Der Dreiklang des Christseins, 21. September 1991
[9] Meine lieben Schwestern und Brüder!
Bei einer Festpredigt zu einem 100. Geburtstag soll man von der Größe dessen sprechen, der da zu feiern ist. Aber wie kann man das nach diesem Evangelium (Mk 9,30–37), das alle menschliche Größe klein erscheinen läßt und nur das Kleinsein groß. Jesus stellte nicht eine große Persönlichkeit als Maßstab für seine Jünger in die Mitte, sondern ein Kind, und als er vom Entscheidenden sprach, sprach er vom Kreuz. In der Mitte das Kreuz, in der Mitte das Kind. Wie dann eine Festpredigt halten über meinen Vor-Vorgänger Johannes Joseph van der Velden, wie eine Predigt halten über diesen großen Bischof von Aachen?
Ich meine, die Spannung zwischen Kreuz und Kind ist die Spannung seiner Persönlichkeit. Er hat als ein froher Mensch, als ein Mensch der positiv gestimmt war – dennoch oder gerade – das Wort vom „Kreuz des Heiles“ sich über seinen bischöflichen Dienst geschrieben. Ganz einfach deswegen, weil er in der Situation des Krieges, weil er in der Situation der Zusammenbrüche, weil er in der Situation des Niederganges und der Anspannung Bischof geworden ist und weil er den Menschen einen Halt geben wollte. Einen Trost, weil er durch das Kreuz allein zur Freude führen konnte, weil nur durch das Kreuz jene Hoffnung da war, die eben nicht auf eine irdische Zukunft, sondern auf die Ewigkeit, auf Gott und sein Leben gerichtet war. Und seine Größe war es, daß er dies tat mit jenem genialen Schwung des Kindes.
Etwas an seinem Wesen erinnert an das Kind. Was wird nicht von ihm an Anekdoten berichtet. Er hat darauf losgesprochen wie ein Kind. Und das war das Starke an ihm, daß er gerade das Kindliche, das Unmittelbare, das Nahe, das Phantasievolle, das Legere, das Hintersinnige und doch im Grunde ganz Einfache zu sagen und zu fühlen wußte:
Nähe, die ein Geheimnis birgt; Klarheit, die einfach ist und [10] dennoch abgründig im Geheimnis bleibt. Dieses Wesen des Kindes finden wir in ihm.
Das Kind hat das Kreuz getragen und das Kreuz die Hoffnung. Und dieses Kind war ihm wichtig! Auf dieser Folie, des Kindes und des Kreuzes, wollen wir auf Johannes Joseph van der Velden schauen, auf seine Persönlichkeit, auf seine Botschaft. Und ich möchte es auf eine ganz einfache Weise tun, entlang seiner Predigt, die er zweimal im Abstand von über zwanzig Jahren hier in dieser Kirche gehalten hat.
Johannes Joseph van der Velden hat in seiner ersten Predigt, als er in dieser Gemeinde Pfarr-Rektor wurde, gesagt, was er sein wollte: Bringer der Freude, Tröster im Leid, Führer zur Ewigkeit. Und als er dann Bischof geworden hierher zum erstenmal zurückkehrte, da zog er aus seiner Schatulle diese alte Predigt heraus, und sagte: Ich halte sie noch einmal, ich halte sie aus der Distanz von über zwanzig Jahren. Das war im Jahre 1943, mitten im Krieg, bald nach seiner Weihe. Und er sagte, was für ihn das Bischofsein meint, und er faßt es wieder in diese drei Worte: Bringer der Freude, Tröster im Leid und Führer zur Ewigkeit.
Was heißt das damals, was heißt das heute? Was hieß das für ihn, was sagt er damit mir?
Bringer der Freude: Haben wir nicht eher den Eindruck, daß der Priester oder gar der Bischof Bringer von Normen, Bringer von Vorschriften ist; derjenige, der Probleme abzuhandeln hat? Johannes Joseph van der Velden sagt dagegen, der Bischof ist Bringer der Freude. Dabei war Johannes Joseph van der Velden nicht sentimental, er war nicht [11] einer, der nur bequeme Sachen sagte, er war keiner, der Angst hatte auf ewigen Strom das zu verkünden, was zu verkünden ist.
Aber im letzten war er fasziniert davon, daß im Grunde der erlöste Mensch ein freier, ein froher Mensch ist und das, was der Bischof zu bringen hat – auch und gerade mitten in der Verfolgung, mitten im Krieg, mitten in den Spannungen des Jahres 1943 – eine Freude ist, die den Menschen nicht genommen werden kann. Dieses Leben aus einer Quelle, die nicht genommen, nicht erstickt und nicht ausgetrocknet werden kann, dieses Leben aus einer Quelle, die einfach eine Freude, eine Freiheit, ein Ja-Sagen zum Leben gibt, das prägt ihn. Und diese ganz kreatürliche Lebenslust, die ihm eigen war, diese gläubige Lebenslust des Gotteskindes wollte er ausstrahlen, wollte er mitteilen. Ich brauche gar nicht zu sagen, was das mir sagt. Dies ist eine Predigt für mich: Bringer der Freude sein.
Aber das geht eben nicht, wenn ich zugleich jener bin, der Trost im Leid spendet, Tröster ist im Leid, Menschen tröstet. Trösten kann aber nur derjenige, der das Leid des anderen heranläßt und zuläßt zu sich selbst; heilen kann ich nur die Wunde, die ich zuerst in mir selbst geheilt habe, denn Trösten ist alles andere als Vertrösten. Johannes Joseph van der Velden wußte, warum Menschen traurig sind. Er wußte, was sie belastet, er hat gesehen, was Not war, und er hat dann unkonventionell Menschen zu sich gerufen und hat mit ihnen gesprochen, hat ihnen etwas gegeben und hat ihnen geholfen, hat entschieden und hat die Situation gewendet.
Er hat getröstet, weil er spontan war und sich eins machen konnte mit der Not des anderen, um dann einen Weg in die Hoffnung und in die Zukunft zu führen.
Tröster im Leid, das heißt also: Ich soll nicht die Nöte der Zeit, nicht die Fragen der Menschen, nicht die Abgründe und nicht die Probleme hinweg debattieren und hinwegdiskutieren, hinwegschelten und hinweganalysieren, sondern ich soll trösten. Trösten, weil die Wunden, die im anderen sind, meine Wunden geworden sind und weil ich sie so heilen kann. Erneut ein Wink von Johannes Joseph van der Velden, von seiner Art Seelsorger zu sein, an mich und an uns, an den Nach-Nachfolger und an die Nachfolgegemeinde, an die Gemeinde, [12] die in seiner Spur geht.
Führer zur Ewigkeit: Dieses Wort „Führer“ hatte damals einen schrecklichen Klang, aber er hat sich nicht geniert, dieses Wort zu wiederholen, denn er hat ihm einen anderen Sinn gegeben. Bischof van der Velden hat nicht auf Führung verzichtet, aber er hat eine andere Führung gemeint als jene, die Menschen in den Fanatismus reißt. Seine Führung ist die Führung in die Ewigkeit, die Führung in das hinein, was dem Menschen an sich verborgen und entzogen ist. Führen kann einer nur, wenn er weiß, wohin es geht; Führen kann nur einer, wenn er das Ziel bereits in sich hat, sonst tappt er irgendwo und sucht. Johannes Joseph van der Velden war ein Führer zur Ewigkeit. Immer und immer wieder hat er, der den Nöten der Menschen so nah war, der die soziale Frage so ernst nahm, der die Erziehung, die Mission, die Priesterausbildung und alle diese sehr weltbezogenen Aufgaben des Priestertums ernst nahm, gewußt, daß es letztlich doch darum geht, dorthin zu führen, wo Welt und Geschichte aus Eigenem nicht kommen können: in das Mysterium des lebendigen Gottes. Dorthin geht die Reise.
Und letztlich muß ich – auch wenn es harmlos klingt – von diesem Letzten und Ewigen sprechen, daran muß sich alles andere relativieren, von dort aus muß ich die Kraft schöpfen, damit auch die irdischen, die diesseitigen, die geschichtlichen Probleme gelöst werden und angegangen werden können, ohne Furcht und ohne Zaudern: aus dieser Verantwortung um die Ewigkeit. Auch dies eine Predigt von Johannes Joseph van der Velden an mich, an uns. Es bleibt aktuell, in einer freudlosen, manchmal resignativen, öden und grauen Woche, Bringer der Freude zu sein; es bleibt dabei, die Nöte, die Fragen, die Sorgen auch das Resignative und Graue ernst zu nehmen und Tröster im Leid zu sein; und es geht darum [13] hinzuführen und hinzulenken zur Ewigkeit.
Ganz ehrlich könnte ich hier jedoch nicht Amen sagen. Zwar glaube ich daran, daß auch heute die drei Tätigkeiten ganz wichtig sind: Freude bringen, Trost spenden, zur Ewigkeit führen. Aber ich glaube auch, daß heute der Schwerpunkt nicht auf dem Priester und dem Bischof liegen darf, sondern auf der Gemeinde, daß sie einander dies zu schenken haben, einer dem anderen Bringer der Freude sein, einer dem anderen Tröster sein, einer dem anderen Weg geleiten zum ewigen Leben und ich als Bischof mitten unter und mitten dabei. Ist dann der Priester und Bischof überflüssig, sind sie dann nicht mehr notwendig? Ich glaube doch, ja gerade und erst recht.
Kardinal Ratzinger hat bei seiner Eröffnungsrede zur letzten Bischofssynode über den Priester gesagt: „Das ganze Volk Gottes ist priesterliches Gottesvolk. Damit aber ihm dieser priesterliche Dienst möglich werde, braucht es solche, die das Priestertum des Volkes Gottes wachhalten, und dazu hat der Herr die Priester und Bischöfe geschickt.“ Der Bischof und der Priester ist also dazu da, daß die Menschen einander Trost spenden, Freude erschließen und den Weg zum lebendigen Herrn zeigen. Das ist nicht weniger Verantwortung, sondern eine andere! Eine Verantwortung, die aber viel leichter geht, wenn man dabei Ausschau halten darf auf einen, der einem vorangegangen ist und beim lebendigen Herrn lebt.
Jeden Morgen, wenn ich von meinem Schlafzimmer und Studierzimmer in die Halle des Bischofshauses heruntersteige, schaut mich das Portrait von Johannes Joseph van der Velden an. Und es tröstet mich und ermutigt mich und sagt: Hab Mut, sei ein Kind, greif zum Kreuz und so wird es dir gelingen, daß alle miteinander Zeugen der Freude, Zeugen des Trostes, Zeugen des ewigen Lebens werden. Amen.