Wegweiser unserer Zeit

[26] Dreizehn Jahre alt bin ich damals wohl gewesen. Ich werde den Abend nie vergessen. Mein Vater nahm mich mit in das Werthmann-Haus, in die Zentrale des Deutschen Caritasverbandes. In einem kleinen Saal traf sich eine Handvoll Freunde, lauter Menschen, die innerlich, wenigstens innerlich litten unter der selbstherrlichen Gewalt der damaligen Machthaber und des schrecklichen Krieges, den sie entfesselt hatten.

Dann trat diese überlange, durchscheinende Gestalt herein, Reinhold Schneider. Ungelenk mit seinen langen Gliedern, mit einer leisen und spröden Stimme, aber noch nie war mir bislang so die „andere Dimension“, die Realität dessen aufgegangen, was nicht zerstörbar ist und was wahrhaft zählt. Reinhold Schneider las die soeben von ihm verfaßte Erzählung „Die dunkle Nacht des heiligen Johannes vom Kreuz“. Ich konnte es an dieser Gestalt greifen, die leibhaftig das widerspiegelte, was sie sprach: Im äußersten Leiden, im Durchgang durch die Nacht, in der Auslieferung ans Heilige lebte eine Wirklichkeit, die hält und trägt, wenn alles zerbricht.

Ein oder zwei Jahre später, als meine geliebte Heimatstadt Freiburg durch einen schweren Luftangriff getroffen wurde, war unter den zwei Büchern, die ich bei mir trug und so rettete: „Die dunkle Nacht …“. Und jene, die ein paar Jahre älter waren als ich, die, schier noch Kinder, hinausziehen mussten in den Krieg, hatten in ihrem Feldgepäck, sozusagen als geistige eiserne Ration, die „Sonette“ von Reinhold Schneider bei sich.

Wohl noch vielen stehen Verse im Bewußtsein wie der: „Allein den Betern kann es noch gelingen, das Schwert auf unseren Häupten aufzuhalten und diese Welt den richtigen Gewalten durch ein geheiligt Leben abzubringen. Denn Täter werden nie den Himmel zwingen: Was sie vereinen wird sich wieder spalten, was sie erneuern über Nacht veralten, und was sie stiften Not und Unheil bringen …“

Mit der Geschichte verwachsen

Es war klar, daß hernach, in der Zeit des Erwachens und des Wiederaufbaus nach 1945, das Wort von Reinhold Schneider wegweisende Kraft entfaltete. Aber dieses Wort wirkte, nun noch mehr, aus einer merkwürdigen, ich möchte fast sagen: ge- [27] heimnisvollen Ferne, wie durch einen Vorhang hindurch. Gewiß, er, der zuinnerst mit der Geschichte Verwachsene und ihrer Tiefen und Zusammenhänge Kundige, gehörte nicht zu jenen Phantasten, die glaubten, das Reich des reinen Geistes ohne die Endlichkeiten und Notstände einer konkreten politischen Ordnung auf die Erde niederzwingen zu können. Aber er war zu feinfühlig, um nicht darunter zu leiden, wenn nach seinem Eindruck der Zweck Mittel zu heiligen drohte, die nicht heilig, nicht rein, nicht lauterer Ausdruck des Geistes der Bergpredigt waren. Manche mochten vorübergehend den Verdacht hegen, Reinhold Schneider bleibe der große Anwalt einer Stunde, die nicht vergessen werden dürfte, in einer Stunde, die jedoch weiter vorgerückt sei und ihm das Schicksal auferlege, nicht mehr an der Zeit zu sein. Aber dieser Verdacht hat sich rasch zerstreut.

In der Berufung des Leidens

„… ich weiß nur: das Leiden ist Wahrheit. Und die Wahrheit ist Christus, der Lebendige. Das ganz Unbegreifliche, Unbeantwortbare bleibt: das Böse und sein Ursprung, die Qual der Kreatur, die Freiheit; Gott auf dieser Erde, das Schweigen und Reden der unendlichen Räume.“

Diese Sätze aus seinem späten Werk „Verhüllter Tag“ sind Signal der neuen Aktualität, die Reinhold Schneider gerade dadurch gewann, daß er – mit seiner physisch stets zerquälten und geschundenen Gesundheit und mit seinem stets verwundbaren, ja blutenden Herzen – seiner Berufung des Leidens treu blieb. In ihr wurde er zum neuen Mahner und Rufer in jeder Epoche seines Lebens und seiner Geschichte.

Treue am Abgrund des Warum

Wenn ich es aus der Perspektive meiner persönlichen Begegnungen, meines persönlichen Erlebens sagen darf, so waren es diese drei: Einmal das Leiden für alle und mit allen in der unmenschlichen Zeit der Gewaltherrschaft, in der das Kreuz als Fanal der Hoffnung sieghaft deutlich wurde.

Dann die Zeit des Neubeginns nach 1945: hier war es das Leiden unter der Versuchlichkeit des Menschen, auch des glaubenden Menschen durch die Macht.

Und dann war es diese bedeutende und bewegende, rätselhafte letzte Phase in Reinhold Schneiders Leben: seine neue Zuwendung zur Kreatur, zur Natur, zum Schönen, zur Fülle des Lebens – und zugleich der Aufbruch letzter, unstillbarer Fragen, das Leiden an jenem Warum, das nicht mit Auskünften zu beantworten ist. Dieses Warum war schon lange wohl der Unterton im Leben und Denken des großen Schriftstellers, aber es brach schockierend und betreffend auf, etwa in seinem letzten Wort im „Winter in Wien“.

Seine Größe freilich ist dies: dieses Warum riß ihn nicht fort von dem Tabernakel, vor dem er immer wieder kniete, ließ ihn nicht vergessen und verkennen, wem er sich in der großen Bekehrung seines Lebens zuinnerst zugewandt hatte. Aber die Treue zu ihm, die Liebe zu ihm, und auf der anderen Seite das Rätsel, das Warum, der Abgrund der Frage blieben nebeneinander stehen. Vielleicht liegt gerade hier der innerste und entscheidende Akt seines Nachfolgeweges.

Am Vortag von Ostern 1958 brach er auf der Straße zusammen, als er seine Ostergrüße an die Freunde zur Post bringen wollte. Am Ostersonntag hat sich für ihn das erfüllt, was das letzte Wort des Buches „Verhüllter Tag“ sagt: „Wir können nur bitten, daß uns Christus nicht verläßt im Sterben. Aber auch das kann ja geschehen – wie Er verlassen wurde am Ende, die Liebe von der Liebe um der Liebe willen. Wir können nur bitten, daß er uns, nach schrecklicher Überfahrt, erwartet am anderen Ufer – Freund und Feind, uns Alle, Alle.“