Leben und Denken aus dem Ursprung

[101] Wer ihm auf der Straße begegnet, wer unter seiner Kanzel sitzt oder unter seinem Katheder, der hat fast immer den Eindruck: Bernhard Welte blickt nach oben, in ein Oben, das zugleich Tiefe, Mitte, Bergung und Innen ist. Und doch – um ihn herum entsteht ein Kreis, der Kreis einer Sammlung, die alle, die um ihn sind, in ihren Bann zieht. Und sie werden nicht nur in das Licht und in die Perspektive desselben Sehens, nicht nur in das Kreisen desselben Gedankens hineingezogen, sie erfahren Begegnung, Kontakt, Kommunikation. Sie sind in ihrer eigenen Tiefe, in ihrer eigenen Mitte angesprochen, sie kommen selbst in Bewegung. Aber sie bleiben nicht einzelne, bleiben nicht in sich selber isoliert. Man schließt seine Augen nicht, wenn man Bernhard Welte zuhört, sondern man öffnet sie, schaut ihn an und schaut einander an – und, nicht zuletzt, man schaut die Welt an. Bernhard Welte hören heißt zugleich sehen lernen. Und wenn er in einer Predigt, in einer Vorlesung, aber auch in einem Seminar allein gesprochen hätte, man hätte doch nie den Eindruck, man sei nicht zu Wort gekommen. Ganz abgesehen davon, man kommt bei ihm zu Wort. Er läßt sehen und bringt zur Sprache. Und wer ihn einmal gehört hat, dem geht es wohl so, daß er ihn „hört“, auch wenn er seine Bücher liest.

Antwort, die an ein Innerstes rührt

Man könnte sagen: Die „Struktur“ des Prozesses, der dort in Gang kommt, wo Bernhard Welte ist, entfaltet sich als der Ineinsschlag vieler Ursprünge. Einmal ist Bernhard Welte selbst dieser Ursprung. Doch was er in seinem eigenständigen Hinsehen und Hindeuten entbindet, ist eben dies: die Sache selbst, die er interpretiert, der Denker, den er interpretiert, fangen selbst zu sprechen an. Das, worüber, und der, über den Bernhard Welte spricht, kommen je selbst zur Sprache, treten je heraus aus dem Schema einer vorgefaßten Einstufung und Einordnung, gewinnen selbst den Rang der Ursprünglichkeit. Und nicht weniger kommt der Mitdenkende, jener, der sich mitnehmen läßt ins Zusehen und Zuhören, in seine eigene Ursprünglichkeit. Aber ist es nur die seine? Der Gedanke, den Bernhard Welte ausbreitet, stößt – in aller Behutsamkeit, aber zugleich in aller Entschiedenheit – genau an diesem Punkt weiter. Daß nicht nur Sprechender und Hörender sprechen, sondern daß die Sprache selber spricht, daß nicht nur ich und du sprechen, sondern das wir selber, daß nicht nur eine Sache, ein Verhalt, ein Phänomen aufleuchten, sondern darin die Welt, die diese Sache und viele Sachen, die Welt, die das Angeschaute und die Hinschauenden umfängt, das ist die eine Entdeckung, die man mit Bernhard Welte mitvollzieht. Und die andere: das Geheimnis. Die Freigabe und der Ineinsschlag der vielen Ursprünge ist so etwas wie Antwort, so etwas wie Verherrlichung, so etwas wie Lobpreis, die an ein Innerstes und Erstes rühren, das sich jedem derben Zugriff entzieht, das sich nicht in platten Formeln auf den Tisch legt, aber das sich in allem andeutet und die Spur seines leisen, aber unübersehbaren Zeugnisses entfaltet.

Keine anderen Worte – und diese beiden Worte sind in ihrer letzten Tiefe eines und dasselbe – scheinen mir dem Denken von Bernhard Welte angemessener als die Worte Ursprung und Geheimnis. Aber entscheidend ist eben, daß hier nicht über Ursprung und Geheimnis räsoniert wird, sondern daß Ursprung und Geheimnis erfahrbar werden.

Suche nach den unzerstörbaren Wurzeln

Wer diese Worte – Ursprung und Geheimnis – als Zentrum in den Betrieb moderner Wissenschaftlichkeit hineinrückt, von dem würde man zunächst vermuten, er sei „unmodern“. Aber gerade hier verblüfft Bernhard Welte auf mehrfache Weise. Gegen jedes geschlossene und gesicherte System wirkt sein Gedanke stets behutsam, nie aggressiv, nie Bewährtes wegwerfend und Geltendes umstoßend, doch je als kühne Herausforderung. Dies war und ist ebenso der Fall gegenüber einem bescheidwissenden Hantieren mit den Formeln der großen christlichen Überlieferung wie gegenüber den Dogmatismen selbstsicherer Vernunft und Wissenschaftlichkeit, die sich, ihre Methode und ihr Ergebnis, für alles halten. Aber dieser Mut, unbequem zu sein, herauszufordern, zu entlarven, ist für Bernhard Welte zugleich der Mut, unerschrocken zu begegnen, unbefangen auf den Hintergrund hinzuhören – und so kann Bernhard Welte auf gleiche Weise den Dialog mit der ganzen christlichen Überlieferung, den neuen Zugang zu ihren Quellen vermitteln wie auch den Vorstoß zu jener Stelle, an der modernste und scheinbar verschlossene philosophische und geistesgeschichtliche Positionen dem christlichen Glauben und der Theologie etwas zu sagen haben und sich von ihnen etwas sagen zu lassen haben. Da wird allerdings nicht gegenseitig „vereinnahmt“; sich etwas zu sagen haben, das erfordert je, sich gegenüber zu bleiben, und nur von den verschiedenen Ursprüngen aus eröffnet sich der Raum, in dem das Gespräch und das Zeugnis von Ursprung und Geheimnis beheimat sind.

Solche Ursprünglichkeit erklärt auch die vielgestaltige Resonanz des Denkens, die Bernhard Welte im Grunde immer erfuhr, seit er nach dem Krieg zu lehren angefangen hat. Die Motive, die Grundhaltungen, aus denen man zu Bernhard Welte ging, haben sich vielleicht verwandelt, aber das Interesse an ihm ist unvermindert wach geblieben. Als er, nach dem Krieg, als Privatdozent zu lehren anfing, an der Freiburger Theologischen Fakultät habilitiert mit seiner Arbeit über den philosophischen Glauben bei Thomas von Aquin und Karl Jaspers, die ihm keiner so recht abnehmen wollte, weil sie zu eigen gewachsen, zu ungewohnt wirkte, waren es die Suchenden und die zum Neuen Entschlossenen, jene, die mit den bloß überkommenen Formeln allein nicht zurechtkamen und doch wußten, daß man sie nicht auf die Seite legen durfte, jene, die nach den Wurzeln suchten, die nicht durch den Zusammenbruch ausreißbar und zerstörbar geworden waren. Man hörte mit einer merkwürdigen Verwegenheit und Entschlossenheit den jungen Welte, man ließ sich sozusagen nach „vorwärts“ in ein Abenteuer mitnehmen, das er, der immer so Verläßliche, Genaue und Stille, einzugehen sich anschickte.

Drei Schwerpunkte

Dann kamen die fünfziger und frühen sechziger Jahre, jene Epoche, in welcher Bernhard Welte mehr und mehr in die Mitte des akademisch Interesses nicht nur bei Theologen, sondern zwischen den Fakultäten rückte, einer der wenigen, die eine verkörperte Universitas litterarum darstellten. Schließlich kam die Krise der späten sechziger Jahre, die Zeit der studentischen Unruhe und der neuen Umbrüche des Geistes – Bernhard Welte bezog Position und war zugleich Repräsentant der Offenheit. Und nun ist es, als ob er von neuem anfinge. Viele spüren es, daß er nicht die Klischees gekünstelter Ursprünglichkeit anzuliefern hat, die mit vielerlei Methoden uns heute aufgeredet werden, sondern sie spüren, hier ist einer, der wirklich den Ursprung kennt und zum Ursprung führt.

Es ist in der Tat merkwürdig: in diesen Zeilen sollte etwas vom geistigen Profil Bernhard Weltes deutlich werden, und normalerweise spricht man dann doch von dem, was einer „geleistet“ hat, wo die „Schwerpunkte“ seiner Arbeit lagen.

Und ob Bernhard Welte etwas geleistet hat und ob sich Schwerpunkte seiner Arbeit abzeichnen! Aber das Wie hat bei ihm den Vorrang vor dem Was, der Prozeß den Vorrang vor dem Ergebnis, die Kommunikation, der Anstoß, die Bewegung führen über die Ränder des Textes, den er erstellt, hinaus. Aber gerade dies macht auch das Thema, macht auch den Inhalt, macht auch den Text selber kostbar.

Um eine äußere Orientierung über die Schwerpunkte der Arbeit von Bernhard Welte zu geben, könnte man die Stichworte nennen: Phänomenologie – Scholastik – deutscher Idealismus.

Phänomenologie: Der Ruf seines Landsmannes Martin Heidegger „zu den Sachen selbst“ ist, auf durchaus eigenständige und keineswegs schulmäßige Weise, Programm für Bernhard Welte. Ein Programm, das wie alles bei ihm aus dem Leben stammt. Wer die Sterne, die Gräser, die Grenzsteine und den Markgräfler Wein in so liebender Distanz und so zarter Nähe kennt wie er, der kann auch über die Schuld und den Tod, über die Grenze und den Leib, über die Liebe und die Freiheit sprechen. Sprechen, indem er einfachste menschliche Beobachtungen ausfaltet, bis sie sprechend werden und Zusammenhänge erschließen, bis sie ein Geschehen werden, dessen Linien in die letzte Tiefe zurückführt. Ich sagte es schon: Sehen lernen ist mit der höchste Gewinn, den man Bernhard Welte zu verdanken hat. Gerade solche Phänomenologie ist bei ihm eine Vorschule des Glaubens, eine Hinführung zum Glauben. Wenn die Ursprünge verschüttet erscheinen, dann müssen [102] wir sie dort suchen, wo sie nicht zu verschütten sind, in den unausrottbaren Spuren der Schöpfung und des Menschlichen, die zwar von Systemen und Ideologien überdeckbar, aber nicht ausrottbar sind.

Beinahe so wie einen Stein oder eine Blume, beinahe so wie ein Bauwerk oder eine menschliche Grunderfahrung erschließt Bernhard Welte aber auch die großen Güter der theologischen und philosophischen Tradition. Das Stichwort Scholastik wurde genannt. Bei allen Denkern, die Welte interpretiert, und so auch und zumal bei einem Thomas, einem Meister Eckhart, einem Bonaventura, um einige seiner „Lieblinge“ aus der Zeit der Scholastik zu nennen – geht er „ganz einfach“ vor. Er macht es zur (beinahe einzig unbewiesenen, aber um so mehr sich erweisenden und vieles erhellenden) Voraussetzung, daß jeder große Denker sich nicht nur einen gescheiten Satz von anderen, nicht nur einen abstrakten Begriff aus der Schublade der Tradition entlehnt hat, sondern daß er seinen Gedanken faßt in der konkreten Bemühung, unmittelbar das Leben, das Sein, die Wirklichkeit zu verstehen. Welte fragt: bei welchen Anlässen könnte das „stimmen“, was hier gesagt ist? An welchen Modellen könnte sich das bewähren und auch einem Nichtphilosophen erschließen, wie hier angesetzt wird? Und aus solcher Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit wächst dann das Ganze eines Gedankens zum Wort, wächst es zur Gestalt, wächst es zu einer Mitteilung an uns. Die äußeren Einflüsse und Abhängigkeiten werden nicht geleugnet oder weggestrichen, aber sie werden als das „Material“ verstanden, das in der Ursprünglichkeit je eigenen Denkens umgeschmolzen wird und aus ihr erst seine Bedeutung, seine Aussagekraft erhält. Wer so mit Bernhard Welte durch die großen Gestalten der Scholastik ging, der wird nicht mehr in Versuchung kommen, sie als gestrig und nichtssagend abzutun. Er wird erkennen, daß nicht umsonst sich in jener Epoche das Grundgut der christlichen Überlieferung zu seinen geprägten Gestalten ausformte, die bis heute ihre Gültigkeit haben – eine Gültigkeit, die sich freilich nicht darin erschöpft, daß man kopiert. Die beste Neugotik ist etwas anderes als die Gotik selbst.

Im Zentrum: das Evangelium

Dann aber ist es nicht weit von den großen Gipfeln des 13. Jahrhunderts bis hin zu jenen, die durch Namen wie Kant, Hegel und Schelling ausgedrückt werden. Bernhard Welte besteht darauf, daß auch hier nicht die „Gegner der gesunden Lehre“ abzukanzeln sind, die irgendeiner Hybris des Geistes blind zum Opfer fielen, sondern daß wir es zunächst einmal gut christlich einem glauben müssen, wenn er uns sagt, er wolle die christliche Tradition neu gewinnen und verstehen. Freilich kommt es nicht zur „Heiligsprechung“ und zur platten Identifikation. Aber die Grenzen und die Engführungen der großen Gedanken werden nur dann sichtbar, wenn ich mit diesen Gedanken gehe, wenn ich mit ihnen eben bis zur Grenze gehe. Das philosophische Wagnis, das Bernhard Welte unternimmt, hat so eine sehr schlichte, christliche Wurzel. Der nie einen Gegner verurteilt, der nie ein liebloses Wort über einen Andersdenkenden sagt, dieser Bernhard Welte behandelt auch die großen Gedanken genauso.

Hier aber wären wir beim Zentrum. Das, worum es ihm zuhöchst und zutiefst geht, ist nichts anderes als das Evangelium. Es ist für Bernhard Welte die reine Stimme des Ursprungs, und aller selbstgemachte Gedanke eigener Ursprünglichkeit nimmt sich vor dieser Stimme immer wiederum zurück, damit diese Stimme selbst sich im Eigenen und im Fremden, im Schlichtesten und im Kühnsten Spur und Echo schaffen kann.

Das eine Wort

Dieser Grundzug wird bei Bernhard Welte immer stärker und immer deutlicher. Die Glaubensgestalten und Lebensgestalten der konkreten Kirche, ihren Weg durch die Geschichte aus dem Evangelium her und auf das Evangelium zurück zu verstehen, das ist die Leidenschaft von Bernhard Welte, die ihn gerade nicht verengt und fixiert, sondern öffnet zu einer universalen Begegnung, zu einer universalen Kommunikation. Wie wird das eine und einfache Evangelium anders, wenn es hineinspringt in den Raum eines hellenistischen Denkens und sich dort artikuliert? Wie wird es nochmals neu an der Bruchstelle zwischen christlicher Spätantike und frühem Mittelalter, wenn es in die andersartige Originalität der germanischen Völker hinüberwechselt? In welche Krise und in welche Mächtigkeit gerät es am Ende der Neuzeit – dort, wo in den großen Systemen des deutschen Idealismus der menschliche Geist sich an sich selber mißt, dort, wo das Ende der Geschichte abendländischer Metaphysik erreicht ist, wie es ein Heidegger oder Buber oder Rosenzweig andeutet? Wie wird es neu und bleibt dasselbe in unserer Stunde, in ihren Dunkelheiten, Herausforderungen und Chancen? Diese Fragen bedrängen Bernhard Welte, fechten ihn an – aber solche Anfechtung stößt durch bis zum Herzen dessen, der sich von allem anfechten ließ, um gerade so im reinen Hören, im reinen Gehorsam uns das eine Wort mit seinem Leben und Sterben zu lehren, das den wahren Ursprung nennt: Abba, Vater.

Bernhard Welte, Professor für Christliche Religionsphilosophie an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br., ist am 31. März 1906 in Meßkirch (Schwarzwald) geboren. 1929 wurde er zum Priester geweiht, 1934 bis 1948 war er Sekretär von Erzbischof Gröber. Er promovierte mit einem dogmengeschichtlichen Thema und habilitierte sich mit einer Arbeit über Karl Jaspers. Nach von ihm abgelehnten Rufen nach Tübingen und Münster wurde Welte 1952 ordentlicher Professor in Freiburg. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u. a. folgende Bücher: „Vom Wesen und Unwesen der Religion“ (1952), „Vom Geist des Christentums“ (1955), „Über das Böse“ (1959), „Auf der Spur des Ewigen“ (1965), „Heilsverständnis“ (1966), „Im Spielfeld von Endlichkeit und Unendlichkeit“ (1967), „Determination und Freiheit“ (1969), „Dialektik der Liebe“ (1973), „Zeit und Geheimnis“ (1975). Schüler haben zum 70. Geburtstag eine Festschrift geschrieben, die im April erscheint: „Jesus, Ort der Erfahrung Gottes“ (Verlag Herder, 248 S., ca. 29.80 DM). Im Frühjahr wird von Welte ein Meditationsbändchen erscheinen: „Maria – die Mutter Jesu“.