Eine Theologie für heute

[269] Daß im selben Jahr, 1274, nicht nur Thomas von Aquin, sondern auch Bonaventura gestorben ist, mag man als ein zufälliges Zusammentreffen ansehen. Und doch ist es ein Zeichen für die Fülle und Spannungsweite jener geistigen Welt, die mit Namen wie Mittelalter und Scholastik bezeichnet wird – Namen, die sich in unserem Kopf nicht selten mit Klischees einer absonderlichen und sterilen Uniformität verbinden. Gewiß, die Weise, wie man sich lange auf das Mittelalter als die „gute alte Zeit“ unangefochtenen Christseins und auf die Scholastik als ein geschlossenes System der fix und fertig verfügbaren Wahrheit berufen hat, trägt seine Schuld daran; aber auch der Gang der Geschichte, der einige handlich vorgeprägte Elemente dieser Welt in die weitere Entwicklung aufnahm, während anderes aus derselben Epoche in Vergessenheit geriet. Der Blick auf Thomas und Bonaventura heute hat indessen nicht nur das historische Interesse, schiefe Urteile zu korrigieren, verengte Blickwinkel aufzusprengen; es geht vielmehr bei beiden großen Denkern und Christen um uns selbst und um unser Heute.

Bonaventura und Thomas

Wieso das bei Thomas der Fall ist, hat sich herumgesprochen. Er ist nicht nur der pädagogisch begabte Schulbuchautor, dessen klare Formeln sich dafür eignen, dem Fleißigen den Eindruck zu vermitteln, er habe auf jede Frage eine treffende Antwort. Er ist mehr noch der Denker eines umfassenden Dialogs: in ihm erreicht der Aufbruch mittelalterlichen Denkens zum bislang vergessenen oder verkannten Aristoteles seine Höhe und sein gültiges Maß. Thomas ist aber nicht auf Aristoteles festgelegt, sondern versteht es ebenso, dem anderen antiken Gedankenstrom, der im Neuplatonismus weiterlebte, gerecht zu werden und ihn in das Künftige einzubringen. Thomas geht aus von der erfahrbaren Wirklichkeit; er geht hin zu einer Wahrheit, die er als eins und einig erkennt, ohne dabei zu vergessen, daß sie je größer ist als jede sie fassen wollende Gestalt.

Bonaventura tritt hinter diesem Thomas zunächst in den Schatten. Trotz aller Hochschätzung seines Erbes, zumal in der wichtigen franziskanischen Schule des Spätmittelalters, ist er weniger ins allgemeine Bewußtsein eingegangen. Und zudem scheint sein Ansatz viel enger, viel festgelegter zu sein als der thomasische: er hat es nicht sehr mit den neuen Strömungen, die statt bei Gott bei den erfahrbaren Dingen beginnen. Der Aristotelesrenaissance gegenüber ist er der Konservative. Überdies: Zahlen- und Symbolspielereien, bizarre und eigenwillige Sprachbildungen lassen den Graben zwischen ihm und unserer Mentalität, wenigstens aufs erste, tiefer klaffen als zwischen Thomas und uns.

Und doch: Bonaventura ist keineswegs weniger aktuell, und er ist aktuell nicht zuletzt gerade dort, wo er befremdet, wo der erste Anlauf der Beschäftigung an ihm abprallt.

Was wir lernen können

Bonaventura integriert nicht verschiedene Denkansätze wie Thomas, aber auf andere Weise hat er eine weitere und dichtere Integrationskraft als dieser. Um es in thesenhafter Verkürzung zu sagen: er verbindet Rationalität und Mystik, Theologie und Glaubenspraxis; er vermittelt den Ansatz bei Gott und seinem Wort allein und den Ansatz bei der konkreten Situation des Menschen; er verbindet systematische Ordnung und existentielle Aktualität; er vermittelt die verschiedenen Dimensionen von Schöpfung, von Wissenschaft und Kunst mit dem Ansatz bei der einfältigen, ja törichten Nachfolge des Gekreuzigten. Ganz abgesehen von seiner Bedeutung als Ordensgeneral in einer dramatischen Krisenzeit der frühen franziskanischen Bewegung – er schreibt mit seinem Denken, mit seiner glühenden Theologie der Liebe sozusagen den Sonnengesang des Franziskus neu in der Ordnung reflektierenden Geistes. Kurz und grob auf das angewendet, was wir von ihm lernen können: er zeigt uns, wie die Liebe ein und alles ist – und gerade deshalb das Denken und die Wissenschaft zu ihrem Zuge kommen; er zeigt uns, daß Gott allein alles ist – und wie gerade darin eine volle Zuwendung zum Menschen und zur Welt erschlossen ist; er zeigt uns, daß konkrete Nachfolge alles ist – und wie gerade sie die unterschiedlichsten Sach- und Lebensbereiche wahrt und integriert.

Das sind freilich bloße Thesen. Wie sie im Werk Bonaventuras auszuweisen sind, dafür muß hier ein Fingerzeig genügen.

Wo könnte eine Position abweisender, scheinbar enger formuliert sein als im Anfang des bonaventuranischen Spätwerkes, des Hexaemeron, wo es heißt, daß das Wort nur an die Menschen in der Kirche gerichtet werden darf, da das Heilige ja den Hunden nicht vorzuwerfen sei! Aber dann wird in der Durchführung deutlich, daß Kirche, ohne ihre institutionelle Klarheit zu verlieren, nicht ein bloß Bestehendes, sondern eine je neu durch das Leben der Glaubenden zu gewinnende Geschichte ist. Eine Formel wie die: Kirche heißt, sich gegenseitig lieben (ecclesia mutuo se diligens est), sucht man gewiß nicht so leicht in einem theologischen Hauptwerk des 13. Jahrhunderts. Aber eine solche Aussage ist bei Bonaventura gerade nicht nur ein frommer Impuls, der neben ganz anders geführten Gedanken herliefe. In sehr knappen Strichen – und diese knappen Striche ergeben oftmals bei ihm den Eindruck des bloß Verspielten, Formalen – entwirft er folgende „Theorie“ von Kirche: sie entsteht aus dem Wort Gottes, das für Menschen zum Gesetz, zur lex, wird; zum Gesetz aber einfach als das Maßgebende, Sammelnde, verbindlich Verbindende, auf das es im gemeinsamen Vollzug je neu zu achten gilt, wie die Israeliten beim Zug durch die Wüste je neu auf die Feuersäule, in welcher der Herr mitzog, zu achten hatten. Wo Menschen auf diese Maßgabe des Wortes Gottes eingehen, da lebt in ihnen dasselbe, da lebt in ihnen das Wort als das freie, innere Maß ihrer gegenseitigen Beziehung, ihrer Liebe – und so wird Kirche zum Raum des Friedens, der pax. Der Friede, die gegenseitige Übereinstimmung ist aber noch nicht die Endstation des Wortes Gottes in seiner die Kirche konstituierenden Geschichte; jene, die im Frieden und unter der Maßgabe des Wortes Gottes leben, werden zum Ursprung, aus dem das Wort Gottes selber neu hervorgeht, zur Kündung des Wortes Gottes, die es Gott zurückgibt. Aus der pax wächst die laus, aus dem Frieden der Lobpreis.

Modell für heute

Es ließe sich leicht dartun, daß auf eine ähnliche, dynamische Weise bei Bonaventura auch die anderen Grundsachverhalte des Glaubens und Grundverhältnisse des Zusammenhangs zwischen Glauben, Leben und Welt gedacht sind. Besonders beachtenswert: Bonaventura entdeckt so nicht nur den Zusammenhang, in den alles im Mitvollzug der sich entäußernden und verschenkenden Liebe Gottes tritt, sondern er legt ebenso den Finger darauf, daß dieser Zusammenhang nicht durch logische Konstruktion, sondern nur durch den Einsprung des Lebens und des Denkens in diese Bewegung Gottes zu gewinnen ist. Viele einzelne Ableitungen und Ausformungen seines Denkens sind zeitbedingt; der Ansatz, die Struktur, die umfassende Dynamik können indessen ein Modell sein für heute: Glaube und Theologie als Weg, der die schlichte, klare Nachfolge Jesu artikuliert und reflektiert, der so aber in die unverkürzte Weite und Fülle der Landschaft des Ganzen führt. Die Faszination der geistlichen Gestalt des Franz von Assisi, ihrer evangelischen Originalität hat Bonaventura dieses Modell erschlossen. Woher sonst als aus dem gelebten Zeugnis sollten auch heute dem Glauben und der Theologie die neuen Impulse geschenkt werden, damit die Botschaft Jesu als glaubwürdiger Widerspruch und glaubwürdige Erfüllung den fragenden Menschen wieder begegnen kann?