Wahrheit und Zeugnis
[54] Vorüberlegungen
Der Glaube an eine geschichtlich ergangene Offenbarung wird vermittelt durchs Zeugnis. Zumindest der Sache, vielleicht nicht im gleichen Ausmaß auch der reflexen Ausdrücklichkeit nach ist daher das Zeugnis einer der zentralen Begriffe christlicher Theologie. Besonders deutlich wird dies in der fundamentaltheologischen Frage nach den Zugängen zum Glauben. Hier wird von der Glaubwürdigkeit der geschichtlichen Zeugnisse für die Gottesoffenbarung in Jesus gehandelt. Doch nehmen Rang und Dringlichkeit der Frage nach dem Zeugnis im Innern der Theologie nicht ab. Was ist das wahrhaft Bezeugte der als solche angenommenen Zeugnisse der Offenbarung und ihrer verbindlichen Überlieferung in der Kirche? Wie ist das Leben der Glaubenden angefordert, um selbst als gültiges Zeugnis dem Anspruch der geglaubten Offenbarung zu entsprechen? Wie können schließlich gegenwärtiges Wort und gegenwärtiges Leben Wort und Leben des Glaubens so weiterzeugen, daß es heute als Wort und Leben des Heiles für den Menschen verstanden und angenommen wird? Exegese, historische Theologie, Dogmatik, Moraltheologie und praktische Theologie haben es also mit dem Zeugnis zu tun, noch anders als jede Wissenschaft aufs Zeugnis, auf die Vermittlung des unmittelbar Entzogenen und nicht durch Reflexion oder Experiment Herbeistellbaren angewiesen ist.
Doch was ist das überhaupt, ein Zeugnis? Diese Frage, zurückfragend hinter die Zusammenhänge historischer Zuverlässigkeit und hinfragend auf das Zeugnis als Phänomen geistigen Lebens überhaupt und so auf den Zusammenhang dieses Phänomens Zeugnis mit dem, [55] worum es allem geistigen Leben geht, mit der Wahrheit: diese Frage nach Wahrheit und Zeugnis wird von der Theologie der Philosophie, der Besinnung des Denkens übergeben.
Ihre Klärung ist ein Dienst der Philosophie an der Theologie dessen diese bedarf; denn als Offenbarung ist das Wort Gottes eingelassen ins Menschenwort, es gibt als das aus dem menschlichen unerdenkbare und unherstellbare Wort des Anspruchs und Zuspruchs Gottes sich doch hinein ins Gehör und Gespräch des Menschen.
Heute wird allerdings die Verwiesenheit von Theologie und Philosophie aufeinander so grundsätzlich und vielfältig in Frage gestellt wie noch selten. Die fragenden Stimmen erheben sich einerseits von der Theologie her, die Ansätze der frühen dialektischen Theologie wirken heute noch weithin nach. So ernst das Bemühen der Theologie zu nehmen ist, sich radikal und unmittelbar im Wort Gottes zu gründen, so wenig kann indessen doch die Dynamik dieses Wortes Gottes selbst außerhalb des theologischen Blickfeldes bleiben; und dies ist die Dynamik der ursprünglichen Richtung dieses Wortes: es spricht in das menschliche Verstehen hinein und setzt sich so seinen Strukturen aus, die im Denken vom Denken und das heißt doch: philosophisch zu erhellen sind. Es ist gerade die Souveränität des Wortes Gottes, daß es Wort Gottes bleibt, indem es sich selbst die Knechtsgestalt des Menschenwortes zumutet. Hier tritt das Phänomen des Zeugnisses in unseren Blick: Das Zeugnis erbringt die Wirklichkeit, von der es zeugt, in den Horizont derer, denen es Zeugnis gibt. Daß das Bezeugte den Hörern nicht selbst verständlich ist, verschränkt sich im Zeugnis damit, daß es ihnen doch verständlich wird. Im Zeugnis ist die Stätte zu vermuten, an welcher sich unvermischt und ungetrennt die Gleichzeitigkeit von göttlichem Geheimnis und menschlichem Denken gewährt.
Nicht minder wird gegenwärtig von seiten der Philosophie her das Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie fragwürdig. Es genügt, an die Position von Karl Jaspers zu erinnern, etwa in seinem Buch „Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offen- [56] barung“ oder an die Kontroverse zwischen den Berliner Professoren Weischedel und Gollwitzer.
Dem je weiterfragenden Denken der Philosophie erscheint ein Glaube hier unannehmbar, der auf endgültiger Bindung an ein geschichtlich endliches Wort beruht. Doch gerade um der universalen Offenheit des Denkens willen bleibt der Philosophie die Aufgabe, das aus dem Denken nicht Erstellbare, in der Erfahrung nicht Verifizierbare, in der eigenen Existenz nicht unmittelbar Berührbare, aber dem Denken in der Mittelbarkeit des Zeugnisses Zugesprochene in ihren Gesichtskreis einzubeziehen, nach Wesen und Sinn des Zeugnisses von sich her also zu fragen. Auch von der Philosophie aus bestätigt sich das Zeugnis als die Stelle, an welcher das Denken sich selbst der Möglichkeit eines Anspruchs stellen muß, der sich den unmittelbar-einsamen Möglichkeiten des Denkens versagt.
Das Zeugnis ist nicht Allgemeinbegriff, der die verschiedenen „Fälle“ von Zeugnis in sich einebnete. Zeugnis ist vielmehr das je Unversehene, Einmalige und so eine Kategorie, die dem unvergleichlichen und ungeschuldeten Charakter der Offenbarung angemessen erscheint. Weil umgekehrt aber das philosophische Denken von sich her nicht nur alles in seine Helle hineinfragt, sondern sich über alle seine Ableitbarkeiten hinausfragt in die Gewärtigkeit für den je neuen und anderen Aufgang der Wahrheit, ist das Zeugnis auch als genuines Thema philosophischen Fragens gesichert.