Und das Wort ist Kind geworden

[46] Die offene Tür

„Heut schließt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis. Der Kerub steht nicht mehr dafür: Gott sei Lob, Ehr und Preis.“ Diese Liedstrophe aus dem 16. Jahrhundert nach einem Text von Nikolaus Herman wird oft in der Mitternachtsmesse des Weihnachtsfestes gesungen. Der Vers trifft mitten hinein in das Ereignis der Weihnacht. Die Tür war zu, als Er unbekannt und eingehüllt in das arme Gewand seiner Mutter anklopfte. Jetzt wird uns zugerufen: Der Eintritt ins Paradies ist nicht mehr verwehrt, die Tür ist endgültig aufgegangen.

Als ich mich fragte, worin die besondere Last unserer Jahre liege und wo die Not besonders drücke, fiel mir dieser alte Liedvers ein. Wie oft wurde mir gesagt: Die Tür ist zu, nichts geht mehr. Ich dachte an die Angst in der Politik, wo die Mächtigen in ihre Macht und die Ohnmächtigen in ihre Ohnmacht sich zu verschließen drohen; die Furcht in den Betrieben, das Bangen um den Arbeits– und Ausbildungsplatz: alles ist zu, es ist nichts zu machen; die Angst in der Kirche; Parteien und Gruppen, die befangen sind in ihrer Sorge, daß sich nichts mehr bewege, alles festgefahren sei. Und ich dachte an die Menschen, denen ich immer wieder begegnet bin, die in ihren [47] innigsten Beziehungen verzweifelt sind: Eltern, die glaubten, nicht mehr mit ihren Kindern reden zu können; Kinder, die sagten: die Tür ist zugeschlagen, das Gespräch mit den Eltern verstellt. Ich dachte an Ehepartner, Freunde, die erklärten, alle Gemeinsamkeit und Gemeinschaft sei verschlossen.

In all diesen Erfahrungen hallt eine Urerfahrung der Menschheit nach: jenes Wissen um die verschlossene Tür des Paradieses; daß unser eigenster Ort uns entzogen ist, der Urraum unseres Lebens, den wir verlassen haben und von dem wir nun abgeschnitten sind. So haben wir uns darauf fixiert, unser Leben in die eigenen Hände zu nehmen, Gott zur Randfigur zu machen.

Aus eigener Kraft gelingt es uns nicht mehr, die Tür aufzubrechen und den Himmel zu stürmen. Alle bloß innerweltliche Heilsverheißung stößt an eine unüberwindbare Grenze, weist uns in die eigenen Schranken und treibt uns in die Resignation.

Unsere Wege – seine Wege

Wir gehen nun oft einen anderen Weg: Wir flüchten uns in einen rührenden und zugleich gefährlichen Kindertraum, einen Traum vom Paradies, der stets ausgebeutet wurde und gerade in unseren Tagen auf schlimme Weise kommerzialisiert wird.

So erleben wir immer wieder unser Scheitern:

wenn wir unser Glück zu zwingen suchen, indem wir es in die eigenen Hände nehmen oder uns et-[48] was „Paradiesisches“ vorgaukeln lassen; wenn wir versuchen, mit Gewalt in das Paradies einzubrechen oder uns aus unserer Ohnmacht hinwegzuträumen ...

In diese Situation spricht die Weihnachtsbotschaft leise hinein. Sie weist zu einem anderen, einem dritten Weg: Wir können den Durchbruch ins innerste Geheimnis weder aus eigener Kraft schaffen noch uns an der Tür des Paradieses vorbeimogeln. Sie kann uns vielmehr allein von dem her geöffnet werden, der der Herr unseres Lebens ist.

Er ist an Weihnachten gekommen. Können wir auch nicht selbstmächtig aufsteigen – er kann absteigen; können wir nicht selbstherrlich durchbrechen – er kann auf uns zukommen. Das hat Gott in Jesus getan. In diesem Kind ist er auf uns zugegangen, in diesem Kind ist Gott bei uns und mitten unter uns. Wir vermögen es nicht, den Weg von uns aus zu ihm zu gehen, aber er geht den Weg zu uns; und indem er ihn geht, nimmt er uns mit; mit ihm können wir zum Vater gehen. „Prosagoge“ (Zugang) heißt ein wichtiges Wort des Neuen Testaments. In Jesus Christus ist dieser Zugang offen.

Wir stehen deshalb nicht mehr vor der verschlossenen Tür des Paradieses, sondern wir dürfen uns einladen lassen von dem, der die Tür ist; in ihm sind wir in den Stand gesetzt, in Gottes offenen Raum zu gelangen, vor dessen Tür kein Kerub mehr steht, der uns abweist; niemand kann diese Tür verschließen, denn sie ist ein für allemal geöffnet; keine Gewalt und Schuld der Welt vermag sie zuzuschlagen.

[49] Dennoch bleibt uns die Frage, was von uns aus zu tun ist, damit wir auf den Weg zu dieser Tür und durch diese Tür hindurch gelangen. Welche Schritte können wir auf diesem uns in Jesus eröffneten Weg setzen? Es gibt einen menschlichen Anteil, einen menschlichen Weg, auf welchem wir uns finden lassen können. Dies ist der Weg Mariens, zu der der Engel, zu der Gott selbst kam und fragte, ob sie bereit sei. Sie ist jener Mensch, der auf die Frage des Engels mit dem eigenen Ja antwortete. Sie hat Gott, der auf sie zukam, in sich eingelassen und ihm in sich den Raum gegeben; sie ist auf diesen Gott zu- und mit diesem Gott in ihrem Herzen weitergegangen und hat ihn uns gebracht, so daß uns die Engel der Weihnacht einladen können, wiederum auf ihn zuzugehen.

Spitze der Menschheit: jeder

Maria hat jenes „Spitzengespräch“ geführt und sich auf jenes „Gipfeltreffen“ der Menschheit eingelassen, in dem die Tür aufgegangen ist: Gott kam auf den Menschen zu, und der Mensch antwortete und ging auf Gott zu. Und dieses einmal für allemal stattgehabte Spitzengespräch zwischen dem Engel Gottes und dem Menschen, der für die ganze Menschheit sich aufgeschlossen hat, weist uns den Weg, wie bei uns Weihnachten werden kann: Lassen wir Gott auf uns zukommen, gehen wir mit ihm auf ihn und auf die anderen zu. [50] Für uns alle ist vielfältig ein solches Spitzengespräch notwendig. Jeder von uns ist die Spitze der Menschheit, in jedem von uns muß etwas geschehen, was nur durch ihn geschehen kann. Gott wartet für diese Welt auf ein Ja von einem jeden von uns, das nur er ihm schenken kann an seiner Stelle: Wenn wir an dem Ort, an dem wir stehen, ja sagen, dann wird es heller werden in der Welt – wenn wir aber dort, wo wir gerufen sind, uns verweigern, dann verschließt sich eine Möglichkeit dieser Geschichte. Jeder von uns ist so Spitze der Menschheit, jeder hat seinen Ruf, und jeder muß für die anderen die Tür, die bereits in Jesus Christus offen steht, aufstoßen – hier und jetzt, an dieser Stelle, in diesem Augenblick.

Besinnen wir uns an Weihnachten darauf, ob wir auf Gottes Ruf mit dem Ja unseres Lebens – mit dem Ja Mariens – antworten. Dieses Ja unterfängt dann unsere Macht und Ohnmacht, diese beruflich ausweglose Lage, diese Erstarrung der Fronten; wir werden dann diesen Menschen, dieses Kind, diese Eltern, diesen Partner, diese Treue – dieses Kreuz annehmen.

Uns ist dann unmöglich zu vergessen, daß auch zwischen uns immer neu Spitzengespräche fällig sind, damit die Tür aufgehen wird zwischen uns. Es gibt keine andere Methode, keinen anderen Weg als wieder den, den Gott eingeschlagen hat: Zugehen auf den anderen und mitgehen mit diesem anderen auf andere zu. Jesus Christus ist die Tür, er ist die uns zugewandte Seite Gottes: In ihm ist Gott nach dem Ja Mariens für immer auf uns zugekommen: Die Paradiestür steht offen, [51] der Kerub versperrt den Eingang nicht, sondern lädt uns ein, mit unserem Ja einzutreten und mit den Engeln der Weihnacht den Menschen Gottes Lob, Ehr und Preis zu künden.1


  1. Hemmerle, Klaus: Die offene Tür, in: Christ in der Gegenwart 39 (1987), 27.12.1987. ↩︎