Zum Tod von Bischof Hemmerle

[1] Seit letztem Sonntag gehen unsere Gedanken immer wieder zu unserem toten Bischof. Es sind Gedanken der Traurigkeit, der Betroffenheit, der Dankbarkeit.
Wie bei jedem Menschen, den der Tod so früh von uns nimmt, fragen wir: warum? Aber darauf bekommen wir keine Antwort.
Um den Bischof selber müssen wir nicht trauern.
Sein Leben hat am vergangenen Sonntag eine Erfüllung erfahren, die alles Begreifen übersteigt. Seit acht Tagen ist sein Leben das reine Glück.
Um uns trauern wir. Wir sind ärmer geworden.
Achtzehn Jahre war er unser Bischof. Und bis zum letzten Jahr haben wir – ohne viel nachzudenken – doch geglaubt, er würde es auch noch lange bleiben. Wir hatten uns an ihn gewöhnt, wie man sich auch an das Beste gewöhnen kann.
Als er im vergangenen Herbst nach Operation, Krankenhaus und Erholungsurlaub wieder da war, schien es, als ob der Krebs noch einmal aufzuhalten sei. In diesen Januarwochen erfolgte der Zusammenbruch der Kräfte schnell.
Indem er uns genommen ist, spüren wir, was uns in ihm gegeben war. Und so manchem sind in diesen Tagen die Worte von Hans Carossa durch den Kopf gegangen: „Was einer ist, was einer war, beim Scheiden wird es offenbar. Wir hören‘s nicht, wenn Gottes Weise summt. Wir schaudern erst, wenn sie verstummt.“ Weil unsere Gedanken jetzt bei ihm sind, möchte ich auch heute über nichts anderes sprechen.
Meine erste und meine letzte Begegnung mit ihm werde ich nie vergessen.
Das war kurz nach seiner Bischofsweihe. Er hatte eine schwere Entscheidung zu treffen: im Bistum gab es zwei Internate, das Haus in Dülken und das Haus Eich in Aachen, das ich leitete. Seit Gründung dieser Häuser hatte sich die Schullandschaft gründlich verändert, es gab jetzt vielerorts Gymnasien, und wo keins war, fuhr ein Schulbus. Zwei Internate, die aus sozialen Gründen zu zwei Dritteln von der Kirche getragen wurden, waren nicht zu halten. Eins mußte als Internat aufgegeben werden. Diese Entscheidung traf der Bischof nicht allein – oder mit seinen führenden Mitarbeitern im Generalvikariat. Er lud auch uns zwei Internatsleiter zu dem entscheidenden Gespräch ein. Die Entscheidung fiel so, daß Haus Eich in eine Jugendbildungsstätte umgewandelt werden sollte.
[2] Die Entscheidung konnte ich mittragen – aber leicht war mir das nicht. Fairerweise bekamen die Eltern zweieinhalb Jahre Zeit, sich für ihre Kinder neu zu orientieren. –
Dann mußte ich die Runde beim Bischof verlassen, denn in Haus Eich begann die Nikolausfeier. Sagen durfte ich noch keinem was. Der Bischof brachte mich an die Tür, gab mir die Hand, schaute mich an, und dann sagte er zu mir: „Was tue ich Ihnen persönlich heute abend an!“ Da war ich nicht mehr allein. Das hat mir sehr geholfen.
So ein Mensch war das. – Die letzte Begegnung mit ihm war vor zwei Wochen. Er hatte den Priesterrat in sein Haus gebeten. Wir waren alle erschrocken, wie stark die Krankheit ihn gezeichnet hatte.
Er sagte uns an dem Montagnachmittag: „Bald werden mir die Ärzte sagen, was ich zu erwarten habe: zum Beispiel, ob ich mein Amt noch eine Weile ausüben kann. Wenn meine Kräfte zu stark reduziert sind, werde ich mein Amt aufgeben, ich will keine halben Sachen – und keiner soll glauben, es ginge nicht ohne ihn. Wenn ich mein Amt aufgebe, könnte ich noch spirituell tätig sein – ich stehe in Verbindung mit 700 Bischöfen in der ganzen Welt. Oder“, sagte er, „die dritte Möglichkeit: Gott sagt mir: ‚Du hast so viele Jahre über mich gesprochen und von mir geschrieben. Jetzt komm – und schau‘ dir alles aus der Nähe an.‘“ Dann hat er uns gesegnet.
Ich ging traurig nach Hause. Aber nicht ohne Trost. Ich hatte einen Menschen gesehen, der sein Leben losgelassen hatte – ohne Angst und wunderbar frei.
Am Sonntag vor seinem Sterbetag war im Evangelium von den beiden Johannes-Jüngern die Rede, die Jesus nachgingen. Jesus merkte das, blieb stehen, ließ die beiden zu sich herankommen und fragte sie: „Was sucht ihr?“ Die beiden – ein wenig verlegen – fragten zurück: „Wo wohnst du?“ Und er: „Kommt und seht.“ Da gingen sie mit und blieben den Tag bei ihm.
An seinem Sterbetag hieß es im Evangelium: „Die Zeit ist erfüllt.“ Sie war es für ihn. Und der Herr sagte es nun zu ihm: „Komm und sieh.“ Da ging er mit und blieb für immer bei ihm.
Als er sich zum Professor habilitierte, schrieb er seine Arbeit über das Thema „Gott und das Denken in der Spätphilosophie Schellings“. Gott und das Denken – das blieb sein Thema.
[3] Glauben und Denken – das wußte er zu verbinden: kompetent und glaubwürdig. Auch wenn uns gelegentlich ein wenig schwindelig wurde, wenn wir ihm in die Höhen der Gedanken folgten. Ihm war eine Schnelligkeit und Treffsicherheit des Denkens gegeben und eine Leichtigkeit des Formulierens – die man nur bestaunen konnte. Ein Mensch, dem solche Talente gegeben sind, wie leicht kommt der in Versuchung, es auch wissen zu wollen, wer er ist, und was er kann. So war er nicht. Bescheidener konnte keiner sein. Er liebte die leisen Töne. Und vielleicht war seine Wirkung auf andere deshalb so groß, weil er gar nicht darauf aus war. Er wollte nicht herrschen, weder durch die Macht seines Amtes noch durch die Kraft seiner Persönlichkeit. Er wollte nicht siegen. Er wollte versöhnen, und er wollte überzeugen. Und es muß ihn viel gekostet haben, wie schwer wir manchmal im Begreifen gewesen sind. Von seinen vielen Fastenhirtenbriefen war der von 1989 der wichtigste.
„Nicht ich habe Ihnen jetzt etwas zu sagen“, so fing er an, „sondern ich bitte Sie um Ihren Rat. Wie geht es weiter in den Gemeinden? Was sollen wir tun?“
Es war der Brief über die „Weggemeinschaft“. Viele hundert Briefe hat er damals bekommen. Viele haben ihm geschrieben, was Rom tun soll. Davon ist auch durch ihn manches nach Rom gelangt. Ungeduldig warteten viele auf die Wirkung dieser Vorschläge. Aber auch in der Geduld war er uns manches voraus. Unbeirrt blieb er bei der Frage: was sollen wir tun?
Wer diesen Fastenhirtenbrief 89 über die Weggemeinschaft heute – nach fünf Jahren – noch einmal liest, der liest ihn anders. Der spürt, welch langen Atem der haben muß, der damit ernst macht. Er hat uns das als Vermächtnis hinterlassen. Hier ist ein Weg gewiesen. Gegangen werden muß er noch. Es war seine ganze Hoffnung, daß wir das verstehen. So groß seine intellektuelle Begabung war – alles Wichtige konnte er ganz einfach sagen. Einfach wie ein Butterbrot. So in seinem Weihnachtsbrief 1989. Da schrieb der Bischof:
„Ich möchte es wagen, das Geheimnis der Menschwerdung Gottes in der Kindlichkeit eines Bildes so auszudrücken: Gott fragte den Menschen: ‚Wie geht es dir?‘ Und um es genau zu sehen, kam er persönlich dorthin, wo der Mensch ist. Er sagte zum Menschen: ‚Ich bleibe da, ich werde wie du. Ich werde Mensch. Ich gehe mit dir bis in den Tod und durch den Tod bis zum Leben.
[4] So geht es dir gut.‘“
Gott fragt den Menschen: „Wie geht es dir?“ Wenn von den vielen Äußerungen des Bischofs in Predigten, Briefen und seinen dreißig Büchern nichts anderes erhalten wäre als dieser Satz – es würde genügen, um von ihm alles zu wissen .
Da zeigte er sein Herz, das sich so oft und so gern den Menschen zugewandt hat, das den anderen wichtiger nahm als sich selbst. Wenn Paulus einmal die Menschwerdung Gottes so beschreibt: „Erschienen ist die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes“ – dann kann man diesen Satz auch über das Leben von Bischof Hemmerle schreiben: „Erschienen ist die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes“.
Das Wunderbare an seiner Menschenführung war, er ließ die Menschen leben. Er engte nicht ein, er erwartete nicht, daß seine Art die alleinige Art war.
Bei ihm konnte man frei atmen. Manche hätten sich gewünscht, er solle strenger durchgreifen. Man kann aber nicht gleichzeitig die Menschen maßschneidern und sie leben lassen. Er ließ sie leben. Nicht aus Schwäche – sondern aus der Kraft seines Herzens. Mit Menschen, die er in einer Krise wußte, ging er so um, daß seine Langmut, seine Bereitschaft zu verstehen, ihm von Unduldsamen manche Vorwürfe einbrachten. Er wollte aber ein geknicktes Rohr nicht brechen, er wollte einen glimmenden Docht nicht ausdrücken.
Und wie der Gärtner in Jesu Gleichnis wollte er den Boden um den Baum, der schon drei Jahre keine Frucht brachte, noch einmal umgraben. Vielleicht, sicher ist das nie, bringt er dann Frucht. So ein Mensch war das.
Erst jetzt wird mir so richtig bewußt, wie sehr ich mich ihm in all den Jahren anvertraut habe und wie sehr ich mit meinem Glauben, mit meiner Arbeit bei ihm aufgehoben und geborgen war. Vor einigen Jahren hielten wir im Priesterrat eine Klausurtagung mit ihm. Wir sollten sagen, was uns in der Kirche Mut macht und was uns bedrückt. „Sprechen Sie ganz frei“, sagte er uns. Und dann folgte eine Stunde, die ich nie vergesse. In einem Vertrauen und einer unbefangenen Offenheit ließen alle ihr Herz sprechen. Und aus jedem einzelnen sprachen viele Menschen. Er war sehr bewegt. Und als er dann sprach, war [er] nicht ein Amtsträger, da sprach ein Bruder zu seinen Geschwistern.
[5] Beim Requiem im Aachener Dom gestern morgen passierte etwas Ungewöhnliches. Ungewöhnlich für eine Totenmesse.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Lehmann, sagte gegen Ende seiner Predigt, er sei gewiß, daß mit Klaus Hemmerle ein heiligmäßiger Mensch unter uns gelebt habe. Und er fügte hinzu: „Wenn es einer noch nicht bemerkt hat, dann ist es dafür nicht zu spät.“ Da brandete ein langer Beifall durch den Dom.
Dieser Tage schrieb mir ein Mann aus unserer Gemeinde: „Es war ein Geschenk, ihn zu kennen.“