Berufung

[44] Zwischenspiel: der appetitus und der Ruf

Das Wort Appetitlosigkeit bringt uns auf eine Fährte. In der scholastischen Lehre vom Menschen spielt der appetitus, das Streben des Menschen, das ihm eingeboren ist, eine entscheidende Rolle. Solcher appetitus, solches Aussein auf das Gute ist dem Menschen vorgegeben, ohne solche Vorgabe ist er nicht frei. Freiheit selbst ist das Offenbarwerden dieses appetitus, dieses Strebens, dieser Vorbestimmtheit vom Guten. Wo sie ankommt bei mir, setzt sie mich in Beziehung zu ihr, will sagen, zum Guten – und darin zu mir als dem, der dieses Gute will. Was immer ich will, das will ich als ein Gut. Freiheit heißt Bestimmtsein vom Guten, und diese Freiheit wächst, je klarer und bewußter ich mich vom Guten bestimmen lasse.

Wir können diese Bestimmung durch das Gute, wir können dieses merkwürdige Verhältnis eines vorgegebenen Appetites, der uns erst die Freiheit gibt, essen zu können, während wir in absoluter Appetitlosigkeit nicht frei wären, essen zu können, in unmittelbare Beziehung setzen zu unserer Bestimmung des Menschen: Menschsein heißt Gerufensein. Das Gute ruft uns, und nur in diesem Ruf, im Ankommen dieses Rufes sind wir frei, zu antworten, und das ist die Würde des Menschen, antworten zu können, verantwortlich zu sein.

Schauen wir das Gute, das uns Appetit macht, das uns ruft, des näheren an. Es legt sich uns, in Weiterführung scholastischer Bestimmungen, dreifach aus. Einmal ist es eben das absolut Anziehende, zu sich hin Rufende, das uns auf den Weg bringt und in uns die beständige Bemühung um Annäherung in allen unseren Vollzügen auslöst. Zum andern gibt es die Bestimmung: bonum diffusivum sui – das Gute ist jenes, was sich selbst verströmt, mitteilt. Wenn ich mich vom Guten anziehen lasse, so werde ich selber gut. Und ich bin [45] gut, sofern ich die Eigenart des mich anziehenden, rufenden, sich mir mitteilenden Guten übernehme und in mich nehme, selber ausstrahlend werde, selber mich mitteile, selber mich über mich hinausgebe, eben gut, gütig, wie ein Licht bin, das sich verstrahlt. Der Richtung nach oben entspricht die Richtung nach unten und außen. Wir können aber noch eine dritte Richtung ausmachen: bonum est communicativum – das Gute ist mitteilsam, verbindend. In dieser Form handelt es sich nicht um einen Satz der scholastischen Tradition, wohl aber erwächst er aus einem hier durchaus zu bemühenden wichtigen Begriff einer auf der Scholastik basierenden Soziallehre, dem Begriff des bonum commune, des Gemeinwohls, des gemeinsamen Guten. Um mein eigenes Wohl, um das Gute in meinem Leben und für mein Leben bin ich wahrhaft nur dann bemüht, wenn ich mich auch mühe um das Wohl des anderen, um das gemeinsame Gute, um das, was den anderen gut ist. Nur jenes Gut ist wahrhaft gemeinsames Gut, Gemeinwohl, das im höchsten Maß das Gute, das Wohl für einen jeden einzelnen gewährleistet; umgekehrt aber findet der einzelne das für ihn wahrhaft Gute nur, indem er auf das Gute für alle, das gemeinsame Gute bedacht ist. Diese in der Bemühung um das Gute, im Appetit des Guten notwendig eingeschlossene Beziehung bezeichnet zusätzlich zur aufsteigenden und absteigenden Linie die Querlinie, die wechselseitige Verbindung, die im Guten entsteht. Das Gute als das Rufende – daraus erwächst die dreifache Rufrichtung: hin zum je größeren Guten, zum absolut Guten, weg von sich selbst, um das Gute mitzuteilen und so gerade gut zu sein, hin zueinander, um das gemeinsame Gute und darin das für jeden einzelnen Gute und somit die Verbindung zu finden, die den einzelnen über sich hinaushebt und dennoch nicht auslöscht. So kehren in einer vom bonum, also vom Guten, und vom appetitus, also vom die Freiheit ermöglichenden und tragenden Streben, her gewonnenen Anthropologie die Grund-[46] richtungen des Rufes wieder. Sinn dieser Zwischenüberlegung: Wir halten uns, den Menschen vom Gerufensein her verstehend, nicht neben den Bestimmungen auf, die uns Menschsein in sich selber, in philosophischer Sicht, verstehbar machen, sondern wir entdecken hier eine innere Entsprechung.

Und des weiteren: Wir entdecken, wie wichtig es ist, daß der Mensch über die Blockade seiner selbst hinauswächst, einerseits sich selbst nicht mehr zu finden, seiner Freiheit verlustig zu gehen im Überdruß und Überdruck der Fremdbestimmung, zum andern aber um so mehr Selbstbestimmung zu suchen. Nur in der Annahme, von einem letzten Guten, von einem absoluten Rufenden bestimmt zu sein, kann er sich selber annehmen und wird in solcher Annahme zu sich selbst befreit. Der Appetitlosigkeit des Daseins oder dem angsthaft fixierten und fixierenden Drang zur bloßen Selbstverwirklichung gegenüber bietet in der Tat eine Anthropologie des Rufes eine befreiende Alternative. Du bist nicht nur Knäuel von Zufälligkeiten, du bist nicht nur der zu diesem oder jenem Leben Verurteilte, du bist nicht nur glücklich unter der Bedingung, daß du dies oder jenes um jeden Preis erreichst; nein, du bist gerufen, gewollt, geliebt – und wo dies bei dir ankommt, da wirst du frei, denn frei sein heißt, frei sein zu antworten. Den Ruf finden und die Antwort finden, das heißt die Freiheit finden, das heißt sein eigenes Menschsein finden.