Ruf/Beruf/Berufung

[1066] 1. Gott ruft. Der biblische Gott ist der Rufende, jener, „der beruft“ (Röm 9, 12). Rufend geht er in absoluter Freiheit von sich aus und über sich hinaus. Sein alles, was er will, bewirkendes Wort (vgl. Jes 55,10f) stiftet als Ruf personale Beziehung, Partnerschaft [1067] zum Hörer. Gottes Ruf ergeht an sein Volk, das er sich zum Zeugen in der Welt erwählt (vgl. Jes 48,12; 1 Petr 2,9), aber auch an den einzelnen; die Berufung einzelner wird tragend für die Berufung des Volkes (vgl. Jes 6,1–13; Jer 1,4–10; auch 1 Sam 3,1–21). Von hier aus lebt die gesamte Geschichte Israels von Abraham und Mose an in gegenseitiger Verwiesenheit von gerufenen einzelnen und gerufenem Volk (vgl. Jes 49,1–6). Weltgeschichte selbst ist Rufgeschichte, denn Schöpfung ist Ruf und legt sich in Berufung aus (vgl. Jes 48,13; Röm 4,17). Schöpfung als Ruf vom Nichts ins Sein spiegelt sich in den Berufungsgeschichten: Menschen sind gerufen zu dem, was sie aus sich nicht vermögen; aus sich können sie dem Ruf nicht folgen, sondern nur aus Gottes Kraft; er, sein Ruf selbst erfüllen den Ruf an den Menschen, dessen Freiheit nicht übergehend, sondern konstituierend (vgl. auch Lk 1,26–38; 5,1–11).

2. Gott ruft in Jesus. Die Vollendung und Endgültigkeit göttlichen Rufes geschieht in Jesus. Daß Gott in ihm ruft, erweist seinen göttlichen Rang. Er ist als das fleischgewordene Wort der fleischgewordene Ruf (vgl. Joh 1,14 mit 1,35–51) und zugleich der Gerufene schlechthin (vgl. Hebr 5,4–6). Berufung ergeht durch ihn und in ihm, ist Teilhabe an seiner Berufung (vgl. 1 Kor 1,9). Die Christen heißen: „Berufene“ (vgl. Hebr 9,15). Was aufgrund des Ostergeheimnisses universal gilt, ereignet sich bereits im Wirken vor Ostern. Seiner Ausrufung des Reiches Gottes entspricht unmittelbar die Berufung der Jünger (vgl. Mk 1,16–20). Die Berufung der Sünder offenbart die umfassende Weite des göttlichen Heilsrufes (vgl. Mk 2,17). Berufung ist persönlich und gemeinschaftlich (Mk 3,13f). Sie ist in einem Berufung zu Jesus; zur Einheit der Kirche (Eph 4,1–6); zum Kreuz (1 Petr 2,21); zur Welt.

3. Berufung und Kirche. Berufung der Kirche und in der Kirche umfaßt Ein- [1068] heit und Vielfalt. Das 5. Kapitel von LG über die allgemeine Berufung zur Heiligkeit in der Kirche betont, „daß alle Christgläubigen jeglichen Standes oder Ranges zur Fülle des christlichen Lebens und zur vollkommenen Liebe berufen sind“ (LG 40). Auch wenn verschiedene Dienste und Gaben im Leib Christi (vgl. Röm 12; 1 Kor 12; Eph 4) im NT nicht „Berufungen“ heißen, wird doch jeweils in Lebensstand und -aufgabe des einzelnen die Berufung konkret (vgl. 1 Kor 7,17–22). Daher ist der Rang unterschiedlicher Wege in Gottes Berufung nicht gegeneinander auszuspielen. Leben nach den evangelischen Räten zeigt der Kirche indessen die Urgestalt ihres Rufes. „Alles verlassen“, um von Jesus her seine Lebensgestalt zu teilen, somit Besitz, Selbstverfügung und eigene Erfüllung in Ehe und Familie zu relativieren, stehen am Anfang der Kirche. Leben Mariens und der Jünger zeigen dies an. In Armut, Gehorsam und Ehelosigkeit bleibt die Provokation des „Anfangs“ lebendig. Das drücken die Berufung zum Ordensstand, zu Weltgemeinschaften und anderen Gestalten evangelischen Lebens mitten in der Welt und auch die Verbindung zwischen evangelischen Räten und priesterlichem Dienst aus, der sich auf die Nachfolge der Apostel stützt. Leben nach den Räten wie Übernahme des geistlichen Amtes im Weihesakrament kann nur im rufenden Christus gründen. Sein Ruf wird vernommen im Hören auf den Geist, der in uns, in den Gegebenheiten, in der Kirche spricht (zur priesterlichen Berufung: PO 11). Nicht zuerst eigene Neigung, sondern Eignung und Bereitschaft sind Zeichen von Berufung, die, zumal als Berufung zum geistlichen Dienst, die Annahme seitens der Kirche einschließt. Ohne sie ist keine Gewähr für den Ruf als Ruf jenes Christus, der in der Kirche lebt und wirkt.

4. Anthropologische Bedeutung von Berufung. Berufung erhellt den Sinn des Menschseins. Der Mensch ist nicht [1069] verurteilt zu sein, nicht ausgeliefert an den Zufall seines Beliebens, sondern zur Antwort gerufen. Als Gerufener nimmt er die Begrenztheit seiner selbst an und überschreitet sie auf den Rufenden und jene hin, für die er gerufen ist. In Berufung wird der Zusammenhang von Ich, Du und Wir gewahrt und nicht ein Pol, für die anderen zerstörerisch, absolut gesetzt. Gottes Ruf findet, wer auf den Willen Gottes im Alltag achtet, mit seinem Wort lebt, die anderen und sich wahrnimmt, das Gespräch mit dem Herrn und mit Menschen sucht, die geistlich raten und begleiten können. Alle haben, auf den eigenen Ruf achtend, auch der Berufung der anderen zu dienen wie Eli, der die Unruhe des jungen Samuel deutet (1 Sam 3), wie Johannes, der seine Jünger zu Jesus weist (Joh 1,35–37), vor allem aber im betenden Rufen zu dem, der allein beruft (vgl. Lk 10,2).

5. Berufung und Beruf. Das Hören auf Gottes Ruf erschließt auch die Verbindung zwischen Berufung und (zivilem) Beruf. Gott kann ebenso vom bisherigen Beruf wegrufen (vgl. z.B. Mk 10,28), wie ihn bestätigen und vertiefen (vgl. 1 Kor 7,17–24; die Haustafeln in Eph 5,21–6, 9; Kol 3,18–4, 1 sowie 1 Thess 4,1–12; 2 Thess 3,6–12; zur Verbindung von Beruf und Berufung siehe besonders LG 41). Beruf hat mit Berufung zu tun als Ort, an dem der Ruf zur Heiligkeit und zum Dienst an Menschen und Welt konkret wird.

→Amt; Apostolat; Charisma/charismatisch; Dienen/Dienst; Evangelische Räte/Prophetische Lebensstile; Geistliche Gemeinschaften und Bewegungen; Heilig/Heiligkeit; Heiliger Geist/Geisterfahrung; Gelübde; Gotteswort; Herrschaft Gottes; Nachfolge; Orden; Priester/ priesterliche Spiritualität/Priestergemeinschaften; Säkularinstitut(e); Wille Gottes.

Literatur: Das Wirken des Geistes deuten (Bonn 1979); Seminarium (Vatikan 1982) 3–4; K. Hemmerle, Gerufen und verschenkt (München 1986); Eignung für die Berufe der Kirche. Klärung, Beratung, Begleitung. Hrsg. von H. Stenger unter Mitarbeit von K. Berkel, K. Schaupp u. F. Wulf (Freiburg 1988).