Linien des Lebens

[51] Der Name

Wie läßt sich das prägnant zusammenfassen, was Jesus in dieser Welt gewirkt, was Jesus in diese Welt gebracht hat? Was ist sein Werk, seine Hinterlassenschaft?

Ich möchte diese Frage an Jesus selber richten. Wenn wir uns auf sein Sprechen im Geist einlassen, wie es uns im Johannesevangelium überliefert ist, so erhalten wir Antwort. Indem Jesus nämlich in seinem Hohenpriesterlichen Gebet (Joh 17) sich und die Seinen dem Vater zurück- und anheimgibt und uns darin sein Testament überantwortet, erstattet er zugleich auch einen Rechenschaftsbericht an den Vater über seinen Auftrag und seine Sendung. Die am häufigsten hier wiederholte Formel sagt: Jesus hat uns den Namen des Vaters geoffenbart und uns in dem Namen des Vaters bewahrt, den dieser ihm gegeben hat (vgl. Joh 17,6.11f.26).

Der Name – das scheint mehr als nur ein kennzeichnendes Wort. Ihn offenbaren – das meint mehr als nur eine sachliche Information. Das Offenbaren des Namens zielt aufs Ganze der – wagen wir es einmal so zu formulieren – „kommunikativen Existenz“ Jesu, auf sein Kommen zu uns und Gehen [52] von uns, sein Sprechen und Handeln, sein Leben und Sterben, denen insgesamt ein erschließender, erhellender, Gemeinschaft stiftender Charakter eignet. Und der Name, das meint die erschlossene, zugänglich gemachte, uns mitgeteilte und mit uns geteilte Wirklichkeit dessen, der sich im Namen nennen läßt.

Name, das hebt sich also ab vom bloßen Begriff. Die Beter wußten dies immer – aber wußten es auch die Theologen? Lange und nicht ohne Grund stand das Inhaltliche, Begriffliche im Vordergrund; das Personale, Beziehungshafte trat dahinter zurück – und doch ist letztes entscheidend, um den Inhalt seiner Einzigartigkeit in den Blick zu bekommen. Große Theologie – man denke an Augustin, Anselm oder Bonaventura und an die reiche Tradition des christlichen Ostens – gerann freilich immer wieder zur Anbetung, hob immer wieder das „andere“ des Sprechens von Gott hervor, das nur im Sprechen zu Gott sich ganz enthüllt. Im heutigen theologischen Denken ist uns die Eigenart und Bedeutsamkeit von Namen und Anrede gegenüber Begriff und Aussage erneut deutlich geworden.

Was aber ist das „Neue“ am von Jesus offenbarten Namen Gottes gegenüber den zuvor und anderswo genannten und verwandten?

Die Vokabeln „Vater“ und „Liebe“, die uns hierbei zunächst in den Sinn kommen, erschöpfen, für sich [53] allein genommen, die Antwort nicht. Sowohl im Wortlaut wie auch im Gehalt sind zumindest entsprechende Motive auch außerhalb der Verkündigung Jesu und ihrer unmittelbaren Reflexion und Weitergabe zu finden. Das mindert gerade nicht die innere Weite und Tiefe des „Gottesbildes“ Jesu, seine Synthese zwischen Erhabenheit und familiärer Vertrautheit. Es geht nicht um einen inhaltlichen „Vorsprung“ der Gottesvorstellung Jesu gegenüber anderen, sondern um das lebendige „Einmal“ des Gottes und Vaters Jesu Christi (vgl. 2 Kor 1,3), das die Samenkörner des Wortes, die in der Menschheit leben, in sich birgt, ohne sich in ihnen zu erschöpfen.

Schlagen wir einen scheinbaren Umweg über den Israel geoffenbarten „Namen“ ein: Mose war bestellt, um den Ruf Gottes zum Exodus und seine Verheißung der Heilszukunft an das Volk zu beglaubigen durch den Gottesnamen Jahwe, „Ich bin der Ich-bin-da“ (Ex 3,14). Im Gehen mit diesem Gott, im Folgen seinem Ruf über alle Ungewißheiten und Dunkelheiten hinweg wird dieser Gott als der je Zukünftige und gerade so je Voraufgehende sich in Israels Geschichte erweisen.

Dieser „Ich-bin-da“ ist auch der Gott Jesu, sein Name ist auch für uns nicht überholt. Wenngleich bei Johannes dieser Gottesname und dieses sein Ver- [54] ständnis nicht ausdrücklich entfaltet sind, so liegt doch im Jahwe-Namen geistlich und, vom Ende her gesehen, auch theologisch ein Schlüssel zum „Gottesnamen“ des johanneischen Jesus.

Als Mose den Sprechenden im Dornbusch nach dem Namen fragt, um seiner Sendung und seines Auftrags sicher zu sein, da läßt sich Gott herbei, sich selbst ansprechbar zu machen als der für uns und mit uns Daseiende, im Vollzug des Weges sich Erweisende. Als in einer ähnlichen Situation, beim Abschied Jesu von seinen Jüngern, Philippus danach ruft, Jesus möge doch den Vater uns zeigen, da gibt Jesus eine anders gerichtete Antwort. Er ist nicht der Mose, der, von Gott ganz in Anspruch genommen, doch außerhalb dieses Jahwe bleibt und von sich weg auf ihn verweist. Hier gilt vielmehr: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (Joh 14,9; vgl. 14,1–14 insgesamt). Und Jesus erklärt: „Glaubst du nicht, daß ich im Vater bin und daß der Vater in mir ist?“ (14,10).

Jesus ist der und das „Ich-bin-da“ Gottes, er ist vom Anfang an, von der unergründbaren Ursprünglichkeit Gottes her der vom Vater Angesprochene und den Vater Ansprechende. Er verschwindet nicht in der Person des Vaters, aber seine eigene Personalität ist Beziehung zum Vater. Gott selber ist der „Raum“ des anfänglichen und gegenseitigen Ineinander von Vater und Sohn. In Jesus sein, in seinem [55] Wort, in seiner Liebe teilhaben an ihm, einssein mit ihm, das ist der Weg. Das ganze Johannesevangelium spricht immer und immer wieder von diesem Dasein des Vaters im Sohn – hier gewinnt der Vatername neuen Klang und Glanz. Er leuchtet auf im Antlitz, im Wirken und Sprechen, im Sterben und Leben Jesu.

Dieses sein Verhältnis zum Vater öffnet Jesus für uns. Der Name des Vaters, den dieser ihm gegeben hat und in ihm uns geben will, er ist nicht das isolierte Wort „Vater“, sondern er ist der Ausdruck dieser lebendigen Beziehung selbst, in welcher der Vater „namhaft“ wird. Mit aller Gottesferne, mit allen Fragen und Dunkelheiten, mit allen Hilflosigkeiten und Überforderungen eines Mose und eines Philippus dürfen wir uns da hineingeben. Wir dürfen eintreten in den Sohn – und finden und sagen so sein „Abba“ zum Vater. Hier können wir leben – hier aber haben wir auch unseren Auftrag. Auch von uns soll dieses Eine bleiben, auch für uns soll dieses Eine unser „Name“ sein: Wir haben den Namen, den der Vater uns in Jesus gegeben hat, den anderen kundgetan (vgl. Joh 17,20).