Klaus Hemmerle - ein geistlicher Weggefährte
1968 – ich war seit zwei Jahren Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) – suchten wir einen neuen Geistlichen Direktor für das Generalsekretariat des ZdK. Karl Forster, der erste Sekretär der nach dem Konzil als eigenständige Institution neu gegründeten Deutschen Bischofskonferenz (DBK), mit dem ich eng zusammenarbeitete, brachte mich auf den Gedanken, Klaus Hemmerle hierfür zu gewinnen. Seine Begründung: das ZdK brauche nicht nur einen tatkräftigen Generalsekretär, sondern auch einen guten geistlichen Weggefährten im Generalsekretariat; Karl Forster, vor seiner Tätigkeit als Sekretär Gründungsdirektor der Katholischen Akademie in München, kannte Klaus Hemmerle, Gründungsdirektor der Katholischen Akademie in Freiburg, als Kollegen und war überzeugt, dass wir im ZdK angesichts der vor uns liegenden Herausforderungen einen geistlichen Weggefährten wie Klaus Hemmerle benötigten. Bis heute bin ich Karl Forster für diese Idee unendlich dankbar, ohne Klaus Hemmerle, als Rektor im Generalsekretariat (nach der Statutenreform!) und später als Geistlicher Assistent des ZdK, hätten wir die Herausforderungen der folgenden Jahre kaum gemeistert.
Welche Herausforderungen? Ich nenne stichwortartig: die Enzyklika Humanae Vitae; den Essener Katholikentag 1968 als Versuch, das Meinungsforum Katholikentag in ein kirchliches Willensforum zu verwandeln; den Entschluss von ZdK und Bischofskonferenz, die Zukunft des Meinungsforums Katholikentag zu gewährleisten und für die kirchliche Willensbildung eine Gemeinsame Synode zu planen; die Gemeinsame Synode in Würzburg 1971-1975 rechtlich und inhaltlich vorzubereiten und mit dem Ziel der Umsetzung des Konzils durchzuführen; zur gleichen Zeit den Katholikentag Trier 1970 und Mönchen-Gladbach 1974 mit theologischem und sozialphilosophischem Gehalt auszustatten und geistlich zu gestalten und zu vertiefen; außerdem im Blick auf das Ziel ökumenischer Kirchentage das ökumenische Pfingsttreffen 1971in Augsburg mit vorzubereiten und durchzuführen. (Siehe auch: „Klaus Hemmerle – Weggeschichte mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken“)
Zum Katholikentag 1974 hatten die Katholiken von Mönchen-Gladbach als Gastgeber eingeladen. Offensichtlich waren sie stark geprägt von der Tradition des Volksvereins für das katholische Deutschland und von der Sozialen Frage, die dieser in der Kirche lebendig gehalten hatte. „Für das Leben der Welt“ lautete schließlich auch das Leitwort dieses Katholikentages sowie die Eröffnungsrede von Klaus Hemmerle.
Über diesen Katholikentag war Klaus Hemmerle im Bistum Aachen weit bekannt geworden. Als 1975 ein neuer Bischof gesucht wurde und die Wahl auf Klaus Hemmerle fiel, war die Freude, ja die Begeisterung im Bistum groß und man bereitete ihm einen herzlichen Empfang.
Im Zentralkomitee war die Freude darüber, dass unser Geistlicher Weggefährte nun auch Bischof von Aachen war, ebenfalls groß. Gleichzeitig stieg in mir aber die Sorge hoch, dass er auch vor Herausforderungen stehen könne, die zu bestehen ihm schwerfallen würden. Denn für das Volk Gottes im Bistum Aachen war er der „Episcopus“, aber für die Institution Kirche im Bistum war er auch der oberste Chef. Das war eine Aufgabe, für die er sich nicht gerade auszeichnete. Im Laufe der Zeit wuchs mein Eindruck, dass diese Sorge nicht unberechtigt war. Näheres lässt sich dem Gutachten „Westpfahl Spilker Wastl – Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker im Bereich des Bistums Aachen im Zeitraum 1965 bis 2019“ entnehmen. Dort wird Klaus Hemmerle jedoch auch „als eine in hohem Maße charismatische und theologisch-wissenschaftlich sowie im Seelsorgebereich besonders ausgewiesene und befähigte Persönlichkeit“ (S. 271) dargestellt. Während es sich bei seinem Generalvikar Collas „um einen in hohem Maße entscheidungsstarken und entscheidungsfreudigen Generalvikar“ handelte, für den „im Bistum der Spitzname ‚Bokassa‘ üblich gewesen“ sei. (Bokassa hatte sich 1966 als Militär in der Zentralafrikanischen Republik an die Macht geputscht und herrschte dort zunächst als Präsident und später als selbstgekrönter Kaiser bis 1979. Er hielt sich für den 13. Apostel).
Zum Verhältnis zwischen Bischof Hemmerle und Generalvikar Collas kann ich aus eigenem Erleben folgende Begebenheit berichten: Beim Beginn der Vorbereitungen des Aachener Katholikentages kam es zu Dissonanzen mit den Vertretern der Jugendarbeit im Bistum. Das ist, wie ich aus eigener Erfahrung weiß, nicht außergewöhnlich, schließlich kommt es darauf an, die Vorstellungen der Jugendvertreter ernst zu nehmen und konstruktiv in die Planungen zu integrieren. Zu dieser Integration leistete der Generalvikar Collas keinen Beitrag, vielmehr betrachtete er das Agieren der Jugendvertreter als ein interessantes Spiel, förderte es sogar und beobachtete gespannt den Fortgang dieses Spiels. In dieser Situation habe ich Bischof Hemmerle aufgesucht und mit ihm gemeinsam die Lage analysiert. Schnell war klar, wir mussten den Generalvikar dazu bringen, konstruktiv mit den Vorstellungen der Jugendvertreter umzugehen und dazu beizutragen, dass sie in die Gesamtplanungen integriert werden. Aber wie konnten wir den Generalvikar dazu bewegen? Es überraschte mich nicht, eine gewisse Ratlosigkeit bei Klaus Hemmerle festzustellen. Ich schlug schließlich vor, er solle den Generalvikar und mich zu einem gemeinsamen Gespräch zu sich einladen. Ich würde bei diesem Gespräch mitteilen, ich beabsichtigte in den Gremien des ZdK zu beantragen, den Beschluss, den nächsten Katholikentag in Aachen durchzuführen, zu revidieren. Klaus Hemmerle stimmte meinem Vorschlag mit einem verschmitzten Lächeln sofort zu und so kam es zu dem gemeinsamen Gespräch zu dritt. Bei dieser Begegnung dauerte es nur wenige Minuten und Generalvikar Collas erklärte, er werde alles tun, um die Vorstellungen der Jugendvertreter in die Vorbereitung des Katholikentags zu integrieren. Was folgt hieraus? Diese Geschichte ist nicht nur amüsant, sie offenbart auch, dass der Generalvikar als „alter Ego“ des Bischofs voraussetzt, dass der Bischof über ein entsprechendes „Ego“ verfügt. Dass dies nicht der Fall war, ist kaum zu bestreiten, vielmehr ist das mit ein Grund dafür, dass Klaus Hemmerle diese überragende charismatische, theologisch und philosophisch hervorragende Persönlichkeit war, als die er im Bistum geschätzt und bewundert wurde und als die er auch in dem Gutachten „Westpfahl Spilker Wastl“ festgehalten wird.
Heißt das, Klaus Hemmerle hätte das Amt eines Bischofs besser nicht übernommen? Ganz im Gegenteil! Nicht die Person steht zur Disposition, sondern die Verfassung der Institution. Die Kirche als Volk Gottes benötigt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit unserer Welt die kirchliche Institution. Aber die Institution Kirche hat dem Volk Gottes der Kirche zu dienen und nicht umgekehrt. Dass sich die Kirche im Laufe der Geschichte die kirchlichen Institutionen aus den Elementen gebildet hat, die sich in der Gesellschaft entwickelt hatten, ist nachvollziehbar. Aber diese Elemente haben sich im Laufe der Geschichte weiterentwickelt. Die kirchlichen Institutionen hingegen sind weithin in der monarchischen Verfassung verblieben. Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung in einer Person zu verankern ist völlig aus der Zeit gefallen. Ohne Gewaltenteilung sind Institutionen in Politik und Gesellschaft heute nicht mehr denkbar, in der Kirche, die nur in der Zeit zwischen Pfingsten und dem Jüngsten Tag besteht ist das nicht anders.
Wer wie ich vor einem halben Jahrhundert an der Vorbereitung und Durchführung der Gemeinsamen Synode in Würzburg beteiligt war, weiß, warum die rechtlichen Fragen der kirchlichen Verfassung - mit Ausnahme des kirchlichen Verwaltungsrechts - dort nicht thematisiert wurden. Es wurde davon ausgegangen, dass die päpstliche Kommission zur Überarbeitung des Kirchenrechts das Konzil sachgerecht umsetzen würde. Erste Entwürfe untermauerten diese Beurteilung. Erst die Neufassung des Kirchenrechts von 1983 belehrte uns eines Besseren. Aber die Würzburger Synode war abgeschlossen. Das Projekt einer konzilsgerechten und die Zeichen der Zeit berücksichtigenden Kirchenverfassung blieb uns also erhalten.
Hier ist nicht der Raum, auf die Zeichen der Zeit einen umfassenden Blick zu werfen. Einige Stichworte mögen das Themenfeld beleuchten: christlich frei statt ideologisch fixiert, personale Freiheit statt patriarchaler Bevormundung, solidarisch statt individualistisch, subsidiär statt zentralistisch, teilhabend statt klerikalistisch, demokratiegemäß statt monarchisch, Nachfolge Christi statt Gefolgschaft, Gewaltenteilung statt Machtmissbrauch. Viele Zeichen der Zeit haben einen christlichen Wurzelgrund!
Der Blick auf das Wirken von Klaus Hemmerle als Bischof von Aachen bedarf einer Ausweitung des Blicks auf die kirchenrechtliche Verfassung der Institution Kirche. Wenn die Aufarbeitung des geistlichen und sexuellen Missbrauchs auch dazu beiträgt, dass die kirchlichen Institutionen gemäß den Zeichen der Zeit angepasst werden, dann können auch zukünftig Personen wie Klaus Hemmerle als geistliche Weggefährten zur Übernahme des Bischofsamtes Ja sagen, ohne dass sie Gefahr laufen, in einer aus der Zeit gefallenen Verfassung der kirchlichen Institution Schaden zu nehmen. Ansonsten müsste man in Zukunft auch von einem Missbrauch der Möglichkeiten der rechtlichen Verfassung der Institution Kirche sprechen, von Möglichkeiten, die nicht mehr zeitgerecht und deshalb fehl am Platz sind. Die Kirche existiert in der Zeit und nicht in der Ewigkeit!