Dein Herz an Gottes Ohr

[42] Beten heißt: sprechen mit Gott

Was tut not, daß unser Sprechen mit Gott gelingt?

Drei Dinge. Das erste: das Wort leben. Das zweite: beichten. Das dritte: die Keckheit des Evangeliums.

Das Wort leben. Wenn ich eine Sprache nur in der Schule oder nur aus Wörterbüchern lerne, dann ist es nicht dasselbe, wie wenn ich unter Menschen, im Lande und in der Landschaft lebe, wo diese Sprache im Alltag gesprochen wird. Damit ist nichts gegen neue Methoden gesagt, die ein Stück dieser Erfahrung auch auf Distanz erschließen wollen. Aber im Ansatz bleibt es so: Sprache gelingt, wo in ihr gesprochen wird, sie gelingt im Mitsprechen, im Bezugsfeld. Gott hat unsere Sprache sprechen „gelernt“, indem das Wort Fleisch wurde und unter uns gewohnt hat. Und wir können die Sprache Gottes sprechen lernen, indem wir sein Wort leben, die Fleischwerdung des Wortes miteinander nachvollziehen, das Evangelium im Leben und das Leben durch das Evangelium buchstabieren. Wer Erfahrungen mit dem gelebten Wort hat und sie mit anderen teilt, der spricht nicht über den Glauben, sondern in dem wird der Glaube sprechen – und so kann er sprechen zu Gott, sprechen mit Gott.

Beichten. Erst wer sich selber gibt, erreicht den anderen. Mich selbst ganz, mich selbst im Ernst zur [43] Sprache bringen vor Gott, wie soll das gelingen, wenn ich meine Grenze, meine Schwäche, meine Schuld einschließe in die Stummheit, wenn ich nicht die Schwelle zu nehmen bereit bin, die dazwischenliegt, mich selbst als Sünder vor Gott und um Gottes willen dem Bruder anzuvertrauen? Beichten ist der Ernstfall und Testfall meiner Auslieferung, meiner Offenheit. Wer dem Bruder beichtet, kann zu Gott beten. Wer dem Nächsten seine Schuld sagt, kann Gott seine Liebe sagen.

Die evangelische Keckheit. Es ist merkwürdig, daß diese Tugend – ich bin versucht, sie „die Tugend der Frechheit“ zu nennen – in den Tugendkatalogen fehlt, wo sie doch so oft im Evangelium belobigt wird. Die aufdringliche Syro-Phönizierin (vgl. Mk 7,25–30), die blutflüssige Frau, die sich an Jesus heranmacht (vgl. Lk 8,43f.), der Gelähmte, den die Freunde durch das Dach herunter Jesus vor die Füße legen (vgl. Mk 2,1–12), Zachäus, der sich nicht geniert, auf den Feigenbaum zu steigen (vgl. Lk 19,4) – und dann die Gleichnisse von der unbequemen Witwe (vgl. Lk 18,1–8) und dem zudringlichen Freund (vgl. Lk 11,5–8), wogegen das andere Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner keinerlei Widerspruch bedeutet (vgl. Lk 18,9–14).

„Abba“ ist ein Wort der Umgangssprache. Sprechen kann, wer sein Herz wagt, wer sich exponiert und blamiert – nur der lernt auch eine Sprache wahrhaft sprechen. Um vor Gott sprechen zu lernen, heißt es Kind zu werden, sich ihm „zuzutrauen“.

Das Wort leben – beichten – vor Gott „sich getrauen“: so löst der Geist die Zunge, und wir sagen mit Jesus: „Abba, lieber Vater!“