Dein Herz an Gottes Ohr
[44] Beten heißt: wohnen in Gott
Wir lächelten als Oberprimaner über den zweifellos sehr gutwilligen und eifrigen Lehrer, der die Idee hatte, wir sollten morgens beim Eintritt in die Schule an ihm vorbeigehen und, jeder einzelne, ihm ins Auge schauen. Personale Beziehung ist wunderbar, aber sie läßt sich eben nicht „herstellen“.
Es gibt nicht nur die Erfahrung eines Sartre, der sich vom „Auge Gottes“, das ihn überall aufspürte, durchbohrt und verfolgt fühlte, es gibt auch und vermutlich noch viel häufiger die andere Erfahrung, daß dieses Auge Gottes wie stumpf erscheint, unsern Blick nicht in das Herz Gottes hineinzieht und unser Herz nicht trifft, entzündet, ins vertraute Gespräch hinein „abholt“.
Es ist gut, dann zu wissen, daß es auf Gefühle und Erfahrungen nicht ankommt, sondern daß Gott da ist und unsere schlichte Bereitschaft, vor ihm dazusein, annimmt. Das nüchterne, ja sogar das trockene Gebet in der herben Treue des Durchhaltens ist kostbar, ist oftmals kostbarer als das „getröstete“ Gebet, das die Versuchung mit sich bringt, mehr die Tröstung zu suchen als den, der tröstet.
Und doch, das nicht treffende und weckende Auge Gottes, die nicht aufspringende Schale unseres Herzens – das kann quälen und beirren.
[45] Aber vielleicht ist Trockenheit oder Trost nicht einmal die entscheidende Frage. Das Auge Gottes kann auf noch andere Weise zum Problem für unser Beten werden. Auch wenn unser Glaube durchaus den lebendigen, unmittelbaren, göttlichen Gott sucht und nicht ihn heimlich ersetzt durch das Gedankenkonstrukt eines fernen Weltarchitekten oder eines undeutlichen Weltgesetzes oder Weltgeheimnisses, kann es eine rational kaum aufklärbare Not geben, die sich scheut oder besser: die einfach den Ansatz nicht findet, so auf du und du diesen Gott anzusprechen. Er ist da, er gehört zu unserem Lebensraum, aber – ich greife auf den Anfang zurück – ihm ins Auge zu schauen, das gelingt einfach nicht. Wir artikulieren uns im Gebet, wir ahnen auch, daß er uns etwas sagen will, aber diese beiden Linien gehen sozusagen in der Schräge am Antlitz des je anderen vorbei, rasten nicht ein in jenem inneren Zentrum, das unmittelbare Beziehung hinüber und herüber stiftet; zumindest wird solche Beziehung nicht ergreifbar, dringt sie nicht unmittelbar in unser Leben ein.
Ich glaube, daß hier indessen nichts verbaut und verwirkt ist. Es wäre aber auch zuwenig, uns damit zu vertrösten: Es ist nun einmal so, und der fremde und dennoch in seiner Fremde nahe Gott weiß das und nimmt es an. Dieser Gedanke ist nicht falsch, er muß sogar sein, wir dürfen ihn nicht verdrängen. Aber aller Vermutung nach will Gott uns weiterführen.
Die vielleicht häufigste und in mancher Richtung auch zutreffendste Begriffsbestimmung des Betens lautet: Beten ist sprechen mit Gott. Ebenfalls häufig [46] und ebenfalls zutreffend wird gesagt: Beten heißt die Seele zu Gott erheben. Aber das ist es doch gerade, wir werden oft die Sprachlosigkeit vor Gott nicht los, und oft klebt die Seele uns am Boden, sie läßt sich nicht emporziehen, sie schwingt sich nicht auf. Wie soll ich es machen, mit dir zu reden, ohne daß meine Worte Geschwätz, Routine, rührender Versuch ohne Entsprechung zur handfesten Wirklichkeit meines müde und stumm bleibenden Herzens würden?
Ich gehe da zwei Wege, die in einen dritten münden oder besser, die sich in einem dritten, zugrunde liegenden getragen und geborgen finden. Zunächst: Ich erinnere mich an Augenblicke, Erkenntnisse, Erfahrungen, Grundentscheidungen meines Lebens, in denen ich angerührt wurde von Gott. Vielleicht ging es mir auch damals so, wie es dem Mose erging: Er durfte Gott nicht ins Antlitz schauen, sondern sah nur ihm hinterdrein, als er vorüberzog. Aber dennoch weiß ich: In jenen Augenblicken, Erkenntnissen, Erfahrungen, Grundentscheidungen war er da. Und diese Punkte meines Lebens zählen mehr, auch wenn die Linien darum herum viel mehr ins Auge fallen und diese Punkte wie mit einem Netz überdecken. Ich darf, ich muß, vom inneren Rang dieser Ereignisse her, ihnen treu bleiben. Sie sind „Großtaten Gottes“, die mir eine Pforte eröffneten, und durch diese Pforte kann ich eintreten. Im Rückgriff auf damals kann ich auch jetzt, vielleicht sehr nüchtern, vielleicht mit bebendem, beschämtem Herzen, aber eben doch ehrlich sagen: du. Ich trete durch diese Begegnungen, durch diese Taten Gottes ein in einen Raum, in welchem Gott wohnt – und mein Beten kann geschehen als Wohnen in diesem Raum. Ja, es [47] ist ganz wichtig, daß ich diesen Raum immer wieder betrete, daß ich mich, noch so schwach und unkonzentriert, so befangen und erschöpft, hineinhalte in diesen Raum. Er ist der Raum meines Lebens. Und wenn ich dort verweile, dann werden Gottes Worte wieder sprechend, und mein Sprechen geht, hat Sinn, ich traue ihm zu, daß es Gott etwas sagt, auch wenn mir selbst meine Worte unbeholfen oder fremd oder „uneigentlich“ klingen.
Der zweite Weg liegt nahe beim ersten. Aber die Begegnungen mit Gott, die Taten Gottes, welche da zur Pforte werden in den Raum seines Wohnens und meines Wohnens bei ihm, sie sind nicht aus dem engen Raum meines eigenen Lebens genommen. Ich lebe ja nicht nur mit mir allein. Ich lebe mit Zeugen. Und Zeugnisse gehen unter die Haut, dringen ein, gehören zu mir, sind so real wie das, was ich in mir selber aus mir selber finde oder außer mir betasten und beschauen kann. Was wären wir ohne die Zeugnisse, ohne die Erweiterung unseres eigenen Sicht- und Herzensraumes aus dem Sehen und aus dem Herzen anderer! Und wenn ich die vielen Zeugnisse, die um mich sind, wäge und prüfe, dann geht mir einfach auf: Jene, die von Gott sprechen, weil sie mit Gott sprachen, sagen mir mehr vom Leben, von der Wirklichkeit, vom Menschen, von mir als die anderen. Sie sprechen mir etwas zu, das zu mir selbst gehört. Ich kann mich einlassen in die großen und vielleicht manchmal noch mehr in die kleinen Heiligen. Die verborgenen Glaubenden, die Treuen, die Beter, sie nehmen für mich die Stelle jener Männer ein, welche die Bahre des Gelähmten auf das Dach des Hauses schleppten, in dem Jesus predigte. Und [48] durch sie kann ich sozusagen von oben her einsteigen in seinen Lebensraum; sie helfen mir, bei ihm zu wohnen. Ich spreche dann, getragen von ihnen, angelehnt an ihre Worte, gestützt auf ihr Zeugnis – und lerne mich selbst von ihnen, buchstabiere stammelnd ihre Worte nach, bis daß sie den Klang meines Herzens erhalten.
Beide Wege aber weisen über sich hinaus oder besser: hinter sich zurück in den Weg.
Ja, der Weg und die Tür ist Jesus selbst. Was er vom Vater sagt, wie er zum Vater geht, wie er mich hineinnimmt in sein Gehen zum Vater – das ist es, worauf ich mich verlasse. Ich glaube; ich lebe mit Ihm; sein Wort ist mir maßgebend, und es zur Grundlage meines Lebens nehmend, nehme ich teil an seinem Verhältnis zum Vater. Sein Geist wirkt etwas in meinem Leben, wendet Bedrängnis um in Hoffnung, Angst in Zuversicht, Vorbehalt in Liebe, Flucht in Zuwendung, Nein in Ja. Unvollkommen, bruchstückhaft, immer neu vernebelt von der Wolke des Ich und der scheinbar stärkeren Realitäten, nichtsdestoweniger aber immer wieder sich durchsetzend und als stärker erweisend ist Er da. Und dieses sein Dasein in meinem Leben und mein Dasein in seinem Leben, sein Verhältnis zum Vater, an welchem ich teilhaben darf in seinem Geist, das verdichtet sich am Kreuz.
Da hat er alles von mir und alles von denen neben mir und alles von jenen, die weit weg sind von mir, in sich hineingenommen. In Ihm, in seinem Kreuz, in seinem Schrei der Gottverlassenheit, in seinem Verstummen finde ich alles, was ich überhaupt nur finden kann in mir und in den anderen und in der [49] Welt. Ich finde auch meine Sprachlosigkeit, meine Gottferne, alles. Seine Wunde ist die Tür, in seiner Wunde ist Er die Tür und der Weg. Aufsteigen, das kann ich nicht, wenigstens nicht aus mir selbst. Aber fallen kann ich. Und wenn ich falle, dann falle ich in ihn, ich bin unterfangen von seinem Kreuz und seiner Verlassenheit. Aus ihr bricht der Geist auf; von ihm her, der mich auffängt und trägt, eröffnet sich der Raum; ich bin drinnen im Raum zwischen ihm, dem Gekreuzigten und Verlassenen, und dem Vater in dem Geist, der seiner Wunde entquillt.
Ich weiß, der Gekreuzigte ist auferweckt, der Vater hat ihm durch seinen Geist sein ewiges Leben, unser ewiges Leben in Herrlichkeit verliehen. Aber die Wunde bleibt in der Verklärung, ich bin drinnen, mein Tod und mein Leben, meine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind drinnen in ihm.
Beten heißt: sich fallenlassen in den Sohn und von ihm sich tragen lassen im Geist zum Vater. Beten heißt: sich hineingeben in das Gespräch zwischen Sohn und Vater im Geist, diesem Gespräch beiwohnen, im Sohn zum Vater sprechen können und in ihm aus dem Geist das eigene Herz und das eigene Wort erlernen, auf daß es sich öffne zum Vater.
Dieser Raum des Gebetes ist kein Sonderraum neben dem Leben, sondern ist das Leben. Wo bin ich? In allem, was ich tue und bin, bin ich angenommen von ihm, der für mich Mensch wurde, übernommen von ihm, und wenn er mein Leben so ganz mit mir teilt, dann ist mein Leben drinnen in seiner Beziehung im Geist zum Vater. Das ist mein Lebensraum. Im Glauben an ihn glaube ich im Grunde genau dies – und Gebet wird einfach die Transparenz, die Of- [50] fenheit und Offenbarkeit dieses Raums. Ich bin im Beten erst, wo ich wahrhaft bin.
Aber ist es nicht ein entlegener, hoher, steil aufsteigender Gedanke, ganz weit weg von meiner Sprachlosigkeit, von meinem Nicht-reden-Können zu Gott? Im Gegenteil. Wenn Jesus mir nicht nur Beispiel und Appell ist, sondern Erlöser, Bruder, Sohn Gottes, der mein Menschenleben angenommen hat, wenn ich mich in ihm finde, mein Leben und meine Lasten von ihm geteilt und getragen sind, dann bin ich in meinem Glauben einfach „drinnen“ in ihm. Er aber ist nicht ein Punkt, ein in sich geschlossenes Individuum, sondern er ist dieses Leben vom Vater her und auf den Vater zu. Er ist es nicht nur im „Es war einmal“ seiner Geschichte von damals, sondern er ist dies hier und jetzt, heute, er ist es durch Tod und Auferstehung hindurch. Und so wird mein Leben gerade in seiner Ohnmacht, sich über sich selber hinauszuheben, in seiner Schwäche, von mir aus ins offene Auge Gottes zu schauen, der Anfang des Gebetes. Ich lasse mein Nicht-beten-Können ihm – und in ihm wird es zum Gebet. Ich werde da nicht plötzlich beredt vor Gott, mir werden nicht meine Grenzen und Schwächen hinweggenommen, aber mit ihnen bin ich ge-lassen, drinnen, ich wohne im Haus des Vaters, zwischen Sohn und Vater im Geist. Ich gehe hier sozusagen umher, wende mich da und dort hin, halte mich auf, höre zu, spreche mit. Und vielleicht, ja Schritt um Schritt gewiß werde ich still und entdecke in seinem Wort, daß es das meine ist: Abba, Vater!