen, Verbänden und Bewegungen engagieren, als bei solchen, die von zu Hause wenig an religiösem Wissen und kirchlicher Praxis mitbringen und eben doch von dem Anderen bewegt und beunruhigt sind, was ihnen im christlichen Leben und Zeugnis begegnet – und nochmals anders bei Menschen, die vor ihrer Lebensentscheidung stehen, als bei solchen, die von ihrem Beruf, von ihrer „Laufbahn“ weg gerufen werden. Auf diese Unterschiede wird im folgenden nicht eigens eingegangen. Die entwickelten Kriterien müssen in die jeweilige Situation hinein „übersetzt“ werden.
I. Tragfähige Motivation
Die folgenden Sätze wollen schematisch, von verschiedenen, sich nicht aus-, sondern einschließenden Ansätzen her, die Grundstruktur einer tragfähigen Motivation skizzieren, die einer Berufung entspricht. Verkürzungen und Einseitigkeiten der Motivation sind im Anfangsstadium des Wachstums geistlicher Berufung kein Zeichen gegen die Echtheit. Wohl aber ist es unerläßlich, daß sich auf [52] Dauer die rechten Motive in der Haltung und im Verstehen durchsetzen. Leben und Wollen des Berufenen erhielten dann in etwa folgende Gestalt:
Gott, du bist groß – Gott, du bist gut – tu mit mir, was du willst!
Gott, du bist wirklicher – Gott, du bist wichtiger – das soll mein Leben sein!
Die da brauchen dich, Gott – sie brauchen Menschen – Gott, brauche mich!
Liebe hat mehr recht, Liebe ist stärker – ich glaube an die Liebe – ich will dafür leben, daß viele an die Liebe glauben!
II. Elementare menschliche Merkmale einer Berufung
1. Mut zum Mehr – Mut zum Weniger.
Der rufende Gott ist der je größere Gott, der zielstrebige Beharrlichkeit oder leidenschaftliche Unruhe nach dem Je-Mehr der Liebe hervorruft, den Entschluß, nicht bei dem Halt zu machen, was „man“ für Gott und für den Nächsten tut. Die Kehrseite: Bereitschaft, für sich selber auf Genuß, Macht, Prestige zu verzichten, sich auch ins zweite Glied zu stellen. Gott und die anderen sind wichtiger als ich und meine Interessen.
2. Konzentration aufs Eine – Öffnung für alle.
Eines nur ist notwendig, einer nur ist notwendig. Dieser Eine aber ist jener, der alle im Herzen trägt, der seine Liebe allen zuwendet. Leidenschaft für Gott und Leidenschaft für die Menschen, Alleinseinkönnen und Kontaktfähigkeit, Vorliebe fürs Gebet und Offenheit zum Gespräch gehören innerlich zusammen. Auch kontemplative Berufungen sind Berufungen für die Welt, auch aktive Berufungen fordern den Dienst aus der Mitte, die Einkehr in der Mitte.
[53] 3. Demut – Selbstannahme.
Meine Grenzen erkennen, wissen, daß Gott und die anderen wichtiger sind als ich, erfahren, daß ich nichts vermag ohne den, der mich stärkt: das ist unerläßlicher christlicher Realismus. Demut bedeutet aber gerade nicht Selbsthaß oder Selbstverachtung, sondern Liebe zum eigenen Nichts, das ja von Gott geliebt ist. Ich bin Staub, aber unendlich geliebter Staub.
4. Fähigkeit zur Entscheidung – zum Abschied – zur Treue.
Gottes Ruf braucht ein Ja. Wer nie klar ja sagt, wer immer zögert und revidiert, wird seine Hand nicht an den Pflug legen können, ohne zurückzuschauen (vgl. Lk 9, 62). Ja zum einen Weg heißt aber immer auch Nein zu anderen Wegen. Wer auf keine seiner Möglichkeiten verzichten, wer keine verschenken will, der kann auch nicht die eine, zu der Gott ihn ruft, ganz ergreifen und realisieren. Lassen, was hinter mir liegt, mich ausstrecken nach dem, was vor mir liegt (vgl. Phil 3, 13): besonnener, aufgearbeiteter, aber klarer Abschied. Nur er ermöglicht Treue.
5. Wegbereitschaft, Wegfähigkeit.
Berufung ist ein Weg. Nur der vermag auf diesem Weg zu gehen, der bereit und fähig ist, sich nicht zu fixieren, nicht stehenzubleiben – selber zu gehen und sich nicht nur ziehen zu lassen – mitzugehen, sich in die Weggenossenschaft einzufügen – Schritt für Schritt zu gehen.
6. Umkehr der Maßstäbe, „neue“ Logik.
Entscheidendes Kriterium für Berufung ist die Bereitschaft, in die „andere“ Gesinnung Jesu hineinzuwachsen (vgl. die Evangelienworte über die Kreuzesnachfolge und das „Verkaufen“ und „Verlassen“). Die Grundstruktur solcher neuen Logik: Schwierigkeit und Dunkelheit wirken nicht Resignation, sondern Aushalten, Geduld – Geduld wirkt Gelassenheit, Erfahrung, Bewährung – daraus [54] wächst Hoffnung, die in der Liebe gründet und sich nicht enttäuschen läßt (vgl. Rom 5,1–5).
7. Allein gegen den Strom schwimmen – Glied sein des einen Leibes.
Der Mut zur Unterscheidung und der Mut zur Einfügung, ja zum Gehorsam, die Fähigkeit zum unkonventionellen Zeugnis und zugleich zu Kommunion und Kooperation sind nicht nur pragmatisch notwendig, sondern geistliches Grunderfordernis für jeden Berufenen.
8. Ja zum Leib – Ja zur Hingabe des Leibes.
Nachfolge und Berufung sind immer Sache des ganzen Menschen. Wer seine Leibhaftigkeit verdrängt oder vernachlässigt, bringt nicht sich selber in die Berufung ein. Das „Neue“ christlicher Berufung: Weil Gott sich gibt, sind wir als Gottes Bild auch dazu da, uns zu geben. Und so ist Leib immer dazu da, daß der Mensch sich hingibt. Gerade auch der Verzicht und die Enthaltsamkeit sind nicht Formen der Leiblosigkeit, sondern Erfüllung einer auf Hingabe hin verstandenen Leibhaftigkeit.
9. Loslassen – Einbringen; Verzichten – Gestalten.
Die „Armut“, das „Verkaufen“, die Loslösung vom Besitzen, Planen und Verfügen sind Grundvoraussetzungen, um Jesu Ruf zu folgen. Solches Loslassen ist aber nicht nur Negieren. Was ich lasse, soll ich einbringen, ich soll gelassen mit ihm umgehen, ich soll es weiterschenken. Der Verzicht eines Franz von Assisi ist neue Nähe zur Welt.
10. Beurteilen, nicht urteilen.
Im Licht Gottes sich und die Welt und die andern sehen, die Geister unterscheiden können – diese Gaben des Geistes sind nicht mit unserer natürlichen Intelligenz gleichzusetzen. Sie knüpfen aber an unserem gesunden menschlichen Urteilsvermögen an – und an unserer Bereitschaft, uns nicht an unser Urteil zu versklaven. Kritikfähigkeit, Fähigkeit, die Perspektive eines andern zu verstehen, und [55] wissen, daß die Liebe mehr sieht: dies sind Kriterien einer Berufung, denen der Berufene Schritt um Schritt näher kommen soll.
III. Aus der Perspektive des Evangeliums
Die Berufungsgeschichten des Evangeliums, aber mehr noch das Ganze seiner Verheißung und Forderung sind nicht nur der Maßstab einer jeden Berufung, sie lassen auch die Voraussetzungen sehen, die erfordert sind, wenn einer mit seiner Existenz nichts anderes sein will als „Evangelium“, als „Antwort“ an Gott und „Zeugnis“ für Gott. Darum aber geht es bei Berufung.
Dies bedeutet:
Lebensentscheidung für Gott (vgl. z. B. Mt 6,33; Mk 1,15).
Kehrseite: Alles verlassen (vgl. z. B. Mk 1,20; Mk 10,17–31; Lk 14,25–35).
Leben „auf sein Wort hin“ (vgl. z. B. Lk 5,5; Joh 6,67–69; 14,23f).
Glauben an die Liebe (vgl. z. B. Gal 2,20; 1 Joh 4,16).
Die Liebe durch Liebe bezeugen (vgl. z. B. Mk 12,28–34; Joh 13,34; 1 Kor 13).
Das Kreuz tragen (vgl. z. B. Mk 8,34–38; Mt 10,37–39; Joh 12,24–26; Röm 5,1–5).
Leben mit dem lebendigen Herrn (vgl. z. B. Joh 15,1–8; Phil 3,7–14; Kol 3,1–11).
Einheit leben, Einheit stiften (vgl. z. B. Joh 17,20–26; 1 Kor 12; Phil 2,1–11; Eph 4,1–16).