Die Kirchlichkeit des Glaubens und der Theologie

[464] Aus der Perspektive der Kirche*

Wie nun stellt sich die Verwiesenheit der Kirche auf Glaube und Theologie dar? Zur Verwiesenheit auf den Glauben wurde schon einiges gesagt: Welchen anderen Grund könnte Kirche haben als den Glauben, was ist das Prinzip ihrer Einheit und somit ihrer selbst als Konsonanz ihrer Glieder im Glauben an das eine Wort und Wirken Gottes? Diese Verwiesenheit – das muß hier nochmals ausdrücklich gemacht werden – ist aber eine doppelte: Der Kirche geht je der Glaube voraus, und die Kirche geht je dem Glauben voraus: Hätte keiner je geglaubt, so wäre Kirche nie geworden; hätte nur einer geglaubt, so wäre es wiederum nicht zur Kirche gekommen. Nur daß Glaube weitergeht, über einen einzelnen hinaus, und daß Glaube durch den Glauben des einen zum anderen hin weitergeht, macht Kirche zur Kirche. Gewiß gehört zur Kirche nicht nur das Nacheinander, das den Glauben des einen konstitutiv werden läßt für den Glauben des anderen (inwiefern auch ein „direktes“ Glauben auf das Wort der Schrift hin ekklesial ist, braucht hier nicht ausgefaltet zu werden), sondern auch die Gleichzeitigkeit des Glaubens, das Miteinander des gemeinsamen Bekenntnisses, aber gerade auch solches Miteinander wächst aus dem Hören aufeinander im Hören auf das eine Wort. Gemeinschaft schließt Gegenseitigkeit und so gegenseitiges „Nacheinander“ des Glaubens mit ein.

Glaube muß also je schon sein, damit Kirche werde und weitergehe; indem aber Glaube weitergeht, wird Kirche, und so gründet sich sein Weitergehen auf die Kirche: Kirche geht (auch) dem Glauben voran.

Das ist so formal gesagt, daß es sich in folgenloser Überrichtigkeit zu erschöpfen droht. Faßt man näher nach, so zeigt jedoch gerade diese Gegenseitigkeit eine explosive Wirkkraft. Denn die gegenseitige Verwiesenheit von Glaube und Kirche ist nicht schon damit abgegolten, daß es am Anfang einmal den Glauben geben mußte, aus dem dann die Kirche wuchs, die jetzt eben historisch Voraussetzung für gegenwärtigen Glauben darstellt; das Anfängliche bleibt vielmehr das Jeweilige. Der einzelne bedarf der Kirche, um zum Glauben zu kommen, um am zu Glaubenden Maß zu nehmen, um dieses nicht mit seinem nur Eigenen [465] zu verwechseln. Der Kirche ist das Bleiben des Glaubens anvertraut, sie ist in die Sendung Jesu hineingestellt, sie ist für mein je jetziges Glauben maßgeblich. Diese Maßgabe aber ist nicht Ersatz, sondern Präsenz des einzig möglichen Glaubensgrundes, der in Jesus Christus durch den Geist offenbaren Autorität des sich mitteilenden Gottes. Und indem der Glaubende, durch die Kirche, in ihr und auf sie hin, sich einläßt auf den Anspruch und die Gewähr Gottes, tritt er selbst in ein unmittelbares Verhältnis zu dem den Glauben begründenden Gott. Glaube ist ekklesial vermittelt, aber gerade so unmittelbarer Glaube. Dieser unmittelbare Glaube wiederum geht, die Anfänglichkeit wiederholend, zugleich der Kirche voraus. Was der einzelne in seiner Unmittelbarkeit als Glaube vollzieht, trägt Kirche und prägt Kirche. Die Geschichte des Glaubens in der Geschichte der Kirche läßt sich nicht deduktiv aus schon gegebenen Formulierungen der Kirche deduzieren, sondern sie wieder-holt den Ursprung aus der je neuen Antwort des Glaubens derer, die die Kirche sind.

Die Maßnahme des Glaubens an der Kirche und des Glaubens der Kirche am Glauben derer, die die Kirche sind, geschieht also wechselseitig, wenn auch in unterschiedlichem Sinn. Glaube ist Ursprünglichkeit, die sich aufhebt in die sich schenkende Ursprünglichkeit Gottes. Sie ist vor allem also auf sein „datum“ bezogen, das in der Kirche seine Gewähr und seine Stätte hat; dadurch setzt die Kirche dem Glauben verbindlich Maß. Die „Aufhebung“ der Ursprünglichkeit des Glaubenden in Gottes Ursprünglichkeit hinein und, im Vollzug dessen, die „Relativierung“ des Glaubenden an der Kirche sind aber gerade Freigabe der eigenen Ursprünglichkeit, nicht Minderung, sondern Steigerung der Freiheit: Wer sich Gott überläßt, wird sich selbst neu gegeben. Diese neue Ursprünglichkeit des Glaubenden durch seine von der Kirche vermittelte Ursprünglichkeit und Unmittelbarkeit zu Gott hin kann nicht gegen die Kirche ausgespielt werden, wohl aber kann sie, in der Rückbindung an die Kirche, über den geschichtlich gewordenen Stand, über die jeweilige Gestalt des Glaubens in der Kirche hinausführen. Solche Ursprünglichkeit ist wiederum in die Kirche einzubringen, das heißt aber ebenso: der Kirche „zuzumuten“ wie in dieser Zumutung an die Kirche „auszuliefern“. Es gibt, theologisch gesprochen, auch [466] Charismen der Glaubenserkenntnis, die als solche nicht durch eine kirchliche Struktur oder Ordnung vermittelt sind, wohl aber sind sie bezogen auf den durch die Kirche vermittelten Glauben und für die Kirche und das Wachstum ihres Glaubens bestimmt.

Diese Bezogenheit von Glaube und Kirche aufeinander ist – dies wird am zuletzt Entfalteten deutlich – untrennbar von der Bezogenheit der Kirche auf die Theologie. Jedes Sprechen der Kirche ist auch ein theologisches Sprechen; denn in solchem Sprechen wird Glaube ausgelegt, wird darin Gottes Wort und des Menschen Sich-Verstehen ausgelegt. Die Verwiesenheit von Kirche und Theologie aufeinander ist wiederum eine doppelte. Wenn nämlich Glaube als solcher sich je schon theologisch verfaßt, dann geht Theologie im selben Sinn wie der Glaube der Kirche voraus; wenn Glaube sich aber, wie gezeigt, wesenhaft kirchlich verfaßt, dann geht auch die Kirche jeweils der Theologie voraus. Was die Kirche sagt, darf nichts anderes sein als das von Gott in Jesus Christus Gesagte, und die Rückbeziehung des je jetzt Gesagten zu dem am Anfang Gesagten ist von der Theologie her durchsichtig zu machen. Theologie hat das, was im Ursprung gesagt ist, ins je jetzige Fragen und Verstehen hineinzugeben. Theologie ist indessen kein Alibi für die geschichtlich geschehende Beziehung der jetzigen Kirche zu ihrem Ursprung, für das unverfügbare Weitergehen der Sendung Christi in der Kirche. Sie kann nicht durch Reflexion auf den Ursprung oder Explikation des Ursprungs mit Mitteln jetzigen Verstehens die geschehende Tradition des Ursprungs im Glauben der Kirche ersetzen, sondern bleibt, weil an den Glauben gebunden, auch und sogar zuerst an diese Tradition gebunden.

Damit aber kommt es wiederum zu einer doppelten Maßnahme von Kirche und Theologie aneinander. Theologie hat Maß zu nehmen an der Kirche; dem Glauben, und zwar dem gemeinsamen Glauben, dem sich an die Sendung Christi bindenden Glauben ist die Identität des Glaubens im Weitergehen durch die Geschichte zugesagt; die Unherstellbarkeit des Glaubens durch das Verstehen ist Grund für den Vorrang der Kirche vor der Theologie innerhalb der Theologie selbst. Dieser Zusatz „innerhalb der Theologie selbst“ ist indessen theologisch bedeutsam; denn der [467] Vorrang des Glaubens vor dem Verstehen und der Vorrang der Kirche vor der Auslegung durchs Verstehen heben nicht auf, daß Glaube und Kirche dem Sich-Verstehen des Glaubens aufgegeben sind, gerade weil Glaube und Kirche zusammengehören. Die Kirche selbst muß sich Rechenschaft über ihre Vermittlung des Glaubens ablegen, und Instrument dieser Rechenschaft ist eben die Theologie. Die Theologie kann zwar, weil nur im Glauben, auch nur in der Kirche ihren Raum haben, zugleich aber ist auch die Theologie der Raum, in dem alles kirchliche Sprechen steht; denn als Sprechen muß es im Bedenken seiner eigenen Angemessenheit und Verständlichkeit, in der Rechtfertigung seiner selbst am zu Sagenden und am Hörer geschehen.

Daher gilt auch zwischen Theologie und Kirche: keine von beiden darf ihre Vorgängigkeit, ihre je andere „Führungsrolle“ gegen den Partner ausspielen. Kirchlichkeit, die sich nicht der theologischen Nachfrage „Was heißt das?“ zu stellen hätte, oder Theologie, die den Glauben der Kirche und die Maßgabe der Kirche mit ihrer Rückfrage überspielen könnte, statt sich selbst an der verbindlichen Geschichte des Glaubens je neu zu befragen und zu verstehen, wären Sackgassen.