Predigt von Bischof Dr. Helmut Dieser beim Jahrgedächtnis zum 27. Todestag von Bischof Klaus Hemmerle im Hohen Dom zu Aachen

Liebe Mitbrüder im geistlichen Amt, liebe Gäste beim Jahresgedächtnis für Bischof Klaus, liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

in diesem Jahr steht das Jahresgedächtnis für Bischof Klaus unter einem anderen Vorzeichen als in den vergangenen 27 Jahren seit seinem Tod. Das kommt durch das Gutachten über den sexuellen Missbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen in unserem Bistum, das im vergangenen November veröffentlicht wurde.

Darin wird auch die Amtszeit von Bischof Klaus vollumfänglich untersucht und begutachtet. Jede und jeder kann das lesen. Die Gutachter äußern Unverständnis und harte Kritik daran, wie Bischof Klaus sich in den untersuchten Fallbeispielen verhalten und wie er seine Verantwortung als Bischof wahrgenommen hat. Sie weisen aber auch auf Zeugnisse über ihn und von ihm hin, die ihn in ihren Augen entlasten.

Vor dieser so schwierigen Ausgangslage habe ich mich in diesem Jahr dazu entschieden, hier in seinem Jahresgedächtnis nicht über Bischof Klaus zu sprechen, sondern mit ihm. Dazu helfen mir Aussagen von ihm, auf die ich gestoßen bin, als ich selbst nach Zeugnissen von ihm suchte. Ich bin hängen geblieben bei seiner Allerseelenpredigt aus dem Jahr 1989. Auch sie ist als Tonaufnahme öffentlich zugänglich auf der Website www.klaus-hemmerle.de

In dieser Predigt sagt Bischof Klaus: „Wir können mit unseren Toten leben. Sie sind ja nicht weg vom Fenster, sondern durch das Fenster hindurchgegangen in das Leben bei und mit Jesus. Wir können mit den Toten leben. So nehmen wir Jesus ernst, der vom Tod in das Leben hinübergegangen ist. Es gibt diese lebendige Gemeinschaft mit den Toten, weil alle in dem sind, der lebt.“ 1

Also jetzt, heute, 27 Jahre nach seinem Tod, mein erster eigener Versuch, mit Bischof Klaus zu sprechen:

Lieber Bischof Klaus,

1929 wurdest du geboren. Du gehörst zum selben Jahrgang wie mein Vater und also zur Generation meiner Eltern.

Und so habe ich es immer empfunden: ich bin ein Nachfahr, ein Nachkommender nach dir. Ich stehe wie schon Bischof Heinrich vor mir auf deinen Schultern.

Zu deinen Lebzeiten sind wir uns nie persönlich begegnet. Immer habe ich aus der Ferne deinen großen Namen gehört. Und dabei gespürt: Du bist mir in so unsagbar Vielem so uneinholbar weit voraus. Und das hat sich bis heute nicht geändert: Je mehr ich mich einlasse auf die Zeugnisse deines überragenden Geistes und deines so lebendig gelebten Lebens, desto mehr spüre ich den Abstand.

Ich habe also immer weiter Grund, hochzusehen an dir. Denn meine Gefäße sind kleiner als deine. Ich kann weder so viel auf einmal in der Tiefe schöpfen und zu anderen hintragen wie du, noch kann ich so weit aus holen und so vielfältige Kontakte und treue Beziehungen pflegen, wie du es getan hast.

Alle, die dich lebendig kannten, bestätigen mir das.

Sie sind voll Bewunderung für dich, ja man spürt, sie haben dich geliebt, und sietun es noch immer.

Liebe deckt viele Sünden zu, sagt die Heilige Schrift (vgl. 1 Petr 4, 8). Um so schwerer und bitterer ist es darum, dass in unserer Zeit zum ersten Mal ein schwerer dunkler Schatten auf dich und dein Andenken fällt.

In deiner Amtszeit haben in unserem geliebten Bistum Aachen Priester, deren Bischof du warst, Kinder missbraucht.

Wie ist es dir ergangen, als du davon erfuhrst?

Musstest du aus einem Schlaf geweckt werden wie Jesus im Boot auf dem See?

Wolltest du aufspringen und dem Sturm drohen und befehlen, er solle sofort auf hören mit seinem zerstörerischen Werk?

Gerne würden wir dich heute so sehen - als der Bischof und Hirte, der die Kleinsten und Schwächsten entschlossen und tatkräftig schützt vor den Verbrechen, von denen sie gezeichnet sind bis heute.

Doch wir haben kein solches eindeutiges und strahlendes Zeugnis von dir. Wir wissen nicht, was in deiner Seele geschah.

Ich selbst frage mich: Hätte ich zu deiner Zeit unter den Umständen damals die Kraft gehabt, anders zu handeln?

1989, in deiner Predigt zum Allerseelentag, änderst du deine ursprüngliche Predigtidee und sprichst gezielt zu den Domsingknaben.

Du erklärst warum und sagst, dass sie etwas verstehen sollen vom Geheimnis des Todes und davon, dass sich das Sterben verändert hat, weil Jesus gekommen ist. Du erzählst den Kindern von damals, dass du selbst als Kind immer eine solche Angst davor hattest, dass etwas Schönes und Ganzes kaputtgehen könnte.

Zum Beispiel wenn in dieser Jahreszeit über Nacht Schnee gefallen war. Dann hattest du morgens beim Weg in die Schule eine seltsame Furcht davor, das geschlossene und ganze Weiß des Schnees zu zerstören durch deine eigenen ersten Fußstapfen.

Lieber Bischof Klaus, wenn das wahr ist, wie muss dann dein Herz empfunden und gelitten haben, weil Kinder in ihrer Reinheit und Ganzheit missbraucht und zerstört wurden!?

Fühltest du dich dem gegenüber ohnmächtig? Hilflos? Überfordert?

Warum warst du nachsichtig mit den Tätern?

Heute wissen wir: Es war falsch, ihnen zu trauen, sie würden nicht mehr rückfällig. Doch, sie wurden es! Sie haben es wieder getan. Weitere Kinder wurden zusätzlich zu ihren Opfern.

Ein hartes entschiedenes Wort von dir hätte das verhindern können, verhindern müssen!

Als Abraham seinen minderjährigen Sohn Isaak darbringen wollte, hat Gott selbst das verhindert. Dieses Opfer wollte Gott nicht.

Niemals soll der Mensch dem Menschen zum Opfer fallen!

Das ist das Sinnbild des Isaak, wie die Schrift sagt.

Und doch versündigen wir Menschen uns gegen dieses Sinnbild.

Die Täter zumeist, aber auch alle, die ihre Verbrechen vertuschen und nicht ein greifen, so dass sie wieder und wieder geschehen.

Das ist der Abgrund des Bösen, den keiner von uns verharmlosen darf und dem kein sterblicher Mensch aus eigenen Kräften entkommen kann. Lieber Bischof Klaus, auch du musstest zeitlebens mit dem Bösen kämpfen. Auch du hast seine Bedrohlichkeit gespürt und hattest darunter zu leiden, wenn du versagt hast.

Auch du bist in deinem Leben unzählige Male zur Heiligen Beichte gegangen und hast die Barmherzigkeit Jesu gesucht und erfahren.

Den Kindern von 1989 sagtest du am Allerseelentag: Mir ist das wichtig für euch, dass ihr mit den schönen und ganzen Dingen im Leben behutsam umgeht, dass ihr sie nicht vorschnell wegwerft, sondern sie bewahrt. Und weiter sagst du ihnen: Ein Mensch aber, der lebt und ein Herz hat und Augen, die mich ansehen, mitdem ich reden kann, der in Beziehung mit mir steht und in dem eine Seele lebt, der kann nicht einfach kaputt gehen, auch im Tod nicht.

Denn wenn ich zu Gott Vater sagen darf, wenn ich zu Jesus gehöre, der für mich gestorben und auferstanden ist, dann wird Gott mich auch ganz in seine Liebe hineinnehmen.

Darin liegt deine tiefe Hoffnung, lieber Bischof Klaus, dass der Tod den Menschen nicht einfach kaputtmacht. Und ich übertrage diese deine Hoffnung heute auch auf die Betroffenen der sexuellen Gewalt: Sie nennen sich ja nicht umsonst die Überlebenden des Missbrauchs. Sie kämpfen um ihr Leben. Sie kämpfen um ihre Hoffnung. Sie warten darauf, dass einer sagt: Ich trage die Verantwortung. Ich bitte um Entschuldigung.

Sie sehnen sich für ihre Seele nach dieser Ganzheit und Schönheit wie bei einer weißen geschlossenen Schneedecke, und nur unser Herr allein kann sie ihnen wieder neu schenken.

Doch das geschieht und gelingt nicht ohne den Schmerz. Und der Schmerz kommt von der Wahrheit.

Wie oft hast du, Bischof Klaus, davon gesprochen, dass der Mensch fähig ist, den anderen Menschen in seine eigene Seele hineinzunehmen, auch wenn sich beide nicht verstehen, wenn Konflikte nicht auflösbar sind. Immer war es dir wichtig, dass wir zur Beziehung fähig werden und den anderen als anderen in uns tragen. Nur so kann entstehen, was dein größtes Leitwort war im Leben: die Einheit aller.

Alle sollen eins sein, damit die Welt glaubt, das war dein bischöfliches Leitwort.

Deshalb, Bischof Klaus, habe ich heute den Mut, so offen mit dir zu sprechen, dir den Schmerz, den unsäglichen Schmerz der Betroffenen zuzumuten.

Mit den Kindern von 1989 denkst du darüber nach, wie es wohl wäre, jetzt in diesem Augenblick sterben und ganz und für immer vor Jesus hintreten zu müssen: Du sagst: „Dann schaut er euch an und schaut euch in den Grund eures Herzens, und wahrscheinlich findet ihr das ein oder andere, wo du sagst: Das tut mir aber leid, Jesus, nein, das passt nicht zu dir, das habe ich nicht gemacht. Und das wäre dann ein tiefer Schmerz, weil er dich in ganz großer Liebe anschaut. Und du müsstest durch diesen Schmerz gehen, um dann von ihm zu hören: Es ist doch gut. Ich habe dich so lieb, dass ich dich auch mit deinen Fehlern angenommen habe, und jetzt kannst du mir wieder ganz offen in die Augen schauen.“

So erklärst du den Kindern das Fegefeuer - als ein reinigendes Feuer, das durch den Blick Jesu kommt.

Lieber Bischof Klaus, wie sehr tröstet uns heute dein christlicher Glaube, den du verkündet hast. Zum Ende deines Lebens hin hast du Menschen besucht, die den sexuellen Missbrauch erlitten haben, und dich ihrem ganzen Schmerz gestellt, ihnen Hilfe angeboten. Dafür wurdest du damals sogar kritisiert und nicht verstanden.

Deine irdischen Kräfte waren schon am Schwinden, als du erkanntest, welche große Not über die Kirche kommen würde wegen dieser schrecklichen Verbrechen von Priestern und anderen gerade an den Kindern.

Ich glaube: Du bist in deinem Tod Jesus begegnet und hast dich Jesu Blick gestellt. Und in diesem Blick hast du auch die Kinder gesehen, die vergewaltigt wurden. Und alle, die an der Kirche irre werden, weil sie so viel Schuld mit sich trägt.

Du hast in Jesus auch ihrer aller Schmerz gespürt wie deinen eigenen. Und durch diesen Schmerz hindurch kann Jesu Blick dich heilen, dir verzeihen, was du versäumt hast, dich fähig machen, um Vergebung zu bitten bei denen, die dir verzeihen müssen.

Nur so kann die Einheit kommen, in der die Menschen nicht mehr Opfer und Täter und Mitverantwortliche sind, sondern alle Versöhnte und Geheilte.

Lieber Bischof Klaus, am Ende danke ich dir, dass ich so mir dir reden durfte.

Und die Zeugnisse von dir und über dich machen mir auch Mut, dich aufrichtig zu bitten: Um Jesu Liebe willen hilf uns vom Himmel her, heute für die Betroffenen da zu sein, damit alle eins seien und die Welt glaubt.

Amen.


  1. Die Auszüge aus der Allerseelenpredigt 1989 in dieser Predigt sind hier und im folgenden aus der Audiodatei sinngemäß verschriftlicht. ↩︎