Gemeinschaft mit der verfolgten Kirche – Herbstvollversammlung der DBK, 23. September 1976

[7] Liebe Brüder und Schwestern!

Es ist ein bißchen sonderbar – jetzt waren wir Bischöfe ein paar Tage hier in Fulda und haben beraten und beraten. Wir sind kaum fertig geworden mit unserem Programm, und schon bedrängt jeden von uns wieder das Programm, das ihn bereits zu Hause erwartet, ich meine aber, es ist gut, daß wir auf unserem Heimweg von den Problemen hier zu den Problemen dort einen kleinen Umweg nehmen zu Ihnen; denn wir gehören zusammen.

Da stellt sich die Frage, wovon in dieser Stunde die Rede sein soll. Es läge nahe, mit Ihnen unsere Anliegen zu teilen im Blick auf die Kirche dieses Landes, oder umgekehrt nach Ihrer Situation zu fragen und eines von den Anliegen herauszugreifen, die Sie bewegen. Wir haben uns diesmal aber anders entschlossen. Wir wollen Sie dazu einladen, mit uns über den eigenen Kreis hinauszuschauen auf ein Feld, das wir nur allzu leicht vergessen, das aber ein anderer ganz gewiß nicht vergißt: der Herr in unserer Mitte.

Man kann sich die Sicht durchs eigene Fenster in die Welt hinaus auf mancherlei Weise verbauen, sei es durch die Blume der Illusion, sei es durch das Gestrüpp der eigenen Sorgen, sei es durch die Berge von Akten, wie sie zu einer Vollversammlung der Bischotskonferenz ge- [8] hören. Der Schlußgottesdienst, der das Thema „Verfolgte Kirche“ aufgreift, will ein Zeugnis sein und ein Versuch, dies nicht passieren zu lassen, sondern die Solidarität der Kirche unseres Landes mit der Kirche in der Welt zum Ausdruck zu bringen.

Es wäre wohl ein vorschneller Vorwurf, wenn man der Kirche und den Katholiken der Bundesrepublik Horizontverengung anlastete. Sind Dritte Welt, Friede und Entwicklung nicht Themen, die uns immer wieder beschäftigen und uns auch zu erheblichen Opfern herausfordern? Und doch gibt es in unserer Welt des Machbaren den Hang, nur auf das zu achten, was sich eben „machen“ läßt. Wehe uns, wenn wir das Machbare unterließen! Aber ebenso gefährlich, die Augen vor dem zu verschließen, was sich nicht machen, was steh nicht durch Aktionen, Pläne, sichtbare Eingriffe bewältigen läßt. Gerade deshalb aber ist es notwendig, das Bewußtsein eindringlich auf jenes zu lenken, vor dem wir in einer merkwürdigen Wertlosigkeit gebannt stehen. Es ist eine Tatsache, daß in unserem Jahrhundert des größten Fortschritts nicht nur am meisten Menschen durch Menschen innerhalb der ganzen Menschheitsgeschichte umgekommen sind. Es Ist ebenso eine Tatsache, daß in diesem Jahrhundert, in dem Freiheit und Unabhängigkeit sich so weit in allen Kontinenten durchsetzten wie noch nie zuvor, diese Freiheit und Unabhängigkeit in ihrem Herzen immer wieder getroffen werden durch schreckliche Verfolgungen von Menschen um Ihrer Überzeugung, um ihrer innersten Freiheit willen.

Verfolgte Kirche, das ist keine Randerscheinung, es ist ein durchgehendes Kennzeichen der Kirchengeschichte unseres Jahrhunderts. Heftigkeit, Gestalt und auch geographische Schwerpunkte solcher Verfolgung verlagern sich. Aber jedes Jahrzehnt brechen neue Herde der Unterdrückung und der Gewalt auf. Es führte zuweit, all das aufzuzählen, was etwa in Rußland oder in südamerikanischen Staaten, was In Teilen Afrikas oder in Südostasien und China Christen um ihres Glaubens willen zu leiden haben. Oft wird gesagt, nicht deswegen würden Christen verfolgt, weil sie Christen sind, sondern weil sie den gesellschaftlichen Fortschritt oder die gesellschaftliche Stabilität durch ihre Ansichten und Haltungen untergrüben. Aber das ist weithin Tarnung und Verschleierung. In einer totalitären und gar in einer atheistischen Gesellschaft wird das Glück des Menschen vom eigenen Können, von der Ideologie, von der Leistung der Gesellschaft erwartet. Das Menschliche, die Menschenrechte müssen hinter diesem Ziel zurücktreten. Gerade das Zeugnis der Christen wirkt hier störend, unbequem. Man sucht sie zum Schweigen zu bringen. Nicht zufällig zählen sie zu den ersten, deren Zurücksetzung und Verfolgung die Unmenschlichkeit eines Systems offenkundig werden läßt. Auch in Ländern, in denen im [9] Namen falsch verstandener christlicher Tradition eine Ordnung der Gesellschaft festgeschrieben wird, die keinen Raum für soziale Gerechtigkeit läßt, sind Christen aufgerufen, gewaltlos, aber unmißverständlich sich um des Evangeliums willen zum Anwalt für den Menschen zu machen, selbst unter schweren Opfern. Oftmals wird der Versuch unternommen, Verfolgung und Unterdrückung durch Gesten der Duldung und des scheinbar freundlichen Zusammenlebens zu überdecken. Es ist jedoch eine gefährliche Naivität, den Blick hinter die Kulissen zu unterlassen und die feineren und geheimeren Formen der Unterdrückung als harmlos abzutun.

Wir Christen sind nicht dazu da, um andere anzuklagen und über andere zu richten, zumal nicht über jene, die uns Gewalt antun. Wir schlagen nicht zurück. Liebe, radikale Liebe auch jenen gegenüber, die uns verfolgen, gehört zu unserem unabdingbaren Programm. Aber wir Christen haben die Pflicht, dort nicht zu schweigen, wo aus Bequemlichkeit oder Angst andere schweigen. Wir haben die Pflicht, Anwalt des Menschen zu sein, für den der Herr Mensch geworden ist und sich ans Kreuz schlagen ließ. Diese Aufgabe haben wir auch dann, wenn es einer behäbigen und schläfrigen Gesellschaft nicht paßt. Statt vorschnell vor unserer eigenen Machtlosigkeit und Hilflosigkeit zu kapitulieren, sollten wir daran denken: Es bleibt auf die Dauer nicht folgenlos, wenn wir unbeirrbar unsere Stimme erheben gegen die Verletzung von Recht und Freiheit, wenn wir aufdecken, wo Menschen um ihrer Oberzeugung willen verfolgt werden. Und jene, die in der Verfolgung stehen, haben ein feines Gespür dafür, ob wir sie abgeschrieben haben oder ob wir die Gemeinschaft und die Nähe unseres Glaubens mit ihnen, unsere Zuversicht, unsere Liebe zu ihnen wachhalten.

Freilich, wir stoßen schmerzlich an die Grenzen dessen, was wir zu machen und auszurichten vermögen. Aber gerade hier dreht sich der Richtungssinn des Geschehens um. Wo wir machtlos sind, da sind jene nicht machtlos, die in der Verfolgung stehen. Wenn wir auf sie, auf ihr Schicksal, auf ihr stummes Zeugnis achten, dann kann für uns aus diesem Zeugnis neues Leben, neuer Glaube wachsen.

Verfolgte Kirche wird für uns zur Botschaft. Sie richtet uns dasselbe aus, was wir am Zeugnis des gefangenen Paulus ablesen können. Wir haben ihn soeben in der Lesung aus dem Philipperbrief gehört. Paulus kann nicht mehr unterwegs sein und predigen. Aber gerade jetzt erfährt er die Wahrheit und Kraft des Evangeliums wie kaum zuvor, und er hat das Vertrauen, daß seine Gemeinschaft mit dem Leiden und mit der Ohnmacht Christi machtvoller und wirkungsvoller ist als Verkündigung und Aktion. Er weist auch uns hin auf den Gott, der in uns mehr zu wirken vermag als unser eigener guter Wille (Vers 13). Dort, wo [10] unser Wille und unsere Kraft am Ende sind, ist Gott nicht am Ende. Wer in der Verfolgung lebt, erfährt dies immer wieder. Er kann sich nicht ausrechnen, wie es weitergeht, er kann nichts für sich tun, und andere können nichts für ihn tun. Er ist, menschlich gesehen, überfordert. Aber gerade da wächst der Glaube an den Gott, der uns jeden Augenblick führt. Diese Erfahrung der verfolgten Kirche betrifft auch uns. Brechen wir doch aus unserer Scheingläubigkeit ans eigene Planen und Machen aus! Glauben wir daran, daß wir geführt sind, daß Gott uns nie verläßt!

Paulus ermahnt die Philipper: „Tut alles ohne Murren und Bedenken!“ (Vers 14). Verfolgte Kirche lebt uns vor: Wo alles auf dem Spiel steht, wo äußerste Gefahr droht, da wird das Leben zugleich „einfach“. Alle Wehleidigkeit, alle Flucht vor der unzumutbaren Härte des Evangeliums, aller Rückzug ins bloße Diskutieren haben ihr Recht verloren. Entscheidung, Bekenntnis, Vertrauen auf den Herrn, der allein trägt, sind der einzige Weg. Ist nicht auch bei uns Entscheidungssituation? Sind nicht auch wir herausgefordert, unser Christsein klarer, geradliniger, unkomplizierter zu leben?

Entscheidungssituation ist Unterscheidungssituation. Paulus hebt das Zeugnis des Christen ab von den Gewohnheiten der Umwelt. Lichter in der Welt sollen die Christen sein, Lichter in der Finsternis der Verwirrung (Vers 15). Verfolgte Kirche ist eine Provokation gegen alle falsche Anpassung, gegen alles bloße Mitmachen mit Trends. Auch wir sind herausgefordert, anders zu sein und so das Evangelium zum Leuchten zu bringen. Anders in unserem Verhalten dem Nächsten gegenüber, anders indem wir unsere Hoffnung auf anderes gründen, anders indem wir dem Tod, der Geburt und dem Leben anders begegnen, anders indem wir vergeben und verzeihen, anders in der Bereitschaft, Schmerz, Trauer und Unsicherheit zu ertragen.

Der Weg, den Paulus weist: „Haltet fest am Wort des Lebensl“ (Vers 16). Gegen jegliche Ideologie kommt für die verfolgte Kirche alles darauf an, sich unbestechlich am Wort des Evangeliums zu orientieren und es Schritt für Schritt ins eigene Leben, Denken und Verhalten zu übersetzen. Die Möglichkeit, sich öffentlich zu äußern, Kommunikation durch Bücher, durch Veranstaltungen und Medien wird weithin unterdrückt. Evangelium, das gelebt wird, hingegen bleibt unauslöschliches Zeugnis. Aber geht es bei uns im Setzten anders? Ist nicht deshalb die christliche Botschaft so schwach und undeutlich bei uns, weil wir sie nicht in unserem Alltag, mit unserem Leben buchstabieren und bewähren?

Wenn wir das Evangelium Fleisch werden lassen in unserem Leben, dann werden wir die doppelte Erfahrung des Paulus und der verfolg- [11] ten Kirche teilen: die Erfahrung des Opfers und die Erfahrung der Freude (Vers 17 und 18). Paulus kann sein Leben nicht festhalten, er muß es hingeben. Aber er weiß sich In dieser Hingabe verbunden mit der Gemeinde. Auch ihr Leben aus dem Glauben wird Hingabe, wird Geschenk, wird Gottesdienst. Wer sein Leben haben will, der wird es gerade verlieren. Ein Leben, das satt ist, wird langweilig, fad, hat keinen Sinn mehr. Ein Leben, das angefordert ist, ein Leben, das zur Gabe und zum Dienst wird, ist erfülltes Leben. Und darum ist das Opfer gerade die Bedingung der Freude. Wer Kontakt hat mit Christen in der Verfolgung, der trifft bei ihnen nicht selten eine Freude an, die uns fremd zu werden droht. Verfolgte Kirche wird, so paradox dies klingt, für uns zur Einladung, die Freude wiederzugewinnen, indem wir das Opfer nicht scheuen.

Ich könnte hier Amen sagen. Aber ein letztes gehört noch hinzu, ein letztes, was das Antlitz der verfolgten Kirche prägt. Es gibt auch den Fall, daß nur noch das Verstummen, nur noch die Ohnmacht, nur noch die Wertlosigkeit, nur noch das Warum zur Lebensgestalt einer Kirche in der Verfolgung wird. Solches geschieht an manchen Stellen, und wir dürfen hiervor die Augen nicht verschließen. Aber gerade dann wird uns das Zeugnis der Ohnmacht zum Zeugnis des Herrn selber, der uns nicht durch seine Macht, sondern durch seine Auslieferung erlöst hat, der uns nicht in einer großen Predigt, sondern im Warum-Schrei am Kreuz die äußerste Liebe bezeugte. Und das Bewußtsein, daß wir gerade durch die Liebe, die sich ganz und gar weggibt, erlöst sind, ist allein auch die Basis dafür, um in unserer Situation zu bestehen und der Welt jenes Zeugnis weiterzugeben, das wir ihr schulden. Leben mit dem gekreuzigten Herrn, auch in unseren Verhältnissen, jeden Augen blick und in jeder Situation: dies, dies allein ist der Weg zur Auferstehung für uns und für die Welt. Amen.