Mariä Heimsuchung 1983
Liebe Freunde, liebe Schwestern und Brüder!
Ich mag dieses Fest, Mariä Heimsuchung, sehr gerne, das hat einen persönlichen Hintergrund. Mein Vater war Maler und als wir abgebombt waren, hatte er nichts mehr von den Malwerkzeugen, die ihm lieb waren und wir mussten ganz vom Nullpunkt anfangen. Aber auf das erste Stück Karton, das er erstanden hat und mit den ersten Farben, die er sich wieder beschaffen konnte, hat er den Gang Mariens gemalt – für meine Mutter. Ich war damals 15 Jahre alt und ich hatte mir überlegt, dass ich einem Ruf Gottes folgen wollte, von dem ich glaubte, ihn schon zu spüren, gerade in dieser schweren Zeit. Ich hatte mir gedacht, jetzt, wo alles zusammenbricht, merkst du, was wirklich zählt. Und vielleicht in 20, 30 Jahren wissen das die Leute nicht mehr. Und dann möchtest du ihnen aus den Erfahrungen von jetzt Zeugnis geben. Und da geleitete mich dieses Bild der Mutter Jesu, die einen Ruf hörte, die aufbrach, die übers Gebirge der Hindernisse hinwegstieg, die in sich Leben, das Gott geschenkt hat, hütete, die es aber nicht für sich bewahren wollte, sondern anderen weiterschenkte. Es war, wenn ich so will, für mich heimlich und schier unbewusst ein Schicksalsbild. Aber zugleich mit meiner persönlichen Berufung habe ich in diesem Bild auch etwas Anderes lesen können. Warum hat der Vater so eilig als erstes dieses Bild gemalt? Bei dem, was zu Hause verbrannte, war auch ein Aquarell auf Pergament, das der Vater in der Verlobungszeit meiner Mutter geschenkt hatte und sie hing an diesem Bild über alles und es war wiederum der Gang Mariens übers Gebirge. Ich hatte meine persönliche Berufung zum Leben nach den evangelischen Räten im Priestertum in diesem Bild Mariens anschauen können und immer war ich auch daran erinnert, dass meine Eltern mir erzählten, wie unselbstverständlich es war, dass sie den Weg zueinander gefunden haben und dass es ein Weg des Glaubens war, sich auf einander einzulassen, zueinander aufzubrechen und zueinander jenes Ja zu sagen, dem ich dann mein eigenes Leben verdankt habe.
Die beiden großen Grundgestalten christlicher Berufung: Berufung zum Leben wie Maria, die aufbricht und Sicherheiten hinter sich lässt, Pläne weggibt und jungfräulich das Geheimnis trägt, hegt, birgt, das Gott ihr anvertraut und jene andere Berufung, das Ja Gottes zu einem Menschen um Gottes Willen in Treue anzunehmen und durchzutragen über die Gebirge des Hindernden und Trennenden hinweg. Diese beiden Berufungen hingen für mich in diesem selben Bild und deswegen habe ich einfach eine Freude, dass dieser Tag, der heute ist, eben heute ist, an diesem Fest. Ich glaube, ich glaube daran, dass es niemand hier gibt, der nicht einen dieser beiden Rufe Gottes hat. Gott will von jedem von uns, dass wir ihm gehören. Er hat für jeden von uns einen Engel, der uns die Botschaft bringt. Jene Botschaft, die ich hören soll und auf die nur ich mit meinem einmaligen Ja Antwort geben kann. Wenn ich nicht Antwort gebe, dann fehlt ein Stück im Plan Gottes für diese Welt, dann ist etwas weg. Für mich hat er einen Ruf und es kommt darauf an, dass ich aufbreche über die Idee hinweg, was gefällt mir besser, was ist netter, was ist sympathischer, dass ich frage: Was willst du? Wie willst du in mir Fleisch werden? Wie willst du in mir anderen weitergegeben werden? Wie willst du mich über mich selber, über meine Grenzen und Ängste hinauslocken? Was kannst du von mir annehmen, um darin dich weiterzugeben und weiterzusagen an andere? Das fragt er jeden! Und es ist ganz wichtig, dass wir ihm glauben, er schickt seinen Engel.
Ja, welchen Engel? Was sagt dieser Engel? Ich probiere so lange es rauszubekommen, ich sehe es immer wieder nicht. Das ganze Ja auf jeden Fall, das größte Ja auf jeden Fall, mein größtes Ja auf jeden Fall, mein ganzes Ja auf jeden Fall. Und wenn ich immer und immer wieder den kleinen Engel eines jeden Tages höre, wenn ich jeden Tag mit seinem Wort lebe, wenn ich immer und immer wieder nicht nur nach meinen Launen, nach meinen Bedürfnissen, nach meinem Mögen frage, sondern wenn ich jeden Tag damit lebe, wie er mich anschaut, wie er mit mir umgeht, wenn ich immer neu wieder mich weglege und immer neu Augenblick für Augenblick sein Wort, seinen Willen im Alltag lebe, dann werde ich klare Augen bekommen. Dann werde ich erkennen, welches mein Maß der größeren Liebe ist, der größeren Liebe für mich. Aber wenn ich dann nach ihm frage und wenn ich dann zu ihm Ja sage und wenn ich dann mich einlasse, dann bin ich nicht einer, der irgendwo auswandern kann aus dieser Welt, dann bin ich nicht einer, der irgendwo wegziehen kann und im Innenraum bleiben kann, sondern dann heißt es aufbrechen, aufbrechen wie Maria übers Gebirge. Da sind Gebirge, da muss jeder Widerstände überwinden, das geht nicht von allein, das ist nicht eine Karriere, die mir angeliefert wird. Ruf ist alles andere als Karriere, es kann gar nicht glatt gehen. Vielleicht habe ich keine großen Probleme, vielleicht läuft alles schlicht, aber dieses Ja kostet mich, kostet mein Blut, ganz gewiss – Weg übers Gebirge. Und dabei ist ein Stück Härte, von Einsamkeit, von nüchternem Wahren und Durchtragen mit drinnen.
Mein Vater hat Maria gezeichnet, wie sie in sich schaut, wie sie die Hand vor sich hält: Sie wagt etwas, sie hütet etwas, sie trägt etwas durch, sie lässt sich etwas nicht wegnehmen, sie holt etwas zurück, sie nimmt etwas an sich. Nur so geht das! Mit der Liebe zu diesem Menschen, mit der Lauterkeit, mit der ich meine Gefühle, meine brennenden Gefühle, mein „endlich haben wollen“ nicht irgendwo krampfhaft wegdrücke, aber beherrsche, um die Flamme der Liebe lauter durchzutragen. Und dasselbe braucht es, um nicht irgendwo bloß unverheiratet zu bleiben, sondern dieses Geheimnis mir und meiner Leibhaftigkeit abzuringen, in mir ein lauteres Ja für ihn durchtragen. Das ist unbequem, das geht manchmal an den Rand, das ist wirklich eine Bergwanderung. Aber wenn wir uns einlassen, dann lassen wir uns erst ein in die Tiefen unseres Daseins. Dann kommen erst die Dinge ins Spiel, die sonst nicht ins Spiel kommen, wenn ich einfach mich wegwerfe, wenn ich einfach mich anpasse, wenn ich einfach den Weg des geringeren Widerstandes gehe. Und diese Einsamkeit ist nicht nur etwas, was mit Eros und Sexus zu tun hat. Diese Einsamkeit ist etwas, was mit der inneren Entscheidung eines Weges zu tun hat, in dem ich selber die Struktur meines Lebens herausbilden muss, dass ich selber nicht nur gelebt werde, dass ich selber nicht nur mir von außen her irgendwie den Zufall eines Terminkalenders oder Stundenplanes vorgeben lasse, sondern dass ich Schritt um Schritt setze, dass ich einen Weg finde.
Weg übers Gebirge. Und es ist ein Weg von mir hinweg zu einem anderen. Jeder Weg ist Weg um zu dienen, so wie Maria zu ihrer Base Elisabeth gegangen ist, um ihr zu helfen und zu dienen. Keiner lebt für sich, keiner hat nur irgendein Ideal in sich durchzutragen, sondern jeder ist gerufen zum Du, zum anderen. Auch der Eremit, auch derjenige, der sich irgendwo in ein einsames Kloster eingraben lässt, der schweigt sein Leben lang, gerade er lebt für andere. Vor ein paar Wochen war ich in dem neugegründeten Bistum Stettin in Polen, das erst seit 20 Jahren besteht und was hat der Bischof da hinein gegründet, sozusagen an die Wurzeln des Bistums, einen Karmel! Er hat gesagt, ich brauche Wurzeln, ich brauche Wurzeln, die den Saft Gottes aus dem Boden Gottes herausziehen. Sie leben für die anderen. Jeder – derjenige, der für Gott allein in die Einsamkeit geht, der, der sich hineinwirft in das Getümmel der Welt, derjenige, der in die Politik geht, derjenige, der irgendetwas anderes tut, er muss, indem er Gottes Ruf und Wort annimmt, aufbrechen zum andern. Es kommt an auf die Begegnung. Den Ruf hören, aufbrechen, übers Gebirge durchtragen, dienen. Und dann wird Begegnung sein, mit dem Herrn in der Mitte. Dazu ist sicher jeder berufen! Jeder ganz einfach dafür, dass zwischen ihm und andern Christus geboren wird, dass er in der Mitte lebt. Es kann gar niemanden von uns geben, der für etwas anderes gerufen wäre als dazu, dass Christus neu in diese Geschichte und neu in diese Welt hineinkommt. Dazu sind wir da. Zwischen Maria und Elisabeth spielt es: zwischen Menschen, die Ja sagen zu je ihrem Weg und Ruf, will Christus geboren werden. Dafür sind wir da. Dafür ist die Kirche nicht zu schlecht. Dafür ist die Gesellschaft nicht zu schlimm. Das kann passieren, wenn wir unseren Ruf leben, wenn wir aufbrechen. Da bin ich nicht von Verhältnissen, da bin ich nicht von Strukturen, da bin ich nicht von irgendetwas abhängig. Da bin ich von dem abhängig, der sich mir gegeben hat, weil er in mir und zwischen mir und dir Fleisch werden will. Das kann ich, nicht weil ich es kann, sondern weil er es kann.
Ist die Last nicht zu schwer? Ist der Ruf nicht zu groß? Ist meine Kraft nicht zu gering? Doch, meine Kraft ist zu gering, mein Ruf ist zu schwer, was Gott von mir will, kann ich nicht. Es stimmt, ich kann es nicht – aber er kann es und er ist da, er liefert sich aus. Er gibt sich mir. Und gerade weil ich so einer bin, gerade weil ich diese Grenzen habe, gerade weil ich immer wieder dran stoße, gerade deswegen darf ich wissen: ich bin gemeint, ich bin gerufen, er vertraut sich mir an. Er macht’s, nicht ich. Ich lasse mich tragen, wenn ich ihn trage. Und dann werden wir das Magnifikat singen können.
Wir können diese Geschichte, wir sollen und dürfen diese Geschichte als die unsere leben: Gang Mariens übers Gebirge. Aber indem wir diese Geschichte leben, indem dies unsere Geschichte ist, dürfen wir auch noch etwas Weiteres entdecken. Da ist nicht nur Maria, die aufbricht, da ist auch jene, die scheinbar zu Hause bleibt und die leise und verborgen doch ihr Ja sagt: Elisabeth. Und da ist noch einer und vielleicht, wenn wir traurig geworden sind bei dem, was ich eben gesagt und gepredigt habe, vielleicht hilft dieser Dritte im Hintergrund uns sehr dabei, da ist nämlich auch der Zacharias. Da ist jener, der auch gebraucht wurde für diesen Ruf und dem es zu schwer war und der gesagt hat, ich glaube es nicht, das ist doch unmöglich, das kannst du doch nicht, ich kann doch nicht in meinem Alter und meine Frau kann doch nicht in ihrem Alter Eltern werden. Das geht doch über das Maß hinaus, ich traue es dir nicht zu. Er ist in seinem Ruf verstummt. Vielleicht ist bei uns so etwas passiert. Vielleicht sind wir in unserem Ruf verstummt. Vielleicht sind wir zurückgeblieben. Vielleicht haben wir irgendetwas abgebaut oder verpfuscht. Vielleicht haben wir das Maß verfehlt. Vielleicht ist uns der Mund verschlossen. Zacharias gehört hinzu. Er trägt von innen mit und weil er von innen mitträgt und sich annimmt, wird ihm der Mund geöffnet. Für keinen ist es zu spät, für keinen ist es zu schwer, jeder ist gerufen, jeder kann die Antwort geben und durch jeden von uns kann er für diese Welt geboren werden.
Hören wir! Brechen wir auf! Er will durch uns kommen in diese Welt. Amen.