„Vor dem Einsteigen die Tür öffnen!“ – Predigt am 10. Mai 1976 in Schleiden*
[99] Liebe Schülerinnen, liebe Schwestern und Brüder, liebe Mitarbeiter,
Ich hatte an einer früheren Stelle einen Mitarbeiter, der so ein bisschen vergesslich war, ein sehr gescheiter Mann, aber die gescheiten Leute sind ja mitunter so ein bisschen unpraktisch. Und wenn der mit seinem Auto anfuhr und dann wieder starten wollte, dann hat er öfters vergessen, die Handbremse zu lockern, und weil ihm das immer wieder passierte, hat er gedacht, ich bin ein schlauer Mensch, ich klebe jetzt ein Plakat an meine Scheibe: „Vor Starten Handbremse lösen!“
Und ein anderer Mitarbeiter war ein Spaßvogel und der hat am nächsten Tag, als er das gesehen hat, ihm ein anderes Plakat an die Wagentür geklebt, und da stand drauf: „Vor Einsteigen bitte Tür öffnen!“
Nun, ihr versteht, dass das eine sehr kluge Auskunft war, und dass sich das beim Auto ganz von selber ergibt. Aber ich musste just an diese Geschichte denken, als ich mir das Evangelium der heutigen Messe anschaute und mit überlegte, was ich euch erzählen soll. Und da kam mir in den Sinn, so selbstverständlich die Geschichte beim Auto ist, so unselbstverständlich ist die Geschichte beim Menschen.
Eigentlich könnte jeder von uns so ein unsichtbares Plakat mit sich herumtragen für den anderen, der zu ihm kommt und er für sich für die anderen: „Vor dem Einsteigen die Tür öffnen!“ Nun, was meint das?
Sehr oft stolpert in uns ein anderer Mensch herein, ohne sozusagen durch die Tür zu gehen. Irgendeiner gießt seinen Zorn, seine Laune in uns, irgendeiner steckt uns an mit den Ideen, die er hat, so ganz unbemerkt. Er kommt nicht durch die Tür herein. In uns lebt Vieles, was wir gar nicht bewußt und gar nicht eigens mit Absicht in uns eingelassen haben. Der Ärger der anderen, die Laune, das Gesicht wie drei Tage Regenwetter, das uns der andere zeigt, die bloße Habgier des anderen, das Interesse an uns, der Schmutz, die Unsauberkeit, alles das dringt so in uns ein und lebt in uns, ohne dass der andere eigentlich die Tür genommen hätte, um zu uns zu gehen. Und wir stolpern sehr oft in die anderen Menschen hinein, indem wir einfach mit ihnen etwas anfangen, mit ihnen uns anbiedern, mit ihnen Streit anfangen, sie ablehnen, sagen, sie seien blöd oder unsympathisch oder mit de- [100] nen ist doch nichts los, oder indem wir unsere eigenen Fragen und Probleme und unseren eigenen Missmut in sie ausgießen, und wir sind nicht durch die Tür in sie eingetreten.
Gerade das, was wir nicht durch die Tür zu den anderen bringen und das, was nicht durch die Tür zu uns eintritt, das macht das Leben schwierig. Und alles das, was manchmal im Leben von jungen Menschen passiert, und was sie sich eigentlich nicht wünschen, was sie sich eigentlich nicht ersehnen, das kommt so zustande, dass irgend etwas in sie eingeschmuggelt wurde, was nicht durch die Tür in uns eintritt. Und deswegen, weil wir nicht durch die Tür zueinandergehen, sondern irgendwo einbrechen, irgendwo durchs Fenster einsteigen, irgendwo von einer Seite wie durch den Kamin oder von der Rückseite oder vom Garten, durch den Keller oder irgendwoher einbrechen in den anderen Menschen, das ist, was uns zu schaffen macht. Das ist es, was Hass und Schwierigkeit und Unsauberkeit und Unfrieden und Depression und Traurigkeit und Ratlosigkeit in uns verbreitet. Das ist das eine.
Aber dann gibt es noch eine andere, eine scheinbar genau entgegengesetzte Erfahrung, die wir auch machen können.
Vielleicht die Jüngeren von uns weniger, aber je älter wir werden, umso mehr. Und manchmal fängt es auch schon bei den Kleinen, bei den Jungen an, dass man das Gefühl hat, wir haben gar keine Tür und wir finden beim anderen gar keine Tür. So oft drückt uns etwas, so oft haben wir etwas auf dem Herzen und wir können es gar niemand sagen. Wir finden einfach nicht den Zugang über uns hinaus. Wir fressen etwas in uns hinein, es bedrückt uns etwas, eine Traurigkeit, eine Sorge, eine Not, eine Schwierigkeit, eine Schuld, und wir finden einfach nicht die Tür, um aus uns herauszukommen und das wirklich vertrauensvoll einem anderen zu schenken und zu sagen.
Oder wir haben neben uns eine Kameradin, eine Freundin, wir haben neben uns einen anderen Menschen und wir finden nicht die Tür zu ihm. Wir haben das Gefühl, wir kommen einfach nicht an ihn heran. Es prallt alles an uns ab. Wir finden nicht den Weg, ihn zu verstehen, wir finden nicht den Zugang und vielleicht spüren wir genau, der ist im Grunde unglücklich, der ist im Grunde einsam, der würde uns im Grunde brauchen. Es wäre sehr schön, wenn wir Gemeinschaft hätten mit ihm, wenn wir Kameradschaft hätten mit ihm, und wir finden nicht den [101] Weg. Oftmals schon heute sind junge Menschen einsam, traurig, verlassen, verschlossen und finden nicht jenen Weg, den Kontakt, dass die ganze Freude und die ganze Zuversicht, die eigentlich zu einem jungen Leben gehört, sich entfalten und wachsen könnte.
Also auf der einen Seite: Vieles bricht in uns ein, aber findet nicht die Tür, sondern lebt irgendwoher in uns, oder aber umgekehrt, wir finden bei uns und bei anderen nicht die Tür.
Und nun sagt uns Jesus ein tolles Wort. Es sagt uns: Ich bin die Tür, Ich. Er ist die Tür, durch die wir allein den richtigen Weg zueinander finden. Aber er ist die Tür, durch die wir auch über uns hinausfinden. Er ist einer, der uns nämlich von innen her kennt. Er ist einer, der all unsere Sorgen, all unsere Fragen, der all unsere Nöte, der all unsere Schuld, der all unsere Zukunft, der all unsere Freundschaft, der all unsere Sehnsucht, der alles, was in unserem Herzen lebt, in sich selber getragen hat. Er wollte ja deswegen Mensch werden, nicht weil er, ja was sollte er schon davon haben, er, der Sohn Gottes, nicht weil er irgendetwas haben wollte, sondern wie er unser Kamerad, unser Bruder sein wollte, weil er genau das einmal von innen erleben wollte, was wir erleben. Er ist wirklich einer, der eingetreten ist zu uns, der all das Unsere angenommen hat: die Liebe, er ist die Tür Gottes zu uns. Gott selber kommt durch ihn hinein in unser Leben. Und er hat dadurch unserem Leben einen Ausgang verschafft, dass wir aus unserer Gefangenschaft, aus unserem Verfangensein in uns selber, durchbrechen können, sagen können, ja ich bin geliebt, ich bin erlöst, ich hab einen, der mein Freund ist, ich hab einen, der mich versteht, und deswegen kann ich mein Leben wagen, deswegen kann ich über mich hinausgehen. Er ist die Tür, durch die Gott selber in mich hineinkommt, und er ist die Tür, durch die ich hinausfinde ins Leben und in die Welt. Und genau durch ihn, durch diese Tür sollten wir auch zueinander und sollten wir auch ins Leben hineingehen. Aber wie macht man das?
Wenn ich euch das noch sage, dann ist das ein schönes Wort, aber ihr könnt es nicht eigentlich festmachen. Ihr könnt eigentlich nichts damit anfangen. Es ist wie ne Tür, bei der man sozusagen das Schlüsselloch nicht findet. Wie können wir diese Tür aufschließen? Wenn ihr euch zunächst einmal ganz äußerlich fragt, was eure Türen in die Umwelt und zu den Mitmenschen seien, dann ist es [102] ganz klar: unsere Sinne. Die Augen, durch die schauen wir hinaus, durch sie scheint die Welt in uns hinein. Die Ohren, durch sie geht die Welt in uns hinein, hören wir hinaus, horchen wir hinaus, auch wenn wir keine so Sangen Ohren haben wie der Osterhase, gerade dann nicht. Wir hören über uns hinaus. Und unser Mund, durch den das, was da in uns drinnen ist, in unserem Wort hinausfindet und wir etwas hinaussagen können in die Welt. Augen, Ohren, Mund, Hände, mit denen wir schreiben können, das sind unsere Türen.
Und nun heißt: „Er ist die Tür!“ ganz einfach das Folgende. Wenn wir mit einem Mitmenschen zu tun haben, dann sollten wir ihn mit den Augen Jesu anschauen, mit den Augen dessen, der der Freund und der Kamerad aller geworden ist. Mit den Augen dessen, der den Mut hatte, auch diejenigen, die dumm waren und ihn nicht verstanden, die blöd waren und komische Eigenarten hatten, trotzdem mit dieser innersten Liebe anzuschauen. Ihr könnt gar nie einen Menschen sehen, der nicht so unendlich kostbar ist, dass Jesus selber nicht für ihn gestorben wäre. Für jeden Menschen ist Jesus gestorben. Jeder Mensch ist ein unendlicher Schatz, jeder ist Gott seinen eigenen Sohn wert.
So einander anschauen, so aufeinander hören, dass wir durchhören auf das Gute, auf das Schöne, auf das Wahre, dass dieser andere Mensch sagt. Und so zueinandergehen, dass immer wir durch diese Tür hindurchgehen, dann werden wir viel mehr Freude aneinander haben, dann werden wir gar nie mißgestimmt sein, dann werden wir gar nie im Ärger steckenbleiben, dann werden wir gar nie in dieser Traurigkeit steckenbleiben, sondern, wenn wir so einander anschauen, wenn wir so aufeinander hören, wenn wir so zueinander sprechen, dann werden wir eigentlich immer ein Fest haben, wenn wir zueinandergehen. Dann werden wir immer etwas Schönes vorfinden, dann wird immer Zuversicht und Freude dasein, dann werden wir einander helfen und dienen können und dann werden wir nicht steckenbleiben in dem, was uns ärgert oder was uns traurig macht.
Nehmen wir diese Tür, um so zueinander zu gehen, dann wird unser Leben neu. Dann wird unser Leben dieses Fest, dann wird unser Leben voll Zuversicht, dann werden wir Freude haben aneinander und miteinander, denn zwischen uns ist der, der die Tür zueinander ist. Er bricht unsere Einsamkeit auf, und ich lerne auch den verstehen, der mir so fremd und stumm und sonderbar gegenübersteht. [103]
So meine ich also, wir sollten's doch probieren, dieses Plakat beieinander anzubringen und öfters mal auf dieses Plakat zu schauen, dieses Plakat, das da heißt: „Vor dem Einsteigen in den anderen, vor dem Einsteigen in den Tag, vor dem Einsteigen in die Schule, vor dem Einsteigen in den Schulbus, vor dem Einsteigen ins Fernsehen, vor dem Einsteigen in die Haustür, wenn ich nach Hause komme und meine Leute sehe – jedesmal vor dem Einsteigen die Türe öffnen, die einzige Türe, die uns wirklich zueinander führt.“
Und diese Tür ist Er, Jesus Christus in unserer Mitte.
Amen.