Das einfältige Herz
Wo Glaube und Liebe mächtig werden, machen sie das Herz einfältig. Die Wenn und Aber fallen, es löst sich der Krampf des unablässigen Zurückschauens auf sich selbst, die Verschlossenheit springt auf, die Zerfahrenheit kehrt zurück zur Sammlung. Gewiß, die Schatten weichen nicht, aber das Herz weicht auch nicht, sondern hält aus, bietet sich dar. Das Leben ist nicht mehr abgedrängt in die Ausflüchte des Früher und Später, der Augenblick, dieser eine, der jetzt ist, wird ihm geschenkt. Und auch die Welt wird einfach, die verschlungene Vielfalt des Wirklichen und Möglichen faßt sich zusammen in das eine Wort, das alles bei seinem ersten und innersten Namen nennt.
Mit Bewunderung und Wärme blicken wir auf ein solchermaßen einfältiges Herz - und auch mit ein wenig Wehmut. Wir denken an uns selbst und bedauern, daß wir nicht so sind, und beinahe wollten wir sagen: nicht so sein können. Sicherlich, Einfalt läßt sich nicht erzwingen, sie trägt den Glanz des Mühelosen an sich, des Geschenkes, mag es noch so viele Mühe gekostet haben, bis sie sich zu schenken vermochte. Aber wenn anders wir achtsam sind, ereilt auch uns, wenigstens manchmal, der Zuspruch jenes einfachen und einfach machenden Geistes, der uns heißt, alles in die Hände des Vaters zu lassen und schlicht vor ihm, inmitten aller Bedrängnis, dazusein. Ist es bloß Schwäche, daß wir uns diesem Zuspruch immer wieder versagen? Oder hegen wir im Innersten nicht doch einen leichten Verdacht, wir könnten etwas verlieren, wenn wir so einfältig werden? Wir wollen unsere Hände mit im Spiel haben beim Geschäft der Welt, wollen ernst genommen werden und mit nüchternem Urteil stets wissen, woran wir sind, den herben und uns gar nicht „geistlich“ vorkommenden Geschmack der Wirklichkeit auf unserer Zunge kosten - und die Einfalt, so wähnen wir, vereinfacht und verkürzt. Sie gibt wohl Tiefe, aber macht sie, an der unausweichlichen Oberfläche des Lebens, nicht hilflos oder einseitig?
In der Tat, es ist eine Zumutung an den Menschen, wenn man fordert, er solle einfältig werden. Denn von Art und Wesen ist er alles eher als einfach. Die Sorglosigkeit des Vogels oder der Lilie auf dem Feld ist ihm nicht von Natur aus auf den Leib geschrieben, er ist ausgestattet mit der planenden, vorsorgenden Vernunft, die ihn befreit von der dumpfen Bindung an den Augenblick. Und doch kann er nur leben in diesem Anblick, in diesen Verhältnissen und Bedingungen, die er sich nicht selbst gewählt hat. Zur einen Entscheidung berufen, ist er zugleich gebannt an den ihm zugewiesenen Ort. Er kommt nicht los vom Hunger nach dem Unendlichen, und genausowenig kommt er los von der härtesten, unauflöslichen Endlichkeit. Wie man es wenden mag, der Mensch zeigt sich gespalten und gedoppelt. Einfach ist Gott und Gott allein, und was die Einfachheit angeht, scheinen Pflanze und Tier ihm näher zu sein als der Mensch. Wird es so nicht gar zur Vermessenheit, zur Untreue gegen ein Wesensgesetz, wenn der Mensch sich unterfängt, nach dem einfältigen Herzen zu streben?
Jener, der uns geboten hat, einfältig zu sein wie die Tauben, sorglos wie die Vögel und die Lilien, er allein ermächtigt uns zur Einfalt. Sein Herz ist das Urbild des einfältigen Herzens. Es ist Menschenherz, ganz und gar, Herz, beladen mit unserer Schuld und Not, beladen mit uns selbst bis hinein in die Verlassenheit am Kreuz. Aber in diesem Herzen ist alle menschliche Wirklichkeit hingewendet und hingegeben an den Vater. Sie reicht im Herzen Jesu hinein bis in den einfachen Gott. Und Gott selbst ist uns zugewendet im Herzen, im menschlichen Herzen seines Sohnes. Es ist eine und dieselbe Gebärde, mit der in Jesus Gott sich dem Menschen und der Mensch sich Gott überantwortet, es ist eine und dieselbe Person des Sohnes, der eine Christus, der beides ungetrennt und unvermischt umfaßt, göttliche und menschliche Natur. Die scheinbar so komplizierte Formel des Dogmas vom Gottmenschen Jesus Christus hat den Sinn, uns das Geheimnis seines einfältigen Herzens zu sagen, dieses Hindurchreichen Gottes zum Menschen und des Menschen zu Gott in Jesus, in dem nichts von der Wirklichkeit des Menschen und nichts von der Wirklichkeit Gottes selbst verlorengeht, und beide schlagen doch ineinander und ineins.
Der Schlag des einfältigen Herzens ist so in einem ein doppelter Schlag: nichts anderes als Hingabe an den Vater - und zugleich nichts anderes als Hingabe an die Welt. Der Leib, den Jesus am Kreuze darbringt, ist hingegeben an den Vater und hingegeben für uns, er ist Opfer und Mahl. Hinwendung zu Gott und Hinwendung zur Welt werden im Herzen Jesu eins.
Und die Welt ist wahrhaft in diesem Herzen befaßt. „In Ihm ist alles erschaffen“ (Kol 1,16). Als der Schöpfergott die Fülle dessen dachte, was er da ins Sein rufen wollte, hat er, in diesem Vielen, doch nur Eines gedacht, er hat Jesus gedacht: in seinem Herzen wollte er alles miteinander und mit sich selbst verbinden (man denke an die Christus-Aussagen des Epheser- und Kolosserbriefes). Und er hat nicht nur die ideale Welt gedacht, die Welt, wie sie sein soll, er hat die Welt gedacht, wie sie wirklich geworden ist im Gefälle unserer Schuld, und auch sie hat er eingeholt in der erlösenden Hingabe des einfältigen Herzens seines Sohnes.
Jesus hat sein einfältiges und in dieser Einfalt das All beschließende Herz nicht für sich behalten wollen. Er hat es ausgeschüttet für uns, hat es hingegeben in den Tod. Doch noch mehr: er hat das Innerste dieses Herzens, er hat seinen Geist uns geschenkt, ihn in unser Herz gelegt, auf daß auch wir sagen dürfen: „Abba, Vater!“, auf daß auch wir Miterben des Reiches seien mit ihm (vgl. die heutige Epistel Röm 8,12–17). Auch unser Herz darf den Geist seiner Einfalt empfangen, darf einfältig werden, wie sein Herz es ist. Denn „die sich vom Geiste Gottes treiben lassen, die sind Söhne Gottes“ (Röm 8,14) mit ihm, dem Einziggeborenen. Und die Einfalt, die er uns schenkt, wendet uns nicht hinweg von der Welt, raubt uns nicht die Dimension des Wirklichen. Im Gegenteil, das einfältige Herz ist das offene Herz, das allem und jedem zugewendet und ausgeliefert, von der Welt geradezu aufgezehrt wird - und doch verliert sich dieses Herz nicht, denn es bleibt in aller Offenheit zur Welt gesammelt in der Hinwendung zum Vater.
Das Geheimnis des einfältigen Herzens Jesu und der Einfalt auch unseres Herzens ist die Liebe. Die Theologie sagt uns von der Liebe, von jener Liebe, die eine „eingegossene Tugend“ ist, also gnadenhaftes Geschenk Gottes und doch frei von uns vollbracht, sie sei nur eine einzige und selbe als Liebe zu Gott und Liebe zu den Brüdern. Liebe gibt sich ganz auf - und besitzt sich und alles gerade so. Sie ist einfach, bedingungslos, schrankenlos, aber sie löscht die Vielfalt und Verschiedenheit nicht aus, sondern behütet und umfängt sie. Wir dürfen es also wagen, dieses einfältige Herz.