Im Konkurrenzkampf der Weltanschauungen

[37] Die Ironie Gottes

[37] Etwas über die Kirche heute zu sagen ist einerseits beglückend und andererseits schwer. Schwer deswegen, weil die Kirche nicht nur von den anderen draußen, sondern auch von uns selbst immer wieder so schwer zu verstehen ist. Ich erinnere mich gut an eine Erfahrung, die mir das besonders deutlich machte. Es war während einer Sessio des II. Vatikanischen Konzils, als mein Bischof die katholischen Geistlichen unserer Stadt zu einem gemeinsamen Gottesdienst mit ihm in den Dom einlud. Wir mußten mit Chorrock feierlich und würdig im Altarraum Platz nehmen, und unsere Blicke trafen sich, denn die Bänke stehen gegeneinander. Normalerweise ist man ja davor verschont, einander sehen zu müssen, aber hier waren wir einmal einander konfrontiert. Ich muß gestehen, als ich diese sehr unterschiedlichen Leute sah, da überkam mich ein leises Grauen, und ich sagte mir: „Um Himmels willen, aus dieser Portion Menschheit, diesem sonderbar zusammengewürfelten Gefüge, soll Gott etwas fertigbringen können? Wenn ich da an irgend jemand denke, der auf der Straße draußen läuft und dem es nicht einfällt, in solch einen Gottesdienst zu kommen, dann habe ich es leichter, mich mit dem zu verstehen, als hier mit diesen sonderbaren „Confratres“ neben mir. Wie sollen wir unter einen Hut [38] kommen, wie sollen wir die Stelle des Wirkens Gottes in der Welt sein?“ Aber gerade bei dieser Schwierigkeit überfiel mich zugleich ein anderes: Genau das ist es, was Gott mit seiner Kirche zeigen will. Genau das ist es, daß er aus Menschen, die so unterschiedlich, die „Juden und Griechen“ sind – um es in der Sprache des Neuen Testamentes zu sagen –, etwas machen kann. Nicht weil wir prima, nicht weil wir die besten Menschen sind, nicht weil man sich auf uns verlassen kann, sondern allein aus dem einen Grund: weil Gott gnädig, weil er barmherzig ist. Weil er der Menschheit zeigen will, daß er aus solchen „Figuren“ etwas machen kann, daß sie die Zeugen seiner Gnade seines Erbarmens, seines Daseins mitten in der Welt sein dürfen. Und wie ich jetzt zu diesen Menschen ja sage, daran bewährt es sich, wie echt, wie ehrlich, wie radikal ich ja gesagt habe zu Gott, zu seiner Tat in Jesus Christus, zu dem, was sein Wirken, was Kirche ist – nicht nur als ein äußerer Verband, sondern als sein Wirken für die Menschheit und in der Menschheit. Wenn man mich fragen würde, was ich am meisten in der Welt liebe, was mir das Kostbarste in der Welt ist, könnte ich wirklich nichts anderes sagen als: die Kirche! Allerdings, wenn man mich fragen würde, [39] was das Vergänglichste in der Welt ist, was am meisten anders werden muß, müßte ich wiederum sagen: die Kirche! Warum liebe ich die Kirche über alles, was ich in der Welt habe? Deswegen, weil ich daran glaube, daß in dieser Kirche mit all ihren Mängeln, mit all ihrer Not, mit all ihrer Vorläufigkeit, mit all dem, was anders sein könnte an ihr, Gott zur Menschheit steht. Und wenn ich alle Menschen liebe, dann muß ich gerade, wenn es mir um die Menschen geht, die Kirche lieben. Denn Kirche ist nichts anderes als das Zeichen dafür, daß Gott Menschen, wie sie sind, in ihrer Armseligkeit, in ihrem Nichts, in ihrer Vorläufigkeit und Relativität angenommen und ernst genommen hat. Mein Ja zu allen Menschen ist also dadurch real und wirklich, daß ich sie hineinstelle in dieses Ja Gottes, in sein Handeln, in seine Gnade, in sein Erbarmen mit den Menschen. Und das erfahre ich daran, daß ich mit anderen, die diese Kirche bilden, zusammengehören, daß ich diese Menschen und mit ihnen alle anderen annehmen darf daraufhin, daß Gott uns selber in Jesus Christus angenommen hat. Freilich, diese Kirche ist gerade deswegen auch furchtbar endlich, so endlich, wie Menschen es eben sind. Sie ist so endlich und relativ, wie es Geschichtliches eben ist. Kirche, das ist – wenn wir darauf schauen, [40] was Jesus eigentlich bringen wollte, das Reich Gottes, die Herrschaft Gottes, in der die ganze Schöpfung eins ist in Gott – geradezu eine „Ironie“. Kirche, das ist Struktur, Institution, Amt, Sakrament, Grenze, Dogma, Endlichkeit, Trennung voneinander. Aber es muß so sein, weil sonst die Endlichkeit, die Wirklichkeit, die jetzige Stunde, nicht ernst genommen würde. Kirche in all dem wird vergehen. Sie ist nicht ein Götzenbild, an dem wir uns festhalten dürfen, aber sie ist der Ort, an dem wir unser Ja zu Gott konkret sprechen können und an dem wir glauben können, daß Gott zu uns konkret ja gesagt hat. Über das, was Gott in der Kirche will, was Gott sich dabei gedacht hat, als er Kirche wollte, möchten wir kurz nachdenken. Gott hat ja zum Menschen gesagt, er liebt den Menschen. Und wenn er liebt, dann ist seine Liebe so total, wie er selbst eben total ist. Er ist Liebe, und deswegen kann er aus seinem Handeln, aus seiner Liebe nichts auslassen. Alles, was er ist und was er hat, muß er in diese Liebe zum Menschen investieren: sich selbst! Er hat sich so radikal investiert, daß er sich selbst in diese Menschheit hineingegeben hat, in seinem Sohn, in der Inkarnation. Christus ist die Selbstinvestition Gottes in diese Menschheit hinein. Aber wenn es nur Jesus Christus gäbe, wenn nur er [41] da wäre, dann wäre Gott in der Menschheit nicht ganz da. Wenn es nur diese eine Person, diesen einen Menschen gäbe, in dem Gott anwesend ist, wenn es Jesus Christus nur als isolierten Punkt in der Menschheitsgeschichte gäbe, dann hätte Gott sich nicht ganz hineingegeben, wenngleich der ganze Gott in Jesus Christus da wäre. Gott wäre trotzdem noch einer, der irgendwo einsam da oben steht, er hätte in Jesus Christus gleichsam eine Kontaktstelle, eine Leitung in die Welt hineingegeben. Was er aber selbst ist, die „Innenseite“ Gottes, das wäre noch weit weg. Gott ist nicht nur die Vertikale, nicht nur „der da oben“ – selbstverständlich ist er es und muß es bleiben, und wehe uns, wenn wir diese Vertikale umstürzen! Vielmehr ist Gott auch in sich selbst horizontal, ist er in sich selbst Gemeinschaft, dieses unendlich liebende Du-Sagen von Vater und Sohn zueinander im Heiligen Geist. Nur dann ist Gott ganz da, nur dann erfahren wir ihn ganz, nur dann hat er sich uns ganz geschenkt, nur dann ist sein Ja bis zum Äußersten und Letzten bezeugt und Wirklichkeit geworden in dieser Menschheit, wenn er selbst uns auch dieses horizontale Geschehen schenkt und wir auf unserer Ebene Gott so finden, daß er als Gemeinschaft hier unter uns lebt, daß das, was zwischen dem Vater und dem Sohn lebt, in unserer Mitte, zwischen uns, lebt. [42] Jesus hat in seinem Hohenpriesterlichen Gebet, wie es uns Johannes überliefert (Joh 17), nicht darum gebetet, daß wir mit dem Vater eins seien, wie er mit dem Vater eins ist – das ist sicher die Voraussetzung –, sondern er hat das im Grunde Unerhörte dazu erbeten, daß wir untereinander eins seien, wie der Vater und der Sohn eins sind. Dieses Leben Gottes – das heißt, wie Vater und Sohn zueinander stehen, miteinander sind, einander ganz annehmen, einander sich ganz und gar verschenken, so daß alles, was der Vater hat, auch dem Sohn zu eigen ist und umgekehrt –, das hat er für uns als das Leben erbeten, das wir miteinander führen sollen. Ich nehme dieses Wort ganz ernst und glaube, daß es keine Spekulation ist, sondern daß dieses Gebet Jesu die große Verpflichtung ist, nach der wir streben müssen, das, worauf letztlich alles ankommt. Nicht umsonst heißt es dort: „Daß sie eins seien in uns, damit die Welt glaube, daß du mich gesandt hast“ (Joh 17,21). Das eben ist die Kirche, Kirche als Handeln Gottes: daß solche Einheit, wie sie in Gott lebt, zwischen uns leben kann durch Gott, aus ihm, daß er sich der Welt bezeugen kann, er, der entzogene, dreifaltige Gott, in unserem Einssein miteinander. Nur dann hat mir der Sohn alles geschenkt, was er in sich hatte, wenn er mir schenkt, daß ich in [43] einem, der mir gleich ist, Gott selbst finden kann. Nicht im Sinne einer Verklärung des Menschen, einer humanistischen Anmaßung, in einem Sich-Auf-Werfen des Menschen zu Gott, sondern darin, daß Gott selbst sich in diesen anderen und in mich hineingesenkt und hineingeschenkt hat, daß aus Gott und durch seine Gnade zwischen uns Menschen gegenseitige göttliche Beziehung wird. Das ist das Maß der Kirche, darum geht es, dafür lebt Kirche, das soll Kirche der Welt schenken. Nur nach solchem Leben, nach solcher Fülle sehnt sich der Mensch, und nur wenn das dem Menschen geschenkt wird, wird er die Fülle seines Lebens und die Fülle seiner Menschlichkeit finden. Denn alles Streben des Menschen nach Menschlichkeit ist im Grunde Streben des Menschen nach göttlichem Leben, das er von sich aus nie erreichen kann, das ihm aber Gott in Jesus Christus geschenkt hat. So gehört die Kirche als die gegenseitige Beziehung zueinander – wie der Vater und der Sohn eins sind – in die Mitte des göttlichen Handelns hinein, sie „ist“ der in der Welt handelnde Gott. Hier kommt Gott in der Welt zur Darstellung, zur Wirklichkeit und Wirksamkeit. Solange man derlei nur sagt, bleibt es eine schöne Theorie, und es besteht die Gefahr, daß wir uns in die Meinung hineinträumen, das sei köstlich und [44] wunderbar, aber daß wir im Grunde nichts an unserem persönlichen Leben und Dasein ändern. Wir müssen folgenden Schritt tun: Wir müssen einmal den Satz, daß Vater und Sohn ganz eins sind, daß sie sich ganz gehören, aus dem Verstand, aus der Spekulation, ja auch aus der Dogmatik herunterziehen in das Leben, um zu sehen, wie denn Jesus Christus sein Einssein mit dem Vater real und mitten in der Geschichte gelebt hat. Wie hat er es selber gezeigt, daß er mit dem Vater ganz eins ist? Ganz gewiß in der Innigkeit und Freude der Hingabe an seinen Willen, ganz gewiß darin, daß er jede Stunde und jeden Augenblick bereit war, den Willen des Vaters zu tun. Am tiefsten und radikalsten aber so, daß er die äußerste Verlassenheit, die äußerste Ohnmacht, das äußerste Nicht-mehr-Können, Nicht-mehr-Mögen, Nicht-mehr-Wollen, Nicht-mehr-Sehen, Nicht-mehr-Empfinden zum Rohstoff seiner Einheit mit dem Vater gemacht hat. Er wollte und konnte nicht mehr, er hatte einen Ekel gegen den „Kelch“, aber doch hat er gesagt: „Nicht mein Wille geschehe, sondern der deine.“ (Lk 22,42). Er hat den Vater nicht mehr verstanden, er hat nicht nur im Sinn einer frommen Zitation den 22. Psalm gebetet, sondern er hat ihn gebetet als Ausdruck des- [45] sen, was er selber war: am Kreuz ausgespannt zwischen Himmel und Erde. „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46). Und gerade darin hat er sich ganz dem Vater ausgeliefert. Das Kreuz ist die Stelle, an welcher Gott die Einheit mit Gott zeigt. In weltliche Verhältnisse, in die äußerste Wirklichkeit unseres Daseins übersetzt, heißt Einheit von Gott mit Gott, Einheit des Vaters mit dem Sohn: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Und trotzdem Ja zum Vater – das ist göttliche Einheit, gelebt mitten in unserer Welt der Schuld, der Tren¬nung, des Irrtums, der Spaltung, des Fernseins von Gott. Unser Fernsein, unsere Sünde, unser Gott-verlassen-Haben macht Gott zum Ort seiner Einheit mit Gott. So realisiert Gott sein innergöttliches Einssein mitten in der Welt, eingebohrt in die Wirklichkeit der Welt auf Golgatha, am Kreuz, im Schrei der äußersten Gottverlassenheit. Und das zeigt, daß Einssein miteinander, daß Kirche-Sein alles andere eher heißt als ein netter Club von freundlichen Leuten sein, die es im Grunde ja alle gut meinen und die alle ein gewisses überirdisches Bedürfnis nach einem höheren Wesen haben und die Jesus für einen ausgezeichneten Menschen halten, der etwas mit diesem Gott zu tun hat. Nein, es heißt, daß wir in der äußersten Härte und [46] Dunkelheit, wenn wir uns nicht verstehen, wenn wir es nicht mehr miteinander aushalten, daß wir gerade dort radikal aneinander verwiesen sind. Dort müssen wir auf Gott im anderen schauen. Das darf natürlich nicht heißen, daß wir über den anderen wegsehen, daß der andere uns nur zur Attrappe Gottes wird. Dieser andere ist von Gott angenommen, so wie er ist, mit all dem, was mir auf die Nerven geht, was mir ideologisch, komisch, vordergründig und banal an ihm vorkommt. Dort hat Gott sich mit diesem anderen identifiziert. Nur wenn ich mich mit ihm so, wie er ist, identifiziere, nur dann identifiziere ich mich mit Gott. Kirche sein, Kirche leben heißt ein menschlich nicht mehr begründbares, ein von unserem Gefühl und Geschmack nicht mehr verantwortbares Ja zueinander sagen. Es ist sonderbar, was darin eingeschlossen ist. Darin ist eingeschlossen, daß ich ja sage dazu, daß es ein Amt in der Kirche gibt, daß ich ja sage zur Sonderbarkeit dessen, daß es ein menschliches Wort gibt, in dem mir Gottes Wort begegnet. Es gehört dazu, daß ich ja dazu sage, daß in einer irdischen Institution, die besser sein könnte, Gott zu mir ja sagt. Es gehört dazu, daß ich ja sage zu ei¬nem, der ganz anders denkt und ist als ich, weil Gott ihn angenommen hat und weil Gott mir in ihm begegnet. Das ist der Auftrag an [47] die Kirche, das ist es, was wir immer wieder neu versuchen müssen, was uns total überfordert, weil wir es nicht können, weil nur Gott allein in uns es kann. Wenn solche Gegensätze wie Juden und Griechen eins werden, so daß im Epheserbrief auch angesichts der Spaltung in der Gemeinde der Hymnus gesungen werden kann „Er ist unser Friede“ (Eph 2,14), dann ist es notwendig, daß auch zwischen Progressiven und Konservativen, zwischen Pietisten und Orthodoxen, zwischen Menschen verschiedenster Lager und Meinungen letztlich um Jesu willen, durch ihn und von ihm allein her eine Einheit, ein Einssein wachsen kann. Das ist eine ungeheuerliche Verantwortung für uns. Daß wir gespalten sind in verschiedenen Kirchen, ist eine Last. Aber wenn schon die Last schlechthin, die Schuld, die Sünde, von Gott verwandelt werden konnte – wobei gerade aus dem Warum unserer Gottverlassenheit Gott die tiefste Einheit mit Gott leben konnte –, dann ist unser Zerspaltensein in die Kirche hinein nur ein Aufruf dazu, daß wir noch viel tiefer, radikaler, abgründiger, ja noch göttlicher dieses Einssein von Vater und Sohn zwischeneinander suchen müssen und können. Das Ja zueinander heißt auch ein Ja dazu, daß in dieser Kirche, zu der dieser andere gehört, Menschen um Jesu willen beieinander sind und Jesus in ihrer [48] Mitte lebt, daß wir uns gegenseitig radikal an- und ernstnehmen. Aber es gibt kein anderes An- und Ernstnehmen als im Zeichen des Kreuzes Jesu Christi. Und das heißt, es wäre ein Verrat, wenn wir dächten: Jesus will die Einheit, also machen wir uns eins, was uns trennt, ist egal, wir können uns schon verständigen und durchlavieren, wir meinen es doch alle gut, wird setzen uns ganz einfach um denselben Tisch, dann wir der Herr schon in unserer Mitte sein. Das hieße, um das, worauf es ankommt, genau einen Bogen machen. Das ist die eine Fehlform. Und die andere ist die, daß wir sagen: Den anderen liebe ich schon, aber seine Kirche ist fatal, ich schaue, wie weit ich mit ihm kooperieren kann, im übrigen ist er eben etwas komisch, ich vielleicht auch, aber jeder behält seinen eigenen Glauben und seine Konfession privat für sich, eingepackt in den „Plastikbeutel“ seiner unangetastetenn Rechtgläubigkeit. Wir müssen uns einfach zumuten, daß wir diese Spannung des Kreuzes, die wir nicht aushalten können, von dem her aushalten, der am Kreuz hängt, daß wir sie in uns von ihm aushalten lassen: ein radikales Ja zueinander, das trotzdem in der ganzen Ehrlichkeit des Ringens um ihn sich Stück um Stück an die Arbeit macht. Wir dürfen uns nichts ersparen, wenn der Vater und der Sohn sich nichts erspart [49] haben. Denn wenn wir uns etwas ersparen, dann ersparen wir uns ihn, und ihn dürfen wir uns nicht ersparen. Und das heißt ebenso, in allem Ernst des Ringens um ihn, aufeinander zugehen, in der ganzen radikalen und unendlichen Liebe, die ihn mit dem Vater verbindet, aufeinander zugehen. Wir werden von daher unwahrscheinlich schöpferisch werden, es werden neue Kräfte entbunden werden durch ihn in uns, um uns zu finden, um aufeinander zuzugehen, um neue Wege zu finden; aber nicht Wege an ihm vorbei und um ihn herum, sondern mitten durch ihn und durch sein Kreuz hindurch. Das ist die Aufgabe der Kirche, darauf kommt es letztlich an, und das ist meine Hoffnung für die Kirche. Die Kirche, die hineingerät in die äußerste Not und Verlassenheit, hat Anteil an ihm. Alles, was es in der Menschheit an Not, an Fragen, an Schwierigkeiten gibt, muß in den Kirchen leben, muß ausgestanden werden in ihm, und wir müssen voneinander ausgestanden werden in ihm, und wir müssen in ihm die Tür zueinander haben, die Tür, die uns gerade dort verbindet, wo wir uns nicht verstehen, wo das Warum stehen bleibt. Ich glaube daran, daß in jedem von denen, die eine andere Konfession haben als ich, Jesus Christus am Werk ist. Ich glaube daran, daß in der Gemeinschaft, zu der er gehört, Jesus [50] Christus am Werk ist. Ich bete Jesus Christus an in einem jeden einzelnen von ihnen, ich bete Jesus Christus an in der Mitte einer jeden dieser Gemeinschaften. Gerade in dieser äußersten Haltung der Ehrfurcht und Anbetung zu ihm müssen wir einander ertragen, aufeinander zugehen, miteinander gehen, bis er ganz und gar in unserer Mitte ist. Als „Gedanke“ ist das harmlos. Doch eines Tages fiel mir auf, daß ich ihn als einen bloßen Gedanken konserviert hatte, mich aber im Grunde doch behäbig und freundlich und glatt innerhalb meines eigenen Zauns wohl fühle und dort, wo ich die anderen nicht mehr verstehe, versuche, Höflichkeit und Respekt walten zu lassen, aber bei mir bleibe. Aber wenn ich Gott nicht überall annehme, wo er lebt, wenn ich Gott in der Kirche meines getrennten Bruders nicht liebe, wenn ich mir den Weg des Schmerzes, der Auseinandersetzung, der Liebe, des Aushaltens, des Warum erspare, dann habe ich nicht wirklich ja zu Gott gesagt. Es ist einfach notwendig, daß wir diese Entscheidung sehen und treffen. Entscheidung für Gott heißt Entscheidung für den Bruder und für Jesus – auch in der Mitte der getrennten Brüder in der anderen Kirche. Diese Entscheidung zu treffen im letzten Ernst, in der letzten Redlichkeit meines Glaubens an ihn und [51] in der Verbindlichkeit meiner eigenen Kirche, das ist der Weg. Es gilt, Gott lieben, ihn selbst annehmen, radikal, ganz und gar, durch sein Kreuz hindurch in denen, die anders sind als ich. Dann wird er in unserer Mitte sein können als der Auferstandene, der zu uns und zu den Kirchen sagt: „Seht, ich mache alles neu!“ (Offb 21,5).