„Klara und Franziskus sind aktueller“ – Einweihung der Kapelle der DPSG, Wegberg, 25. April 1993

[189] Ich möchte zunächst sehr deutlich sagen, daß ich nichts gegen den heiligen Georg habe; aber Klara und Franz sind aktueller.

Es mag immer wieder Zeiten und Augenblicke geben, in denen wir die Kraft, den Mut und die Tapferkeit eines heiligen Georg brauchen. Aber heute brauchen wir noch mehr die Kraft und den Mut, die von Klara und Franz ausgehen. Wir leben zur Zeit in einer Woge wachsender Gewalt und zunehmender Brutalität, worauf nur eine Antwort paßt: der „Aufstand der Zärtlichkeit“.

Wir brauchen gerade heute die Alternative zu dem, was uns so mißfällt. Wir brauchen die Alternative zu dem, was den Menschen kaputtmacht; wir brauchen die Alternative zur Gewalt, die einfach keinen Frieden werden läßt.

Das Ungeheuerliche, das Böse, das Schreckliche der zunehmenden Gewalt ist so, daß wir ihr Paroli bieten müssen. [190] In diesem Sinne ist auch der heilige Georg heute noch aktuell. Aber um wirklich Paroli bieten zu können, brauchen wir jene Alternative der Zärtlichkeit, die im Leben von Klara und Franz sichtbar wird.

Was ist das eigentlich: Zärtlichkeit? Ich möchte mit Ihnen und Euch einmal überlegen, was dahintersteckt, was die Zärtlichkeit von uns verlangt. Ich erinnere mich an meinen Besuch in Kolumbien im Goldmuseum, wo ich an der Wand folgenden Satz aus einer alten indianischen Mythologie fand: „Unsere Stärke ist die der Sonne, die wir in unserem Blut tragen. Wir sind Söhne (und Töchter) der Sonne, die von innen her die Dinge durchdringt und sie von innen her löst.“ Ich glaube, das ist eine gute Bestimmung dessen, was eigentlich Zärtlichkeit will. Zur Zärtlichkeit gehört das Streicheln, zur Zärtlichkeit gehört die Bewegung, zur Zärtlichkeit gehört vor allem die Gestalt des anderen in meinen Fingern, in meinen Sinnen, in meinem Geist und in meinem Wahrnehmen. Es gehört dazu, daß ich diese Schönheit in jeder Form mitvollziehe und daß so der andere sich selber kostbar wird. Aber dies geschieht eben gerade nicht, wenn ich den anderen nur haben will, wenn ich nach dem anderen greifen will, wenn ich mich seiner sozusagen nur zu meiner Befriedigung bemächtigen will, sondern es geschieht dadurch, daß ich seine Gestalt von innen her ertaste, daß ich denke von ihm her, fühle von ihm her, verstehe von ihm her. Ist nicht das eigentlich die große Tragik unserer Zeit, daß wir nicht selten nur Thesen gegeneinander aufstellen, daß es uns im Grunde im Diskutieren oft gar nicht um den anderen geht? So bleibt ihm nur die Selbstverteidigung und bleibt uns nur die Verhärtung der Positionen. Da kann man nicht zusammenfinden, da kann man nicht jenes eine finden, um das es geht.

Ich denke, daß wir tatsächlich heute in diesem Machen- und Verfügenkönnen, in diesem Alles-mögliche-organisie- [191] ren-Können die Alternative dieser geistlichen Zärtlichkeit brauchen. Wenn wir uns nur Ziele setzen, wenn es nur darum geht, etwas zu erreichen, wenn Leistung alles ist, dann machen wir die Dinge kaputt, dann machen wir die Menschen kaputt, dann machen wir den Glauben kaputt.

Damit habe ich schon die drei Punkte genannt, an denen wir heute Zärtlichkeit brauchen: Zärtlichkeit mit dem Menschen, Zärtlichkeit mit den Dingen und der Natur und Zärtlichkeit mit Gott.

Zärtlichkeit mit dem Menschen heißt, daß jede und jeder weiß, sie oder er ist kostbar; daß jede und jeder weiß, sie oder er wird ernst genommen; daß jede und jeder weiß, sie oder er ist wichtig; daß jede und jeder weiß, ich darf sein, wie ich bin; daß jede und jeder immer und immer wieder spürt, ich bin als ich selbst gemeint. Es ist kostbar, daß ich Frau bin und daß ich Mann bin; es ist kostbar, daß wir einander ergänzen; es ist kostbar, daß wir aus verschiedenen Generationen stammen; es ist kostbar, daß wir verschiedene Hautfarben haben; es ist kostbar, daß wir aus verschiedenen Sprachen und Kulturen kommen. Dies alles ist nicht ein Defizit, und es ist kein Grund zur Selbstverteidigung, sondern es ist die Möglichkeit, überhaupt den anderen in seiner Einmaligkeit und Kostbarkeit aufgehen zu lassen.

Wie vielen Menschen begegnen wir in Kirche, Gesellschaft und Welt und überall, die einfach sagen: Ich konnte nie die oder der sein, die oder der ich bin; ich bin nie zum Zuge gekommen; der andere, die andere kennt mich gar nicht richtig, das sind nur die Schemata, nach denen ich beurteilt werde, und wer ich selber bin, das bringe ich nicht über. Ich bringe es nicht über, weil ich nicht freigegeben, weil ich nicht ertastet bin von dieser inneren Mitte des anderen her. Wir brauchen heute die Zartheit, die Zärtlichkeit mit dem Menschen.

[192] Aber genauso und heute mehr denn ja wichtig ist die Zärtlichkeit mit den Dingen und mit der Natur. Es war früher vielleicht nicht so aktuell wie heute, weil die Natur nur begrenzt zerstörbar und gestaltbar vom Menschen war, weil der Mensch leichter das annehmen konnte, was er in der Natur sah, weil es ihm einfach von sich her aufging.

Heute kann ich der Natur alle möglichen Programme überstülpen, heute kann ich sie ummodellieren, heute kann ich das und jenes mit ihr tun. Aber die Natur bleibt letztlich nicht berechenbar, sie wehrt sich, schlägt zurück, gerät außer Kontrolle durch den willkürlichen Umgang des Menschen mit ihr. Heute versetzt die Zerstörung der Umwelt uns Menschen in große Angst, und wir spüren, wie sehr wir es verlernt haben zu horchen, was die Dinge von sich her uns sagen. Nur wenn ich darauf höre, was die Dinge von innen her sind, wenn ich der Natur das Recht gebe, auch sie selber zu sein, wenn ich sie im Einklang mit ihr selbst gestalte, wenn ich im Umgang mit ihr zärtlich bin, dann können die Dinge und kann die Natur das Kostbarste sein, nämlich ein Geschenk. Nur wenn die Dinge und die Natur als Geschenk aufgehen, können wir als Menschen von ihnen leben.

Wir können nur von Geschenken leben, denn nur als Schenkende und Beschenkte sind wir freie Menschen. Nur als freie Menschen schenken wir den Menschen heute die ursprüngliche Zärtlichkeit mit den Dingen und mit der Natur zurück.

Wir brauchen aber auch die Zärtlichkeit mit Gott. Dieser Gott genügt nicht, wenn er sozusagen nur noch der Inhaber des Selbstbedienungsladens unserer eigenen Vorstellungen von Glück und von Leben ist. Dieser Gott genügt gerade nicht, wenn wir nur noch fragen, was seine Gebote uns sagen.

[193] Seine Gebote sind sicher ganz und gar wichtig; und ohne die Gebote können wir nicht mit ihm leben. Aber wenn dies alles ist, wenn ich ihn sozusagen als den Inhaber eines dekretierenden Willens betrachte, dann komme ich nicht zu diesem Gott.

Nur mit diesem Gott, der wirklich von mir ertastet wird, der von mir umworben wird, der mich umwerben darf, der von mir angebetet und geliebt wird, nur mit diesem Gott, der faszinieren kann, kann ich leben.

In der Liebe zu Gott hat die Zärtlichkeit einer Klara und die Zärtlichkeit eines Franz von Assisi ihren tiefsten Grund. Wir können einen Franz nicht verstehen, wenn wir nicht diesen Ruf verstehen, den er immer wieder ausstieß, wenn er Menschen sah, die nichts mit Gott anfangen konnten: „Wehe, die Liebe wird nicht geliebt.“ Er war zutiefst getroffen, daß er ganz persönlich von Gott geliebt ist. Er hat diesen Gott ertastet als einen, der ihn liebt; und aus dieser Liebe, aus diesem Geliebtsein konnte er es nicht haben, daß die Menschen nicht begeistert waren von Gott.

Deswegen hat er den Vögeln, den Fischen, den Geschöpfen erzählt von der Liebe Gottes. Diese Liebe war so groß, daß er es einfach nicht für sich behalten konnte. Seine große Naturverbundenheit und sein Eingehen auf die Menschen kommen aus dieser Sehnsucht: ihr müßt IHN doch lieben, ihr müßt IHN doch entdecken. Wie toll das ist, so geliebt zu sein, diese Erfahrung erfüllte Franziskus. Nur sie hat ihn über alles hinweggetragen, hat ihn nie verbittert sein lassen und hat ihn auch dort, wo es um Kritik an der Kirche ging, immer in dieser Freiheit, in dieser Zärtlichkeit sein lassen.

Als dann Klara von Assisi zu ihm kam und er sie fragte: „Was begehrst du?“, da hat sie nur ein einziges Wort gesagt: „Gott!“ Aber nicht, weil sie eng war, weil sie sich flüchten wollte in irgendein Jenseits, sondern deswegen, [194] weil sei gemerkt hat: Wenn ich Gott allein suche, dann habe ich in ihm alles. – Wir müssen diese Zweiteilung zwischen Gott und Welt endlich wieder einmal überholen, und wir dürfen uns dabei weder in das lieblose, bloße Getto einer Frömmigkeit jenseits der Wolken verlieren noch in das Lieblose des Hier und Jetzt ohne die Perspektive einer Zukunft, die nur Gott uns schenken kann. Beides gehört zusammen. Und alle drei Dinge gehören zusammen: die Zärtlichkeit zum Menschen, die Zärtlichkeit zu den Dingen und zur Natur und die Zärtlichkeit zu Gott.

Wenn wir diese Zärtlichkeit miteinander versuchen, wenn wir sie miteinander haben, dann werden wir jene schönen und kostbaren Erfahrungen machen, die eigentlich immer zum Leben von Pfadfindern gehörten. Wir werden nicht zurückgetragen werden in irgendeine vergangene Pfadfinderromantik. Wir werden aber aus unserem Erbe dieses Kostbare, die Freude an der Natur und die Zuneigung gerade zum schwachen Menschen neu entdecken. Wir werden unsere Verantwortung auch für Schöpfung und Menschheit, für Gesellschaft und Kirche erneut entdecken.

Wenn ich mich frage, wo bin ich persönlich dem begegnet, was Zärtlichkeit bedeutet, dann denke ich z. B. an Lugano, einen ausländischen Arbeitnehmer, den ich eine Zeitlang aus der Nähe begleitet habe. Er erzählte mir, daß er an seiner Arbeitsstelle einen anderen ausländischen Arbeitnehmer neben sich hatte, der immer fluchte und unzufrieden war.

Lugano hielt es nicht länger aus; er wollte zu ihm gehen, um ihm einmal die Meinung zu sagen. Aber dann kam ihm in den Sinn: Wenn ein Kind schreit, dann braucht es etwas, dann fehlt ihm etwas; wenn dieses Kind schreit, das Kind in ihm, dann braucht auch dieser Ausländer etwas. Was braucht er denn? Er hat mir zum Beispiel noch nie von sei- [195] ner Familie erzählt. – Und statt ihm den Kopf zu waschen, ging Lugano zu seinem Kollegen und sagte: „Wie geht es denn deiner Familie? Du hast mir noch nie etwas von ihr erzählt!“ Da brach es aus dem anderen heraus, so daß er immer und immer wieder von seiner Familie sprach. Er sagte auch: „Noch nie hat mich jemand nach meiner Familie gefragt.“

In dieser neuen Beziehung, die sie zueinander fanden, war der Umgangsstil von allein ein ganz anderer geworden.

Ich glaube, nur wo ich von innen her den anderen „ertastet“ habe in seinem Eigenen und die anderen ertastet habe in ihrem Eigenen, werde ich sensibel für den Aufstand gegen die Teilnahmslosigkeit und gegen die Gewalt. Ich glaube, das ist es, worauf es beim Aufstand der Zärtlichkeit ankommt. Dann werden wir auch wie der Jünger, den Jesus liebte, in unserem Alltag ertasten können, daß es der Herr ist. Wir werden den Herrn, wir werden Jesus ertasten in uns selbst, in unserem Nächsten, in der Natur und im großen Gott.