Welte, Bernhard, Religionsphilosoph und Theologe
[378] * 31. 3. 1906 Meßkirch, rk., † 6.9. 1983 Freiburg i. Br.
V Dr. Oskar W., Rechtsanwalt. M Emma, geb. Bruder. G 3 Brüder (Benedikt, Konrad, Paul)
1912–1915 Volksschule,
1915–1918 Realschule in Meßkirch
1918–1924 Gymnasium in Konstanz mit Abitur
1929 Priesterweihe
1929–1934 Kooperator am Freiburger Münster
1934–1948 Sekretär von Erzbischof Dr. Conrad Gröber (→I 144)
1938 Promotion zum Dr. theol. an d. Univ. Freiburg i. Br. mit der dogmengeschichtl.
Arbeit „Die postbaptismale Salbung“ bei Prof. Engelbert Krebs (→II 169)
1946 Habilitation an d. Theol. Fak. d. Univ. Freiburg i. Br. mit der Arbeit
„Der philos. Glaube bei Karl Jaspers u. d. Möglichkeit seiner Deutung
durch d. thomistische Philosophie“
1952 Prof. f. „theol. Grenzfragen“ an d. Theol. Fak. d. Univ. Freiburg i. Br.
1954 Umwandlung der Professur zum „Lehrstuhl f. Christl. Religionsphilosophie“
1955/56 Rektor d. Universität Freiburg i. Br.
1966 Päpstl. Hausprälat
1973 Dr. h. c. d. Univ. Cordoba, Argentinien
1976 Ehrenbürger d. Stadt Meßkirch
1978 Großes Bundesverdienstkreuz
Daß W. aus Meßkirch in der Gegend zwischen Bodensee und Donau stammt, ist kein bloß äußerliches Datum. Seine zeitlebens wache, in aller Verhaltenheit innige Bindung an die Heimat bedeutet Verwurzelung in einem Menschenschlag, der Nüchternheit und Nachdenklichkeit, Herbheit und Zartheit, schier mystische Tiefe und schier pragmatische Skepsis miteinander verbindet. Vor allem sind zwei Meßkircher zu nennen, die im Leben von W. eine entscheidende Stelle einnehmen: Erzbischof Conrad Gröber und Martin Heidegger (→I 162). W. war Sekretär Gröbers von 1934 bis zu dessen Tod 1948. „Die Kirche im Dorf lassen“, dem kirchlichen „Betrieb“ in sympathisch gelassener, aber auch treffsicher kritischer Beobachtung gegenüberstehen, Sinn für ungewöhnliche Charaktere haben, Menschliches, auch allzu Menschliches zulassen, einen wohlgehüteten Innenraum für das Geheimnis und für die Freiheit der Gedanken bewohnen: das sind im Kontext der Zeit bei Gröber ausgebildete Haltungen W.s. Kennzeichnend, daß in der anfordernden Sekretärstätigkeit W. sich die Zeit wahrte, seine dogmengeschichtliche Promotion bei Engelbert Krebs zu verfassen und um hernach, großenteils im Luftschutzkeller, seine Habilitationsschrift über Jaspers und Thomas von Aquin zu erstellen. Der Themenwechsel von Sakramententheologie zu religionsphilosophischem Vergleich einander entlegener Denkwelten zeichnet einen Bogen, der bleibend sich über oder besser in W.s Gedanken schlug: Bogen zwischen der christlichen Glaubenstradition und den Gedanken der Zeit, auch solchen, die scheinbar von weit außen Zugänge und Widersprüche zum christlichen Glauben markieren. Die Vorlesungen, die W. während der letzten Kriegsjahre anstelle von Max Müller für Theologen aus verschiedenen Diözesen im Freiburger „Collegium Borromaeum“ über philosophische Themen hielt, brachten ihn in einen vertieften denkerischen Kontakt mit seinem anderen großen Landsmann Heidegger. Er war angezogen von seinem Denken, das Sein, Zeit, Geschichte und Geheimnis gerade [379] durch den scheinbaren Verlust herkömmlicher Denkfiguren und Denkgewohnheiten neu in den Blick nimmt. W. begegnete Heidegger nicht in rascher christlicher Vereinnahmung, sondern im Eingehen auf die äußere Fremdheit und Ferne zwischen seinem Gedanken und den Inhalten und Formen christlicher Überlieferung. Der schon an Jaspers und Thomas erprobte Mut W.s, gegen Anschein und gängige Einordnung nach dem wahrhaft vom jeweiligen Denker selbst her Gedachten zu fragen, bestimmte fortan seinen Denkstil im Gesamten. Er machte ihn zu jenem geheimen Partner Heideggers in der Theologie, dem dieser das Mitdenken und Verstehen des von ihm auf die Sache des Glaubens zu Gedachten wie keinem anderen zutraute. Zum Denkstil und Denkweg von W. gehört es indessen nicht nur, daß er in einem sanft und zäh errungenen Raum des Eigenen aus sich selbst und mit sich selbst die großen Gedanken der Geschichte und der Gegenwart bedachte, sondern daß er dieses Selberdenken kontrapunktisch einbrachte in ein das Selberdenken nährendes und aus ihm genährtes Gespräch. Hier ist in den Jahren nach dem Krieg vor allem der Kreis zu nennen, in dem W. besonders mit Karl Färber (→III 77), Max Müller und Heinrich Ochsner (I→I 213) in der intensiven Lektüre jener Texte verbunden war, die großenteils auch hernach im Lehren und Werk von W. dominierten, etwa Augustin, Bonaventura, Pascal, Kierkegaard, Hegel, die Tübinger. Von größter philosophischer Relevanz für W. blieb die Freundschaft mit Ochsner.
Die Meßkircher Gröber und Heidegger, der genannte „Freiburger Kreis“, dies findet Ergänzung in eine ganz andere Richtung: Sterne, Gestein, Wiesenblumen, Grenzsteine, Monumente vorchristlicher und christlicher Geschichte. In diesem heimatlichen und dann europäisch und schließlich, in den beiden letzten Lebensjahrzehnten zumal, global geweiteten Horizont gibt sich W. die Welt und in ihr das sie durchwaltende und übersteigende Geheimnis zu sehen, und in der Achtsamkeit auf Dinge und Geschichte erwächst ihm aufs neue das, was sich in seinem Umgang mit den Gedanken als seine besondere Gabe erwies: was ist, von sich her aufgehen und sich zeigen zu lassen, was ist, zum Interpreten seiner selbst werden zu lassen. W. war Meister der an Husserl (I→II 135) geschulten phänomenologischen Methode, Anwalt der Ursprünge, die in den Grund- und Grenzerfahrungen des Menschen, in seiner Welt, in den Dokumenten der Geschichte und zumal des Glaubens, in den großen Gedanken der unterschiedlichen Traditionen leuchten.
Der phänomenologischen entsprach auch die seelsorgerliche, geistliche, priesterliche Kraft von W. In Behutsamkeit Menschen an das Wesen der Religion heranführen, sensibel sein für deren Unwesen, die religiösen Urakte authentisch auslegen und erschließen, verschütteten Glauben, aber auch verschüttete Zugänge zum Glauben freilegen, auch unter den fremden Zeichen die Zeit Gottes entdecken: dies geschah für Ungezählte durch W., in seinem Lehren, in Gesprächskreisen, in persönlicher Begegnung, in den Predigten als Präfekt der Freiburger Universitätskirche oder im Heim für körperbehinderte Mädchen, das er geistlich betreute. Die Skizzen und Aquarelle, in denen W. Landschaft einfing, und begleitende Gedichte sprechen ebenfalls vom Phänomenologen.
Die biographischen Koordinaten zeichnen die Landkarte, durch welche der Weg von W. führt. Gegen viel Mißtrauen und Widerstände setzte W. sich und seinen ungewohnten Denkansatz durch, ohne Polemik, Aggressivität und Taktik, durch die innere Überzeugungskraft seines Gedankens und seiner geistlich geprägten Persönlichkeit. Nach der Habilitation 1946 begann schon bald ein breiter Zustrom von Hörern aller Fakultäten zu den Vorlesungen des Privatdozenten und dann Professors. Das Rektorat (1955/56) zur Vorbereitung der 500-Jahr-Feier der Freiburger Universität, in das er gewählt wurde, zeigt die Resonanz, die W. schon im Jahr nach der Gründung seines Lehrstuhls für Christliche Religionsphilosophie in der gesamten Universität hatte. Einsatz und Kompetenz im Gespräch der Wissenschaften miteinander, Kontakt mit vielen jungen Wissenschaftlern als federführender Vertrauensdozent der „Studienstiftung des deutschen Volkes“, reiche Beziehungen mit Kultur und Denkwelt von Lateinamerika und Asien, im letzten Lebensabschnitt verstärkt mit [380] Israel und dem Libanon, Aufbau der Förderung von und des Austauschs mit lateinamerikanischen Studenten und Dozenten markieren eine neue Dimension bei W.: die „politische“ Dimension, die freilich im Interesse einer weltweiten und weltnahen Präsenz des Glaubens in der Kultur und der Kultur im Glauben steht.
Das literarische Opus – über welches trotz starker Durchdringung Vorlesungen und Seminarien einen nicht unerheblichen Überschuß bieten - ist weit und reich. Um dem zentralen Gedenken W.s zu begegnen, ist es einerseits notwendig, sich den drei Aufsatzbänden zuzuwenden: Auf der Spur des Ewigen, Zeit und Geheimnis, Zwischen Zeit und Ewigkeit. Zum andern aber ist es ebenso notwendig, den Weg von „Heilsverständnis“ über die „Religionsphilosophie“ zum Spätwerk „Meister Eckhart“ zu gehen. Von sich her Menschsein und Welt zu verstehen, daß sie Anfrage nach dem Geheimnis Gottes werden, und die Botschaft von Jesus so zu verstehen, daß sie von sich her, ohne Ableitung oder Konstruktion, als die freie Antwort der Huld Gottes auf die in Welt und Mensch inkarnierte Heilsfrage aufgeht: dies sind die beiden fundamentalen Denkrichtungen bei W. Überblicken wir den Reichtum des von ihm Veröffentlichten, so fallen sieben Richtungen auf: 1. Geistliche Schriften, die in Reduktion auf das Wesenhafte dem Einfachen wie dem Mißtrauischen Spuren zeigen und Zeugnis geben. 2. Gedanken zu menschlichen Grundphänomenen als Spuren des Geheimnisses in unserer Welt. 3. Interpretationen von Gedanken großer Denker und Denkwege im Kontext des Glaubens. 4. Bemühungen um eine gegenwärtige und zugleich ursprüngliche Aufschließung von Grundgedanken des Thomas von Aquin. 5. Gespräch mit Martin Heidegger. 6. Fundamentale Schriften zum Zusammenhang von Glaube und Verstehen, von Denken und Botschaft. 7. Schriften zur theologischen Hermeneutik, zur Ausleuchtung des Spannungsfeldes zwischen bleibender Gültigkeit des Dogmas und der Notwendigkeit neuer Übersetzung in neuen Epochen des Seinsverstehens. Kaum mehr in die literarische Hinterlassenschaft eingegangen ist seine Beschäftigung mit dem kritischen Rationalismus und mit Motiven der Sprach- und analytischen Philosophie der späten sechziger und der siebziger Jahre.
Als letztes ist zu sprechen vom großen Kreis der Schüler, die W. um sich sammelte und die er gerade dadurch bleibend prägte, daß er in einer sonst selten anzutreffenden Großzügigkeit sie in die Horizonte ihres je Eigenen entließ. Freilassendes und zugleich wach begleitendes Gespräch führte ihn über seine eigene Generation hinaus. „Da mir eng war, hast du mir‘s weit gemacht“: dieses Wort aus Psalm 4 wollte W. selbst über seinen Tod und damit über sein Leben schreiben.
W (in Auswahl): Der philos. Glaube bei Karl Jaspers u. d. Möglichkeit s. Deutung durch d. thomistische Philos., Freiburg u. a. 1946 (frz. Übersetzung 1958); Auf d. Spur d. Ewigen. Philos. Abhandlungen über versch. Gegenstände d. Religion u. d. Theologie, Freiburg u. a. 1965 (ital. 1976); Heilsverständnis. Philos. Untersuchungen einiger Voraussetzungen z. Verständnis d. Christentums, Freiburg u. a. 1966; Zeit u. Geheimnis. Philos. Abhandlungen zur Sache Gottes in d. Zeit d. Welt, Freiburg u. a. 1975, 21979; Religionsphilosophie, Freiburg u. a. 1978, 21979, 31980, 41985 (span. 1982, ital. 1985); Meister Eckart. Gedanken zu s. Gedanken, Freiburg u. a. 1979; Zwischen Zeit u. Ewigkeit. Abhandlungen u. Versuche, Freiburg u. a. 1982; Was ist Glauben? Gedanken zur Religionsphilosophie, Freiburg u. a. 1982 (ital. 1983, frz. u. span. 1984). Herausgabe von Reihen (in Auswahl): Symposion. Philos. Schriftenreihe, Freiburg u. a. 1958–1975; Christl. Glaube in moderner Gesellschaft, Enzyklopädische Bibliothek in 30 Bänden, Freiburg u. a. 1980 ff. L Bernhard Casper (Hg.), Die Angewiesenheit d. Theologie auf d. philos. Fragen, München u. a. 1982; Klaus Hemmerle (Hg.), Fragend und lehrend den Glauben weit machen. Zum Werk B. W.s anl. s. 80. Geb., München u. a. 1987 (mit einer vom Arbeitsbereich Christl. Religionsphilosophie erarbeiteten Bibliographie d. Veröffentlichungen B. W.s); Ingeborg Feige, Geschichtlichkeit. Zu B. W.s Phänomenologie d. Geschichtlichen auf d. Grundlage unveröffentlichter Vorlesungen, Freiburg u. a. 1989; Anton Tischinger, Das Phänomen d. Schuld. Das Dasein zw. Endlichkeit u. Unendlichkeit in d. Religionsphilosophie B. W.s, Freiburg 1986. B Arbeitsbereich Christl. Religionsphilosophie, Universität Freiburg.