Linien des Lebens
[45] Seine Stunde, unsere Stunde
Zwei gegensätzliche Grunderfahrungen kreuzen sich in unserem Verhältnis zur Zeit. Wir sind abhängig von der Zeit, können nicht über sie verfügen – die Zeit ist abhängig von uns, wir verfügen über sie.
Zu unserer neuzeitlichen Kultur gehört es, daß der Mensch die Natur, die Verhältnisse des Seins zu durchschauen und zu rekonstruieren versucht, um im Umgang mit den Dingen immer weniger abhängig zu werden von Bedingungen, die nicht vom Planen des Menschen selber gesetzt sind. Der Gedanke einer dem Menschen gesetzten Stunde, einer handelnden und verwandelnden Vorsehung Gottes, die unsere Geschichte begleitet, rückt immer weiter in den Hintergrund.
Allerdings stößt gerade so der Mensch nicht weniger auf Fremdbestimmung in seiner Zeit. Denn eigene Zeit bestimmend, bestimmt er Zeit anderer mit, wird von dem, was andere mit ihrer Zeit tun, in seiner Zeit betroffen. Mit seinen wachsenden Möglichkeiten gelingt es ihm nicht, Friede, Gerechtigkeit, Anteil aller an den Gütern dieser Erde, ökologisches Gleichgewicht in der Natur zu gewährleisten. Einerseits aufgerufen zur universalen Sinngebung, ist er [46] andererseits immer tiefer angefragt von dem Verdacht einer letzten Sinnlosigkeit, die er mit seinem Planen und Machen nicht zu wenden vermag.
Und weiter: Wer darauf angelegt ist, sich selbst zu befreien von Faktoren seines Umgangs mit der Zeit, die nicht vom eigenen Willen gesteuert sind, wähnt sich unwillkürlich im Recht, mit seiner Zeit anfangen zu können, was er will. Steht der Mensch so aber nicht in Gefahr, zum Sklaven seiner Laune und der Laune anderer zu werden? Wird ihm seine Geschichte und die Geschichte der Welt nicht zum Supermarkt mit endlosen Regalen angebrochener Verpackungen versuchten Glücks?
Es ist nicht leicht, mit seinen eigenen Erwartungen umzugehen, sie redlich aufzudecken und in ihrem Widerstreit eine stimmige und verantwortliche Entscheidung darüber zu fällen: Wie stehe ich zu meiner Zeit, wie gehe ich mit meiner Zeit um?
Wenn ich in diesem Zusammenhang das zu bedenken gebe, was das Johannesevangelium über die „Stunde“ zu sagen hat, dann verstehe ich dies nicht als das Angebot einer Formel, die uns die komplexen Fragen abnimmt, die es hier zu lösen gilt. Doch wir entdecken eine Alternative zu den beiden entgegengesetzten Tendenzen, die wir anfangs bereits anmerkten: Der Mensch verfügt über die Zeit – die Zeit verfügt über den Menschen.
[47] Die Stunde ist bei Johannes ein zentrales Thema. Ich kann nur knappe Hinweise geben. Bei seinem ersten Wunder, der Verwandlung von Wasser in Wein in Kana, macht Jesus bereits deutlich, daß dieses hoheitliche offenbarende Handeln nicht eine Gefälligkeitsgeste gegenüber seiner Mutter ist, sondern bestimmt wird von seiner „Stunde“ (vgl. Joh 2,4). Auch sein Gehen zum Fest in Jerusalem macht Jesus nicht abhängig von seinem Mögen oder Nichtmögen, sondern vom Achten auf die Stunde (vgl. Joh 7,6.8). Beim Einzug in Jerusalem vor seinem Leiden entdeckt Jesus, daß er nun in die entscheidende Stunde eintritt. Menschlich drängt es ihn, vor dieser Stunde auszuweichen, aber er sagt ja: Dazu ist er in diese Stunde gekommen (vgl. Joh 12,23).
Dies verdichtet sich in den Kapiteln 13 bis 17, die in der johanneischen Darstellung des Gründonnerstags thematisch ausbreiten, was Karfreitag und Ostern bedeuten. Jesus handelt im ausdrücklichen Wissen darum, daß die Stunde seines Hinübergangs aus dieser Welt zum Vater gekommen ist (vgl. Joh 13,1). Und das abschließende Gebet Jesu im 17. Kapitel hebt damit an, daß der Sohn die Stunde nennt und sich zur Stunde bekennt, die jetzt gesetzt ist, damit der Sohn den Vater und der Vater den Sohn verherrliche (Joh 17,1).
[48] An diesen und anderen Stellen, an welchen Jesus nach dem Johannesevangelium von der Stunde spricht, ist immer die eine Struktur vorgegeben: Stunde kommt vom Vater her auf den Sohn zu, und dieses vom Vater auf den Sohn Zukommende, sein Ruf, seine Sendung, sein Wille, sein Heilsplan für uns, gewinnt in der „Stunde“ Gestalt. Die Stunde für diese Welt, für uns alle ist das Leben Jesu, und dieses Leben Jesu geschieht seinerseits im Takt der Stunde. Es ist im ganzen und im einzelnen nichts anderes als Leben und Sterben auf den Vater zu und vom Vater her in die Welt hinein. Äußerste Hingabe, äußerstes Weggeben seiner selbst fallen hier zusammen mit der höchsten Freiheit, mit dem bewußten Übernehmen des Willens des Vaters, der nicht ein dunkler und fremder Block ist, sondern immer – auch wenn er als solcher erscheint – gerade Teilhabe des Sohnes am Vater, Einheit zwischen Sohn und Vater, die eben letztlich auf die gegenseitige Verherrlichung hinzielt und den Sinn hat, uns in diese Einheit, in diese Herrlichkeit, in dieses trinitarische Leben einzubeziehen.
Frappierend, daß genau jenes Ereignis und jene Verhältnisse, welche die „Stunde“ im johanneischen Verständnis prägen, auch den Ursprung, den Anfang schlechthin, die „Stunde“ vor und in aller Stunde kennzeichnen: „Im Anfang war das Wort, und [49] das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ (Joh 1,1). Der Logos ist nicht nur eine Ur-idee, ein Ur-bild, sondern er ist auch ein Ur-geschehen, das über der Zeit alle Zeit bestimmt und ermöglicht: Alles geht vom Vater allein aus, aber indem der Vater sich selber öffnet und mitteilt, geschieht Begegnung, Gemeinschaft, trinitarisches Leben. Und alles, was Gott mitteilen und schaffen kann, hat diese Grundstruktur, spiegelt sie wider, ist dazu bestimmt, letztlich in diese Einheit zwischen Vater und Sohn einzugehen. Deshalb kommt der Sohn in die Welt, wird er Fleisch und Zeit, lebt mitten unter uns und gerade in der Annahme unseres eigenen Lebens und Sterbens seine Ur-stunde mit dem Vater. Dort sind wir geheilt, dort werden wir befreit zum Anteil am göttlichen Leben selbst. Und so bricht in der Stunde des Todes und der Verherrlichung Jesu jene Stunde an, die die letzte und doch schon das Jetzt durchwaltende Stunde der Geschichte ist: Stunde, in der die wahren Anbeter überall den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten (vgl. Joh 4,23), Stunde, in der die Toten in den Gräbern die Stimme des Sohnes Gottes hören und auferstehen (Joh 5,25.28f.).