Linien des Lebens
[57] Das Wort
Kürzlich kam ich ins Gespräch mit einem führenden Politiker aus einem ehemals kommunistischen Land. Schier unvermittelt erzählte er mir, daß er bislang Christentum und Religion nicht gekannt habe, daß sie für ihn wie nicht existent waren. Und nun sei er der Bibel begegnet und könne es einfach nicht fassen, daß es solche Worte gibt.
Begegnet uns nicht häufiger das Gegenteil? Menschen (vielleicht zählen wir zu ihnen), die ein Leben lang mit diesem Wort umgingen, auf es gebaut, es ernst genommen haben – und nun wird es immer blasser, fremder, schwächer; es trägt nicht mehr. Das Wort läßt uns wehrlos gegen die vielen Einwände in uns und um uns, die es in Frage stellen.
Unser Jahrhundert ist ein Jahrhundert des aufgehenden wie des verstummenden Wortes. Die geistlichen Aufbrüche, Bibelbewegung, liturgische Bewegung, ökumenische Bewegung und viele andere, hängen mit einem neuen Sinn für das Ursprunghafte, Lebendige des Wortes Gottes zusammen. Zugleich aber tritt das Wort Gottes von seinem die Gesellschaft prägenden Rang zurück in die Nischen [58] des Privaten, es reiht sich ein in die vielfältigen Marktangebote von Sinnstiftungsversuchen.
Die Erfahrung von Vollmacht und Ohnmacht des Wortes, von Not mit dem Wort und Ergriffensein vom Wort ist indessen nicht erst von heute, sie begleitet von Anfang an die Geschichte des Glaubens und Unglaubens. Viele Texte des Neuen Testamentes aus seinen unterschiedlichen Schichten entfalten diese Problematik. Am schärfsten tritt sie uns vor Augen im Johannesevangelium. Die „harte Rede“ Jesu führt dazu, daß viele, auch von den Jüngern, sich von ihm trennen. In den „Worten des ewigen Lebens“, die Jesus hat und gibt, liegt zugleich der Grund dafür, auch gegen Widerstände bei ihm zu bleiben, die Jüngerschaft durchzutragen (vgl. Joh 6,66–69).
Das Schwergewicht des johanneischen Reflektierens über das Wort liegt indessen nicht so sehr in der Entfaltung seines Inhaltes. Der Ursprung des Wortes im Vater und unser Bleiben im Wort sind das Entscheidende. Im Wort springt Gottes dreifaltiges Leben über in unsere Geschichte, in das Verhältnis der Jünger zu Jesus und in unser Verhältnis zueinander. Das Wort ist der Funke, in dem dieses göttliche Leben zündet, so daß wir im selben Licht und Leben entbrennen, die das innerste Geheimnis Gottes sind.
[59] Drei Schritte können uns helfen, die johanneische Botschaft in ihrer Mitte zu erfassen; von hier könnte sich auch uns selber ein neues Verhältnis zum Wort schenken, wenn die Hinführung dazu in unserem Kontext auch knapp und spröde ausfallen muß.
Erster Schritt: Es ist eines der größten Geheimnisse des menschlichen Wesens, daß wir einander überhaupt zu verstehen vermögen – und dies über Sprachgrenzen hinweg. Aber wie sind wir dessen sicher, daß wir uns verstehen, daß unsere Deutung der Sprache des anderen auch die seine ist? Wir können es wohl nur am Verhalten ablesen, an der Weise, wie wir aufgrund der ausgetauschten Worte auf dieselben Anlässe eingehen, wie wir aufeinander reagieren.
Das gilt aber nicht nur für die nach Völkern und Regionen verschiedenen Sprachen. Auch innerhalb einer solchen Sprache gibt es das Nichtverstehen. Oft entdecken wir: In denselben Worten sprechen wir keine gemeinsame Sprache. Eine solche meint einen gemeinsamen Boden, auf dem die Worte zusammenkommen, einen gemeinsamen Horizont, in dem sie einander und in dem sie alles erhellen, Verstehen und Austausch ermöglichen.
Hier nun ist der Punkt, an dem das bei Johannes, aber auch bei Paulus und in den Synoptikern von Verstehen und Nichtverstehen der Botschaft Jesu [60] Gesagte zugänglich wird. Nur wer wagt, auf die neue Beziehungsebene anzuspringen, die in Jesus eröffnet ist, kann das Wort verstehen. Nicht einzelne Aktionen, sondern eine fundamentale Bereitschaft der Öffnung und Umkehr erschließen diese Sprache, erschließen das Wort. Freilich ist dieses Verstehen des Wortes, dieses „Anspringen“ auf die neue Ebene des Verstehens, nicht erzwingbar. Wiederholt wird uns gesagt: Es muß „gegeben“ sein, es ist der Geist, der Verstehen ermöglicht (vgl. Joh 6,65). Er ist es, der in unserem eigenen Wollen und Mühen wirkt und ihm Licht gibt.
Zwei fundamentale Mißverständnisse stehen heute dem lebendigen und ganzheitlichen Verstehen des Wortes entgegen. Da ist zum einen die fundamentalistische Spielart: Gottes Wort wird als objektive Vorgabe betrachtet, die einfach akzeptiert und angewandt werden muß, dann klappt alles automatisch. Das Wort wird hier aus seiner lebendigen Beziehungsgeschichte herausgenommen und zum Objekt, zum Material. Zum andern nimmt man das nicht mehr als Wort Gottes an, was aus geschichtlichen und kulturellen Kontexten „erklärbar“ ist. Man übersieht, daß Gottes Wort, sich in der Geschichte offenbarend, gar nicht anders „kann“, als sich hineinzubegeben in eine Fülle von kulturellen und religionsgeschichtlichen Verflochtenheiten und Abhängigkeiten. Gottes Wort ist da im Menschenwort.
[61] Zweiter Schritt: Im Johannesevangelium ist von höchster Bedeutung der Anspruch Jesu, daß er sein Wort nicht aus sich selber sagt, sondern vom Vater her. Er erfindet nicht ein Wort, sondern er übersetzt das Wort. Er kommt aus der Ur-sprache, aus seinem ewigen Gespräch mit dem Vater, um dieses Gespräch uns zu eröffnen, es hineinzutragen in unser Dasein. Dann aber ist dieses Wort, das uns hineinzieht ins göttliche Gespräch, mehr als bloß Werkzeug, um uns etwas mitzuteilen oder zu vermitteln. Es schenkt uns Eintritt in den Lebensraum Gottes selber. Jesus begegnet uns im Johannesprolog als das Wort, in dem Gott sich seit Ewigkeit her göttlich ausdrückt – aber auch als der Sohn, der am Herzen des Vaters ruht und personaler Zeuge des Vaters für uns ist (vgl. Joh 1,1.18). Er ist Ausdruck (Wort) und Partner (Sohn) des Vaters, Wort und Antwort in einem. Aus der Beziehung zum Vater kommend, in ihr bleibend, stiftet er zugleich die Beziehung Gottes zu uns. Diese Beziehung aber wird unweigerlich im selben Atem Beziehung zueinander: Wir sind nur im „Sprachspiel Gottes“, wenn wir eins sind, wie Vater und Sohn eins sind (vgl. Joh 17,11.20–23). Nur in der lebendigen Beziehung zu Jesus und durch Jesus zum Vater, zu Jesus und durch Jesus zueinander erreichen wir jene Ebene, in welcher das Wort und die Sprache, die Jesus ist und die Jesus bringt, sich uns erschließen.
[62] Dritter Schritt: So aber verstehen wir, was bei Johannes aufleuchtet als der Inhalt, als die Sache des Wortes: Zum einen ist es die Botschaft von dem Gott, der liebt und aus Liebe seinen eigenen Sohn für die Welt hingibt (vgl. Joh 3,16). Zum andern ist es die Botschaft davon, daß unser Bleiben im Wort Bleiben in der Liebe ist, so wie eben Jesus uns bis zum Letzten geliebt hat (vgl. Joh 15,9–13). Und schließlich wird offenbar, daß diese Liebe eine Geschichte hat und eine Geschichte ist: Kommen Jesu vom Vater in die Welt, Heimgehen aus der Welt zum Vater, um uns die Wohnung zu bereiten und uns als Liebende ins Leben und in die Herrlichkeit des Vaters endgültig hineinzunehmen (vgl. Joh 16,28).
Hindurchhören durch alle Erfahrungen auf diese Liebe, gegen alle Widerstände und Enttäuschungen ihre Spur für sich selber und für andere sichtbar halten, aus dem Ich, aus dem Maß des eigenen Mögens und Bedürfens hinüberschreiten zu der Logik der sich verschenkenden Liebe: Führt ein anderer Weg als dieser zu einer neuen Mächtigkeit des Wortes in unserem Leben und in unserer Welt? Ein augustinisches Wort aufgreifend und weiterführend: Verstehe, um zu lieben, liebe, um zu verstehen!