„Einheit, Miteinander und Gemeinschaft“, 5. Dezember 1992

[31] Liebe Schwestern und Brüder!

Die Welt ist ein Weltdorf.
Die Welt ist ein Welttheater.
Die Welt ist ein Weltkonzert.
Die Welt ist ein Welt-Spiel-Sportplatz.
Die Welt ist auch eine Bücherei.

Und zwar eine Katholische, eine Öffentliche Bücherei. Sie umfaßt alles, „katholisch“. Sie ist jedem zugänglich, der in ihr lebt. Was soll das heißen? Alles ist lesbar. Alles ist deutbar. Alles spricht.

Das Wort ist uns gesagt in den Dingen. Das Wort ist uns gesagt in den Ereignissen. Das Wort ist uns gesagt in den Verhältnissen. Das Wort ist uns gesagt in den Taten und Untaten der Menschen.

Das Wort ist uns gesagt in den Katastrophen und Zusammenbrüchen, in den Lockungen und in den Zeichen, die in die Zukunft weisen. Das Wort ist uns gesagt im Gespräch.

Alles ist Wort. Alles will gelesen, alles will gedeutet werden. Und dieses große Buch, das in jedem aufgeschlagen ist, ja, diese große Bücherei, die die Welt im ganzen ist, mit allen ihren vielen Angeboten, mit allen ihren vielen Deutungen, mit allen ihren vielen Möglichkeiten, mit allen ihren verschiedenen Blickwinkeln, besteht aus unzählig vielen Büchern, die alle dieselbe Autorengruppe zu ihren Urhebern haben: die Autorengruppe Gott und Mensch.

Denn es begegnet uns nichts, was nicht mit Ihm zu tun hätte, was nicht von Ihm geschaffen wäre, worin nicht Er irgendwo positiv oder negativ sich finden, worin nicht Er Gnade und [32] Gericht walten läßt. Nichts ist ohne Ihn. Aber auch „nichts“ ist ohne den Menschen, denn es gibt in der Welt nicht dieses Wort in sich selber, es kann sich nur sagen im Menschenwort, es kann sich nur zeigen in dem Menschenauge, es kann sich nur dort offenbaren, wo wir einen und notwendigerweise menschlichen Gesichtswinkel an die Dinge heranlegen.

Überall und immer und in allem, auch in dem, was unberührt ist, auch in dem, was wir sozusagen ausgrenzen wie einen Naturschutzpark, in allem dem sind wir mit drinnen. Alles gehört in diese unlösbare Autorenschaft Gott und Mensch. Auch im Buch der Bücher, auch in der Heiligen Schrift: Denn Er kann und will Sein Wort nur sagen, indem Er Menschenworte nimmt, gebrechliche Worte, Worte, die mißverständlich sind. In diesem Seinem Wort, das Er in unsere Hände legt, kannst du den Weg finden, das Wort identifizieren, das in den Worten schläft; das Buch sozusagen lesen, das in allen Büchern geschrieben ist.

Aber wie kommen wir mit diesem Buch, wie kommen wir mit der Bücherei zurecht? Die Welt ist uns gegeben, und da kann jeder hingehen und sich irgendwas aus dem Regal ziehen. Wird das gutgehen? Oder sendet der Herr Arbeiter in seine Ernte, damit sie vor den Regalen dieser Weltbücherei und zwischen den Regalen das große Gespräch anstimmen? Das Gespräch, in dem wir sagen: Lies doch einmal da, und das habe ich gelesen, und das wäre auch interessant. Und wenn du damit nicht zu Streich kommst: mir ist es damit so ergangen, oder vielleicht kannst du noch mit diesem Autor sprechen, der dies so und so deutet: Vielleicht mußt du zu deinen Erfahrungen auch noch die andere hinzuerzählt bekommen, damit du diese Erfahrung deuten kannst.

Es braucht in der Bücherei namens Welt, in der Katholischen und Öffentlichen Bücherei, katholische und öffentliche Partner, die mitsprechen, damit die Welt sich erschließt, damit die Welt lesbar wird, nicht irgendwo so, daß wir erdrückt und erstickt werden von den unzähligen Angeboten dieser Welt, sondern daß wir uns darin orientieren. [33]

Gott selber hat ein sehr großes Interesse daran, und wenn wir die Texte des heutigen Samstags in der ersten Adventswoche lesen (Jes 30,19–21. 23–26 / Mt 9,35–10, 1.6–8), wie wir es getan haben, und hören, dann entdecken wir, daß Gott hier in drei Funktionen vorkommt. Und diese drei Funktionen spielt er seinen Freunden in die Hand und in das Herz; die Themen, die in diese Weltbibliothek kommen, um sie auszulegen und sie ins Gespräch zu heben.

Da ist die Rede vom Lehrer, der sagt: Dort ist der Weg. Da ist die Rede vom Arzt, der heilt und die Wunden verbindet. Und da ist die Rede vom Hirten, der die zerstreuten Schafe sammelt.

Ich glaube, das ist die Aufgabe, die der Herr den Arbeitern in seinem Weinberg gibt: Die Aufgabe des Lehrers, der das Wort aus dem Schlamm hebt und sichtbar macht, so daß es eine Wegleuchte wird. Die Aufgabe des Arztes, damit die heilenden Worte gefunden werden und damit die Worte in ihrer heilenden Kraft entdeckt werden, die in der Welt ist. Und die Aufgabe des Hirten, der sammelt, der Gespräch anstiftet, Gemeinschaft anstiftet; der es möglich macht, daß Menschen in dieser Lesegemeinschaft der Welt im Wort Gottes sich begegnen und daß sie dazu keineswegs sich nur auf das Wort Gottes, das im Buch der Bücher und in frommen Auslegungen dieses Buches der Bücher steht, beschränken, sondern daß sie alles lesen können, offen lesen können, da und dort lesen können, aber mit dem Licht des Wortes im Herzen und so nicht unkritisch und nicht ausgeliefert, sondern eben gesammelt in dieser Einheit, in diesem Miteinander, in dieser Gemeinschaft, die erleuchtet ist von Gottes Wort, aber eben nicht ein Ghetto in diesem Wort, sondern katholisch, allumfassend und öffentlich. [34]

Dies alles ist ein Beispiel, dies alles ist ein Welt-Spiel, dies alles ist eine Welt-Deutung. Aber ich glaube, es ist nicht schwer, diese Welt-Deutung zurückzutragen in das, was in der Tat in Katholischen öffentlichen Büchereien geschieht, bei uns, durch uns, durch Sie. Und wir erkennen, daß nicht nur die Welt eine Bücherei, sondern daß unsere Bücherei, unsere kleine Bücherei in der Pfarre XY, die Welt ist.

Sie machen Weltgeschichte in dem Gestus, der sagt: Ach ja, ein schönes Buch hast du gewählt, achte auch auf das. Oder könntest du nicht auch das lesen? Oder wie ist es dir dabei ergangen? Hat es dir gefallen? Und dann kommt ein Gespräch. Da ist die Welt mit drinnen, und da ist der Mensch mit drinnen, und da ist nicht irgendeine äußere Absicht mit drinnen, sondern ganz einfach dieses Miteinander in seinem Wort. Diese Lesbarkeit seines Wortes in den vielen Worten, diese Lebbarkeit in den vielen Worten, das ist mit drinnen. Und wie kostbar ist es, daß solches geschieht.

Es gibt einen großen Heiligen, einen der größten, der eigentlich durch ein Kind, das unbewußt ein Bibliothekar war, den Glauben gefunden hat. Es war Augustinus. Er war in einem sehr schwierigen Prozeß innerlich mit drinnen und wußte nicht, wie es damit weiterging. Und während er so rang mit sich, hörte er ein Kind ein Liedchen singen: „Tolle lege, tolle lege, tolle lege.“ Und das ist nicht etwa der Anfang eines Wortes, eines deutschen Wortes „Tolle Legehenne“, sondern es heißt: „Nimm und lies.“ Tolle lege: nimm und lies!

Dann hat er das Buch genommen, dann hat er das Wort entdeckt, und so ist er einer der großen Bibliothekare in Gottes Weltbücherei geworden. Die kleinen Augustinusse sind überall. Seien Sie das Kind, sagen Sie: „Tolle lege. Nimm und lies!“ Dann wird sein Wort auch in Ihrem Dorf, auch in Ihrer Stadt Weltgeschichte machen.

Amen