Ein Mensch unter Menschen

Viele wissen es noch ganz genau: Am 23. Januar 1994 starb Bischof Klaus Hemmerle in Aachen. Er wurde lediglich 64 Jahre alt.

In den knapp 18 Jahren seines Bischofsamts hat er vielfältige Spuren im Bistum Aachen geprägt. Und was Zeitzeugen wie Peter Blättler und Dorothee Mattes in der Rückschau besonders bewegt, ist die Haltung, mit der er sein Amt ausübte.

Der zutiefst Aufmerksame

Peter Blättler ist einer der Menschen im Bistum Aachen, die Klaus Hemmerle am nächsten kamen. Von 1989 an begleitete er ihn als Bischofskaplan, bis zum Tod. Und sagt heute als Allererstes und Allerwichtigstes: „Klaus Hemmerle war ein Bischof, Theologe und Mensch, vor dem man keine Angst haben musste.“ Und das lag in seinen Augen an der Grundhaltung, mit der dieser Bischof in jedes Gespräch ging. Und er führte viele Gespräche.

„Klaus Hemmerle gab den Leuten Würde. Er war ganz bei ihnen, wenn er mit ihnen sprach. Seine Augen waren weit offen, sein Gesicht strahlte Neugier aus“, erinnert Blättler. Der Bischof habe ganz im Moment gelebt, habe jeden spüren lassen, wie wichtig und bedingungslos ihm die Begegnung und das Gespräch waren. Fasziniert ist der frühere Bischofskaplan und heutige Gladbacher Propst bis heute, wie gut sich Hemmerle Namen merken konnte und die Situationen, in denen er Leute kennengelernt hatte. „Die Menschen interessierten ihn wirklich, in der Begegnung mit ihnen offenbarte sich ihm Gott“, resümiert Blättler.

Zu Hemmerles authentischer Kraft gehörte auch, dass er mit jedem sprechen konnte: mit Kindern ebenso wie mit Marktfrauen wie auch mit Universitätsprofessoren, rekapituliert der Propst. Im Dialog habe sich der Bischof die Gedanken und Erfahrungen seiner Gesprächspartner erschlossen. Selbst kam er aus einer tiefen theologischen Durchdringung. Aber er ließ nicht nach, sich auf Augenhöhe zu verständigen. „Hemmerle war bereit, seine Sprache anzupassen. Er sagte dann zu den Leuten: Es tut mir leid, dass Sie mich nicht verstanden haben. Und versuchte es ein weiteres Mal.“

Der suchende Theologe

Dorothee Mattes ist zutiefst beeindruckt und berührt von dem offenen Angebot, das Klaus Hemmerle in jedem Gespräch und auch in seinen vielen Publikationen und Briefen unterbreitete. „Da kam jemand, der war anders. Das war ein Bischof, der nicht nur mit der Mitra kam. Er bot statt dessen seinem Gegenüber etwas an: Du musst nicht mir folgen. Du kannst mir widersprechen. Du kannst etwas anderes wollen als ich.“ Das begeistert die pensionierte Aachener Lehrerin bis heute. Wie konsequent Klaus Hemmerle diese Haltung lebte, weiß Peter Blättler. „Er hatte die Größe, sich verunsichern zu lassen. Wenn ihm jemand gute Gegenargumente lieferte, bat er sich aus, weiterdenken zu dürfen. Und das tat er dann auch. Sein Verständnis als Bischof war: Ich muss nicht den anderen den Glauben bringen, sondern wir entdecken gemeinsam den Glauben.“ Hemmerle habe nicht die Welt missionieren wollen, sondern in ihr Jesus Christus entdecken – gemeinsam mit anderen Gläubigen.

Kirche war für ihn in erster Linie eine Glaubensgemeinschaft, vereint in der Freude der Botschaft. „Die Kirche war Hemmerle nicht das Wichtigste, sondern das Evangelium“, blickt Blättler zurück. Dafür kennt er viele Belege, er zitiert jedoch den letzten Fastenhirtenbrief, der 1994 nach dem Tod des Bischofs verlesen wurde. „Was ist, wenn heute ein Kind kommt – haben wir als Kirche die Kompetenz, von Gott zu sprechen? Wo und wie erzählen wir von Gott? Sicher nicht dort, wo klerikal herumgeschwafelt wird.“

Der kreative Wortgewaltige

Aus der Nähe nahmen Wegbegleiter wie Peter Blättler deutlich wahr: So loyal Klaus Hemmerle gegenüber der Kirche war, so fremd war ihm der Klerikalismus. Immer, wenn es ihm zu eng und borniert wurde, zu selbstbezogen auf die Würde von Ämtern abgehoben wurde, flüchtete er. Ein beliebtes Mittel waren dem Aachener Bischof händische Skizzen, witzige Karikaturen, in denen er ironisch seine Kritik am kirchlichen Betrieb zuspitzte. Gerne fertigte er sie im Kreis der deutschen Bischöfe an. Nur ein Beispiel für die überbordende Kreativität und Wortgewalt, die Klaus Hemmerle auszeichnete. Sein Gehirn war pausenlos damit beschäftigt, sich mit dem, was es wahrnahm, gedanklich und spielerisch zu beschäftigen. „Heute würde man sagen, dass er hochbegabt war“, sagt Peter Blättler. Unzählige Zeugnisse dafür gibt es, neben persönlich erinnerten Gesprächsfetzen, Witzen, Briefen und Karikaturen auch Gebete, Gedichte und Malereien. Manchmal hatte das enge Umfeld seine Nöte damit, dass der Bischof ständig wild assoziierte – einmal in Ruhe durch das Bistum fahren, war etwas, was dann auch einmal erfragt werden musste.

Der Nachbar von nebenan

Dorothee Mattes hat mehr als drei Jahrzehnte an der früheren Städtischen Katholischen Hauptschule an der Franzstraße gearbeitet. Diese wurde ein Jahr nach dem Tod des Bischofs in „Klaus-Hemmerle-Schule“ umbenannt. Das kam nicht von ungefähr – war doch Hemmerle so etwas wie ein Nachbar gewesen. Von der Franzstraße bis zum viel zitierten „Dreiräubereck“, an dem das Bischofshaus lag (neben Finanzamt und Polizeipräsidium), war es nicht weit. Diese Nähe machte unorthodoxe Begegnungen möglich, auch jenseits der offiziellen Dienstwege. Dorothee Mattes erinnert sich gut an das freundliche, ehrliche, interessierte Auftreten des Nachbarn – auch den Schülern gegenüber. Er schaute immer wieder mal einfach so vorbei, im eleganten Anzug, neugierig, humorvoll, lebendig. „Das ist ja gar kein Bischof“, hätte es unter den Mädchen und Jungen geheißen, erzählt Mattes.

Ein Mensch mit Grenzen

Bei aller Begabung war auch Klaus Hemmerle nur ein Mensch. Sein starker Intellekt stand ihm oft genug bei alltäglichen Fragen und Herausforderungen im Weg. Dazu gibt es viele liebevoll erinnerte Gegebenheiten, über welche Weggefährten auch heute herzlich lachen können.

Manche seiner Stärken wurden ihm als Schwäche ausgelegt – zu Unrecht, wie Peter Blättler resümiert: „Hemmerle war ein starker Bischof. Wenn er etwas wollte, dann kam das auch so, und wenn er etwas nicht wollte, dann nicht.“ In diesem Sinne entscheidungsschwach sei Hemmerle nicht gewesen, betont Blättler.

Aber direkte Konfrontation, unmittelbarer Konflikt, lautstarker Streit seien nicht seine Sache gewesen. Da sei der Bischof regelrecht wehrlos gewesen. Neben persönlicher Konfliktscheu war das wohl Ausdruck der genannten Grundhaltung: das Gegenüber nicht mit der Wucht des Amtes überrollen, sondern im gegenseitigen Respekt Argumente gelten lassen. Dafür nahm Hemmerle sich Zeit und setzte seine Kraft ein – bis in den Tod hinein.