Im Konkurrenzkampf der Weltanschauungen

[54] Göttliches Mein und Dein

Nicht erst seit Marx und nicht allein im Sinne von Marx ist die Entfremdung ein Grundproblem der Menschheit. Der Mensch weiß sich zur Freiheit geboren, nur als freier ist er eins mit sich selbst, und nur in einer Gemeinschaft von Freien können Menschen einig werden miteinander. Gebunden zu sein an den Stoff, unter Gesetzen und Zwängen zu stehen, die seine Freiheit hemmen, dies hat den Menschen seit altersher derart bedrängt, daß er zu falschen oder doch schiefen Lösungen griff, zu einem Dualismus, der die Materie, das Leibliche als „Entfremdung“ des Geistes betrachtete, die es zu überwinden gilt. Die Erfahrung der Entfremdung gewann in der Neuzeit eine andere Grundgestalt. Die Teilung der Gesellschaft in Klassen, in Habende und Herrschende auf der einen, in Habenichtse und Abhängige auf der anderen Seite wurde gerade im Zeitalter der Industrialisierung zur Triebfeder der Unruhe in der Menschheit, ihrer großen Umwälzungen und Gefährdungen – und dasselbe droht sich zu wiederholen heute, im Zeitalter der Einen Welt. Die Entfremdung des Menschen ist die Entfremdung der Menschen. Nur wenn ihnen die Güter dieser Welt, nur wenn ihnen die materiellen – und geistigen – Grundlagen und Möglichkeiten des Daseins [55] füreinander und miteinander verfügbar sind, nur wenn die einen nicht zum bloßen „Stoff“, zur gebrauchbaren, beherrschbaren, bestenfalls widerständigen Masse in der Hand der anderen werden, ist der Mensch frei. Das Problem der Entfremdung verschiebt sich indessen noch einmal. Wir leben in einer weltweiten Gemeinschaft aller mit allen; denn alle sind aufeinander angewiesen, sind beteiligt am einen gemeinsamen Prozeß des Produzierens und Konsumierens, der in der Leistung des einen die Lebensbedingungen für den anderen enthält. Ist solche Angewiesenheit aufeinander nicht eine Chance für die Gemeinschaft aller mit allen, für die Überwindung der Trennung zwischen den Menschen – aber auch für die Freiheit des Menschen? Das gemeinsame Planen und Wirken macht ihn doch zum Herrn seiner eigenen Zukunft. Dennoch, die Klage über die „Gewalt“ war wohl kaum einmal so laut wie heute. Welche Gewalt drückt indessen heute den Menschen, welche Gewalt macht ihn heute zu ihrem „Stoff“ und entfremdet ihn so sich selbst? Es ist die Gewalt des „Apparates“, der perfekten Beherrschung und Nutzung der Welt, ihrer Möglichkeiten und Güter. Alle Menschen sind miteinander verbunden in diesem Apparat; aber was sie in ihm verbindet, ist das [56] Interesse, die Notwendigkeit, die Funktion. Gerade dadurch sind sie als Menschen aufs neue isoliert, hineingedrängt in eine noch tiefere Einsamkeit. In ihr können sie miteinander, in ihr kann der einzelne mit sich selbst nichts mehr anfangen. Der Sinn entschwindet. Die Menschen sind einander, der Mensch ist sich selber tiefer entfremdet als je. Die politisch erkämpfte und organisatorisch gesicherte Überwindung sozialer und ökonomischer Ungleichheit allein genügt nicht, um die Entfremdung des Menschen aufzuarbeiten. Die Einsamkeit des Menschen, seine Fremdheit zum anderen und darin zum eigenen Ich bleibt bestehen, wo die Beherrschung der Welt und die Verbindung miteinander im bloß Funktionalen sich erschöpfen. Doch es wäre ein falscher Schluß, diese personale, existentielle Entfremdung von den konkreten Bedingungen des Lebens in Welt und Gesellschaft trennen und „in sich“ lösen zu wollen. Die personale Not des Menschen um den Dialog, um den Sinn, um die Freiheit ist verbunden mit seiner Leibhaftigkeit, mit Wirtschaft und Gesellschaft. Solange nicht der ganze Mensch mit sich identisch ist, erfährt er sich m Spannung zu sich selbst, ist er entfremdet. Der „ganze“ Mensch aber – das ist der Mensch aus Leib und Seele, der Mensch, der „Person“ ist und „Welt“, [57] der Mensch nicht für sich allein, sondern der Mensch gemeinsam mit den anderen, der Mensch in der Menschheit. In letzter Konsequenz ist der Mensch nur eins mit sich, wenn er eins ist mit dem Ursprung und dem Ziel, die er nicht in der Hand hat, wenn er eins ist mit Gott. Er ist das Heil des Menschen, der Entfremdung antwortet die Erlösung. Sie kann nicht gemacht, sie kann nur geschenkt werden. Alles Fabrizierenwollen eines irdischen Paradieses, alle Hoffnung, die totale Befreiung des Menschen innerweltlich zu erreichen, müssen scheitern. Und doch ist der Glaube an die Erlösung der stärkste Impuls, um realistisch, in nüchterner Einschätzung des Möglichen, schon hier und jetzt daran zu arbeiten, daß der Mensch zum Menschen, zur Menschheit, zur menschenwürdigen Welt und so zu einem Höchstmaß an Freiheit findet. Denn der Glaube weiß, daß Gott das Heil des ganzen Menschen will, und auch das Leben hier und jetzt gehört zum „ganzen“ Menschen. Dieses Leben hier und jetzt soll Zeichen, Hinweis werden auf das, was Gott über alle Möglichkeiten der Geschichte hinaus am Menschen wirken will. Wohin soll der Glaubende blicken, um eine Orientierung zu finden, die ihm bei seinem Wirken in der Welt den Weg weist zur Lösung der dreifachen Ent-[58]fremdung und Unfreiheit des Menschen: der Entfremdung und Unfreiheit gegenüber sich, gegenüber den Mitmenschen, gegenüber der Welt? So paradox es klingt: er soll blicken auf Gott selbst, auf Gottes dreifaltiges Leben. Gott ist eins, aber nicht einsam, er ist Gemeinschaft. Gottes Sein bei sich ist nicht statisches Bleiben in sich, sondern lebendige Beziehung, in menschlich bedingter Verzeichnung gesprochen: Sich-Verlassen des Vaters zum Sohn und des Sohnes zum Vater hin im Geist. Die eine Person ist ganz für die andere da. Jesus sagt, daß er, der Sohn, den Vater verherrlicht habe und vom Vater verherrlicht werde (vgl. Jo 17,1). In diesem „geschichtlichen“ Verhältnis des menschgewordenen Sohnes zum Vater und des Vaters zu ihm spricht sich das innergöttliche Geheimnis selbst aus. Wir können nur bildlich von ihm sprechen. Verherrlichen heißt zugleich „erheben“. Der Vater erhebt den Sohn, der Sohn den Vater. Jeder stellt sich sozusagen „unter“ den anderen, wird zum Hintergrund, auf dem dieser erstrahlt. Der Sohn sagt: „Alles Meine ist dein und das Deine mein“ (Jo 17,10). In der Hinwendung zueinander schenkt jeder dem anderen sich und alles. In der kühnsten Überspitzung ausgedrückt: Der eine macht sich zum „Stoff“, in welchem der andere Gestalt gewinnt, zu [59] dem, was ihm ganz und gar zur Verfügung steht. Johannes Chrysostomus nennt einmal Mein und Dein ein kaltes Wort, aus dem unzählige Arten von Zwist und Krieg entstehen. In der Übereignung des Vaters an den Sohn und des Sohnes an den Vater, in dieser „innergöttlichen Gütergemeinschaft“, werden Mein und Dein zum Ansatzpunkt einer neuen Freiheit und Einheit zugleich. Paulus selbst verknüpft das Verhältnis der Christen zueinander mit dem Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Mit dem Gehorsam, mit der Selbstentäußerung des Sohnes gegenüber dem Vater und mit der Verherrlichung des Sohnes durch den Vater begründet er die Forderung, daß in der Gemeinde jeder den anderen höher einschätzen soll als sich selbst (vgl. Phil 2,1–11). So ist in der Radikalität innergöttlicher Gemeinschaft gerade das vorgebildet, was unter uns Menschen Überwindung der Entfremdung bedeuten kann: Der eine ist mit sich selbst identisch, indem er ganz da ist für den anderen, doch dieses Dasein füreinander ist zugleich die Verwandlung des „Stoffes“, der objektiven Gegebenheiten, Möglichkeiten und Widerstände in Mitteilung und Gestalt der Liebe zum andern, in Lebensraum für ihn. Die Person wird zum „Stoff“, in dem der andere Gestalt gewinnt; das „Stoffliche“ wird zur Gabe, in der die Person [60] sich gibt – und beide, Person und Stoff, aber auch Ich und Du werden ihrer Trennung und Entfremdung enthoben, zu sich und zueinander befreit. Es wäre gewiß verkehrt, daraus nun sofort „soziologisches“ Groß- oder Kleingeld machen und ein System von Gesetzen und Organisationsformen für die Gesellschaft entwerfen zu wollen. Und doch hat das am dreifaltigen Leben Gottes Abgelesene ungeheuerliche Konsequenzen für die Gesellschaft. Christen können den Ruf Gottes als Ruf zu solcher Gemeinschaft verstehen: Gemeinschaft miteinander, in der alles Haben und Verfügen zum Dasein füreinander, für die anderen, aller Zwang der Gesetzmäßigkeiten zur Bahn freier Kommunikation, alle Arbeit zur Inkarnation des Du-Sagens wird. Auf solche Weise werden Christen zum Sauerteig in der Gesellschaft, ihre Gemeinschaft im Haben der geistigen und materiellen Güter, im Arbeiten, Dienen und Schenken wird zu einem Lebensrhythmus, der inmitten der Entfremdung der Menschen Maßstäbe zu ihrer Überwindung sichtbar macht und Wegweiser zu einer Heimkehr aus der Entfremdung wird. So besitzt es in der Tat eine innere Logik, wenn die radikale Wahl Gottes im Leben der ersten Fokolarinnen (Näheres über die „Bewegung der Fokolare“ durch die Bücher und Zeitschriften des Verlags [61] Neue Stadt“), ihr Erkennen der Einheit als des göttlichen Lebensrhythmus für den Menschen den frühesten Ausdruck gerade im Aspekt der Gütergemeinschaft gefunden hat. Er verwandelt Gesetze der Trennung, der Not und der harten Arbeit in die Chance der Liebe und der Gemeinschaft, er verwandelt zugleich den Wert und das Zeugnis evangelischer Armut in das beglückende Zeichen der Liebe, in der wir Anteil haben am Reichtum göttlichen Lebens schon hier und schon jetzt.

Eine Sache für wenige, speziell dazu Berufene? In der „Stoßrichtung“ gewiß nicht. Innerer und äußerer Austausch der Güter und der Nöte, Transparenz der Arbeit und der Verhältnisse, des Leistens und Leidens auf den Stellenwert für die anderen und fürs Ganze hin werden immer breiter und immer radikaler zur Bedingung für die Menschlichkeit der Gesellschaft und ihrer Strukturen. Das erdrückende „Es“ muß aufgeschlossen, muß „getauft“ werden aufs Du und aufs Wir hin. Verordnen und erzwingen kann man das nicht. Menschlichkeit der Gesellschaft durch nur verordnete Strukturen – das schlägt um zur Unfreiheit eines neuen Totalitarismus. Menschlichkeit ist nicht „machbar“. Aber um so dringender tut das Zeugnis, tut das konkrete, freie „Anfangen“ mit dem [62] Leben der neuen Menschheit not. Sie läßt sich hier und jetzt nicht vollenden, aber sie läßt sich hier und jetzt beginnen.