Leben aus der Einheit

[57] Einheit und Identität. Das neue Ich in einem anderen Verhältnis zu Zeit und Zeitlichkeit

Es ist beinahe schon banal, die Erfahrung zu benennen, daß wir selbst uns oft fremd werden, daß unser Leben an uns vorbeiläuft und wir es wie von außen betrachten. Unser Leben scheint in viele Abschnitte zu zerfallen, die offensichtlich nichts miteinander zu tun haben. Wer ich war und werden wollte und wer ich jetzt bin und vielleicht einmal sein werde – das steht in einem harten Widerstreit oder gar in einem interesselosen Nebeneinander. Innere Identität zerfällt, gleichzeitig lösen sich auch nahe und einst tragende Lebensbeziehungen zu anderen auf, und Lebensentscheidungen zerbrechen. Was eigentlich ist der Grund dafür?

Wenn wir oft sagen, die Not um unsere Identität und damit die Not um unser Leben, um unsere Persönlichkeit, gründe in einer Zeitnot, so heben wir nicht in erster Linie ab auf den Terminkalender, der notorisch zu gedrängt ist oder aber, wenn er es nicht ist, uns einer merkwürdigen Leere ausliefert; Zeitnot reicht tiefer. Ich habe keine Zeit für mich oder besser: Meine Zeit bringt mich nicht zu mir selbst. Ich laufe in mir eher mir davon, als wahrhaft [58] mir zu begegnen. Die vielen Eindrücke, die auf mich einstürmen, verbinden sich nicht miteinander zu einer Erfahrung, von der ich sagen könnte: Ja, das ist mein Leben, ja, das bin ich. Bernhard von Clairvaux sagt im Blick auf den kommenden Herrn: „Geh deinem Gott entgegen bis zu dir selbst.“1 Wir dürfen dieses Wort variieren: „Geh dir entgegen bis zu dir selbst.“ Wir haben viele Wege, die uns offenstehen, aber der eine scheint verbaut, der Weg von mir bis zu mir. Die vielen Wahrnehmungen und Eindrücke führen mich von mir weg, sie „zerstreuen“ mich, aber sie führen nicht wieder im Gegenzug zu mir zurück.

Mit ein bißchen Aufatmen und Ausatmen allein ist es da nicht getan, so wichtig dies sein kann. Es geht offenbar um eine noch tiefer reichende Einstellung meiner zu mir, meiner zu meiner Zeit. Philosophisch – mit Variationen in der Geschichte zwischen Aristoteles und Kant – ist der Ort der Zeit das Ich, die „Seele“, welche die vielen Eindrücke, die sich durchkreuzen, dadurch in eine Ordnung bringt, daß sie von ihr eingeordnet werden in die Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Zeit ist eine Anschauungsform der Wirklichkeit, ein strukturelles Mittel des Ich, sich das Ganze des Erfahrenen und Erlebten überschaubar und gefügig zu machen. Die Konzeption, die hinter einem solchen Zeitverständnis steht, hat durchaus ihren Grund und ihr Recht. Gäbe es nicht die Orga- [59] nisationsform der Wahrnehmung des Wirklichen in Vorzeitigkeit, Gleichzeitigkeit und Nachzeitigkeit, so liefe in der Tat nichts, vermengte sich alles.

Doch gerade dies stößt auf einen existentiellen Einwand, der aus einer fundamentalen Zeitnot geboren ist oder zumindest auf sie verweist. Die menschliche Seele, das menschliche Erkennen ist, wie Aristoteles es in das abendländische Denken eingebracht hat, angelegt darauf, alles zu versammeln, alles zu „sein“. Ich will alles erkennen, mich allem stellen, in alles vordringen – von der inneren Dynamik des Erkennens her geht dies gar nicht anders – und zugleich alles gliedern und ordnen, wofür eben die Zeitdimensionen eine erhebliche Rolle spielen.

Ich bin überzeugt, daß der Hirt in den Gebirgen Sardiniens nicht weniger, sondern mehr von diesem „Alles“ versteht als der hochinformierte Medienmensch unserer Metropolen. Und daß ihm die Zeitdimensionen mehr von der Wirklichkeit sagen als unsere erschöpfenden Aufsammlungen geschichtlichen Materials. Die Kraft des „Alles“ und die Kraft der Anschauungsform „Zeit“ hängen nicht ab von der Quantität, die wir in dieses Alles und in diese Anschauungsform einfüllen. Doch umgekehrt geschieht etwas Bedenkliches: Wir werden vom immer wachsenden Material des Wahrgenommenen dermaßen umlagert und bedrängt, daß unser Gefüge, auch und gerade unser Zeitgefüge, von innen her seine ordnende, gliedernde Kraft einbüßt. Zumindest sind wir so sehr von der Wahrnehmung und Bewältigung des Materials in Anspruch [60] genommen, daß nicht mehr wir dieses Material beherrschen, sondern dieses Material uns beherrscht. Die Freiheit, dem Material gegenüber zu sein und in diesem Gegenüber von ihm neu zu uns als der Mitte zu finden, ist begrenzt.

Der hier theoretisch angerissene Tatbestand hat eine jedem unmittelbar zugängliche Erlebnisseite. Wir sind täglich so vielen Informationen ausgesetzt, in so viele unterschiedliche Welten hineinversetzt, von so vielen verschiedenen Ansprüchen in Beschlag genommen, daß wir, überwältigt von alledem, kaum mehr eine glaubwürdige und tragfähige Einheit des Ganzen in unserer Person, in unserem Leben vorfinden. Es gibt da zumindest drei Strategien, in denen wir spontan versuchen, mit dieser Ohnmacht fertig zu werden, die indessen alle nicht bis zur Einheit des Lebens und des Selbstseins durchdringen.

Die erste Strategie: Ich lasse nur noch selektive Wahrnehmung bei mir selber zu. Ich ignoriere vieles von dem, was mir begegnet, schotte mich ab gegen bestimmte Erfahrungen und Bereiche der Wirklichkeit und entwickle gleichzeitig Reaktionsmuster, die ich nicht mehr an der Begegnung mit der Sache oder der Person ausweise, sondern als unabänderliche Vorwegnahmen und Vor-Urteile in mein Leben einbringe. Im gar nicht so weit entfernt liegenden Extremfall führt das zur Entwicklung von Ideologien. Nicht mehr aus der Öffnung für die Sache, nicht mehr aus der nie abgeschlossenen Begegnung mit der Wirklichkeit, sondern aus „Not- [61] wehr“ gegen das „Zuviel“ und „Zu-Kompliziert“ bestimme ich meine Weise, mit dem Nächsten, mit der Geschichte, mit der Welt, mit den Werten und Wirklichkeiten umzugehen. Ein Stück weit geht es nicht anders, wird der Einwand nicht weniger lauten. Aber die Resignation, daß es so sei, schläfert die Gegenkräfte gegen gefährliche Ideologiebildungen bedrohlich ein.

Die zweite Strategie möchte ich mit dem Wort „Reaktionsspaltung“ beschreiben: Ich lebe auf verschiedenen Bühnen und spiele auf ihnen nicht nur verschiedene Rollen, sondern lebe auf ihnen auch unterschiedliche Einstellungen und Grundentscheidungen. Ich bin im Gottesdienst der frömmste Mensch – aber in meinem politischen Verhalten entdeckt niemand etwas von meinem Glauben. Ich bin Protagonist der Familienpolitik – aber wehe, wenn jemand zuhause hinter die Kulissen schaut. Die Welt wird aufgespalten in verschiedene Lebenswelten, in ihnen entwickle ich verschiedene Verhaltensweisen, aber eine gegenseitige „Aussetzung“ meiner Einstellungen aneinander, ein Suchen nach einer umgreifenden Einheit unterbleiben.

Verwandt damit und im Ansatz doch verschieden davon ist eine dritte Strategie: Spaltung meiner Lebenszeit. Die Intensität der Erfahrungen, die Macht der Bedürfnisse und die Überforderung meiner Kräfte des Durchhaltens und Bestehens sind zu stark, um einen durchgehenden und durchtragenden Lebenssinn zu gewährleisten. Das Alles wird aufgelöst in den beliebigen Ausschnitt, die Zeit garantiert nicht mehr die gefügte Einheit des Ganzen, [62] sondern erschöpft sich in der pragmatischen Bewältigung des Jeweils. Lebensformen, Lebensbeziehungen, Lebensentscheidungen wird der Anspruch und Sinn von Endgültigkeit nicht mehr zuerkannt. Die Einheit und Beständigkeit des Ich, des Charakters, der Biographie werden grundsätzlich in Frage gestellt. Genügt es nicht, im Jeweils innerlich plausible Erfahrungen zu machen, sich ihnen anzuvertrauen und sie gelassen wieder aufzugeben, wenn sich Neues und anderes zeigt? Erscheint nicht alles andere als Ideologie, als künstlicher Überbau? „Alles“ heißt immer wieder „etwas Neues“; so werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht in eine Konsequenz und Kohärenz hinein zusammengebunden, sondern sie flottieren im Wellenspiel der je neuen Kombinationen.

Dies alles ist nicht aufgeführt, um über die Gewissenlosigkeit, die Schlechtigkeit und Dekadenz unserer Zeit zu lamentieren. Tatsächliche Überforderungen und Ratlosigkeiten treiben in die genannten Richtungen, und es gilt durchaus, die Anfragen an klassische und überlieferte Seh- und Lebensweisen zuzulassen. Dennoch bleiben die Fragen: Wer bin ich? und: Was ist die Welt? Selbstverlust, Weltverlust, Verlust jener Solidarität, die Leben und Zukunft ermöglicht, können in der Tat nicht die Lösung sein.

Am Anfang unserer Überlegungen zum neuen Verständnis von Einheit versuchten wir, die Aporie des Ansatzes beim absolut gesetzten Ich in den Blick zu nehmen. Es ging uns um die Erweiterung des An- [63] satzes beim Ich durch das Er, Du und Wir. Sein, so zeigte sich uns im Zugang zum und Ausgang vom dreifaltigen Gott, ist Beziehung. Liegt es nicht nahe, hier auch Spuren zu suchen, die zu einem neuen Verstehen von Zeit führen? Zeit wäre dann nicht mehr zuerst eine Anschauungsform des Ich, sondern von allem Anfang an eine gegenwendige beziehentliche Grundweise, Sein zu empfangen und zu verstehen. Ich bin in dir, du bist in mir, dasselbe ist in uns, wir werden aus diesem Sein ineinander und aus diesem Sein im Einen jeweils neu; Bleiben und Wandeln bedingen und durchdringen sich gegenseitig. Und was zwischen den Partnern der Zeit spielt als ich, du, wir, er, das spielt so zugleich zwischen den Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir können das Zeitgeschehen am ehesten benennen mit jenem Wort, das uns im trinitarischen Denken des Johannesevangeliums beschäftigt hat: Perichorese. Ich stehe als dieser einzige und einzelne nicht allem anderen nur gegenüber, sondern dieses Gegenübersein ist zugleich Innesein im anderen und Innesein des anderen in mir. Mit der Zeit ist genau dasselbe geschehen, was mit dem Ich geschah. Es bleibt die Einmaligkeit meines unvertretbaren Lebens und Sterbens, meiner Verantwortung, aber die Sache dieses Lebens und Sterbens und dieser Verantwortung ist das Ganze, das Eine, das, was als Wesen in meinem Ich anwesend ist, ist jene umfassende und vielfältige Beziehung.

Es könnte sich die Frage erheben, ob eine solche Sicht von Zeit wirklich befreit oder noch mehr überfordert, ob hier Einheit des Lebens entsteht oder ein [64] mich mir nur um so mehr entfremdender Überdruck, der die Einheit des Lebens kraft der Vielheit der wahrzunehmenden Beziehungen von innen her sprengt. Doch dieser Eindruck kann nur entstehen, sofern latent eben doch das Ich als das eigentliche Zentrum der Zeit betrachtet wird, das Ich also mit der Last zusätzlicher Beziehungen beladen wird. „Ist“ das Ich selbst unterscheidende und einende „Beziehung“, dann nehmen sich die Dinge anders aus.

Wie können wir aber solche neue Zeitlichkeit leben, wie kann unser neues Ich seine neue Zeiterfahrung machen und bestehen? Der Ansatz zur Antwort ergibt sich mir auf einem „trinitarischen Umweg“. Ein Wort des Bernhard von Clairvaux erschließt ihn mir: „Quod (filius Dei) ab aeterno sciebat per divinitatem, hoc aliter temporali didicit experimento per carnem.“ „Was der Sohn Gottes seit Ewigkeit schon wußte durch seine Gottheit, das lernte er auf andere Weise durch ein Zeitexperiment im Fleische.“2

Recht verstanden, ist die Ewigkeit „nichts anderes“ als die zuvor in ihrer Beziehentlichkeit dargestellte Zeit, nur daß eben die Einheit der ineinander sich gebenden und auseinander sich empfangenden Pole absolut unzertrennbar ist: Hingabe ohne Verlust, Entäußerung in gleichzeitig ganzer Erinnerung. Nun aber wird hier vom Sohn Gottes gesagt, daß das, was er in der Ewigkeit lebt – und er lebt nichts anderes in der Ewigkeit als seine [65] Einheit mit dem Vater im Geist –, nun von ihm im Medium der Zeit gelebt werden will, indem das Wort eben Fleisch wird, unsere eigenen Existenzbedingungen auf sich nehmend, sich in sie hineingebend. Hier wird also unsere Zeitlichkeit zur Lebensform Gottes; die andauernde Entfremdung möglichen Selbstverlustes in der Zeit wird vom Sohn Gottes übernommen als Ausdruck der höchsten Liebe und Gemeinschaft mit uns, als Gleichzeitigkeit des Ewigen mit uns in der Zeit. Unser Leben, unsere Zeit wird mitgelebt von Gott in der Menschwerdung, im Leben und Sterben seines Sohnes. Im menschgewordenen Sohn Gottes ist unsere Zeit geborgen, ist sie gerettet, ist sie nicht nur über sich selbst hinaus in ewiges Leben geöffnet, sondern auch in sich selbst Teilhabe am ewigen Leben, Teilhabe an der Einheit Gottes, an seiner dreifaltigen Beziehung. Der Verlustcharakter von Zeitlichkeit, das Jetzt nicht festhalten zu können, die Zukunft nicht vorwegnehmen zu können, wird Gemeinschaft mit der liebenden Hingabe des Sohnes an den Vater und hört so auf, die Einheit des Lebens und des Menschseins zu verderben; vielmehr wird sie erneut ermöglicht und geschenkt. Wenn Jesus sozusagen im Experiment der Zeitlichkeit das „erlernt“, was er als Sohn Gottes in Ewigkeit ist, vermag und besitzt, dann gilt dieses selbe in der Umkehrung auch von uns: Indem wir unsere Zeitlichkeit auf uns nehmen, „erlernen“ wir Ewigkeit für jetzt und für ewig.

Aber nochmals: Wie geht das? Wie gelingt es uns, aus diesem zunächst spekulativ wirkenden Gedan- [66] ken in jene Lebensform und in jenen Lebensstil vorzustoßen, die ursprünglich mit diesem Gedanken gemeint sind? Unsere Zeit, ihre Beziehentlichkeit ist geborgen in Gottes Ewigkeit durch die Teilhabe des ewigen Gottes in der Menschwerdung seines Sohnes an unserer Zeit. Die Ganzheit unseres Lebens, die Einheit unseres Lebens, die Kohärenz unserer Zeit sind in ihm, der uns angenommen und übernommen hat. An uns aber ist es, in diesem einen kleinen Jetzt, in diesem einen kleinen Augenblick das zu adoptieren, das uns zu eigen zu machen, was unser in Gott geborgenes Leben ist. Nicht ich schweiße aus den ungezählten Stücken und Schichten die Einheit meines Lebens und meiner Zeit, sondern ich lasse sie mir schenken. Ich bin hineingetauft in die Einheit des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes durch den Sohn, der meine Zeit, mein Leben in sich genommen und in diese seine dreifaltige Beziehung getragen hat.

Gibt es eine Alltagsgestalt für ein solches aus und in der Liebe des Dreifaltigen geeintes Leben? Glatte Formeln zu suchen wäre falsch. Dennoch sind mir drei Impulse, wenn ich so sagen darf, „strukturell“ wichtig geworden auf diesem Weg, die Taufe meiner Zeit und meines Lebens nachzuvollziehen: „Vater, in deine Hände“ – „Das Wort leben“ – „Eins sein durch Seinen Geist“.

Ich stehe also in der Beziehung zum Vater, der mich liebt, der mir aus Liebe seinen Sohn und seinen Geist schenkt: „Er hat seinen eigenen Sohn nicht verschont, sondern ihn für uns alle hingege- [67] ben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?“ (Röm 8,32) Und deswegen sagt Paulus dann: „Denn ich bin gewiß: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Gewalten der Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38–39) Der Vater hat mir alles gegeben – er hat alles Meine angenommen: in Jesus. So kann ich dem Vater immer neu alles in die Hände legen und werde es aus seinen Händen wiederbekommen, verwandelt, von innen her anders. Normalerweise sagt man: „Hilf Dir selbst, dann hilft dir Gott“. Für den Christen aber gilt: „Laß dir helfen von Gott, dann kannst du auch dir selbst helfen“. Gerade wenn ich es Ihm anheimgebe und weiß, daß es auf jeden Fall Seine Sache ist, kann ich auch das Meine tun. Andernfalls ist Gott der Lückenbüßer, der auch das noch tut, was ich nicht kann; Gott aber ist alles in allem (vgl. 1 Kor 15,28). Unsere eigene Reife als Mensch mißt sich so an der „Reife“ des Kindes im Evangelium, das dem Vater alles läßt. So wird das „Abba, Vater!“ (Mk 14,36) angesichts der Wirklichkeit, die wir leben, zur inneren Grundbewegung unseres Herzens.

Was folgt daraus für meine Zeit? Im Grunde habe ich immer Zeit. Aber ich habe diese Zeit nur diesen einen Augenblick lang. Wer alles, was geschieht, [68] immer wieder abgibt in den Vater, der lebt den gegenwärtigen Augenblick. Er stellt sich ganz in diesen Augenblick: Jetzt bist nur du da, der andere kommt später. Jetzt bedrängt mich nicht die Sorge um das, was war oder sein wird; es gibt Einen, der sich ihrer annimmt. Meine Zeit steht nicht mehr unter dem Druck, im einen Augenblick zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bewältigen zu müssen. Sondern ich habe alles, was war, und alles, was kommt, weggegeben und stehe nur im „Jetzt“. Das ist nicht banale Lebenskunst sonniger Gemüter, gilt es doch, im Jetzt die Radikalität und den Ernst von Vertrauen, Einsatz und Hingabe zu leben – aber nicht weil und indem ich das kann, sondern als immer neu unselbstverständlich gegeben und erbeten von Ihm her. Auch und gerade die Ohnmacht, loszulassen und sich freizugeben, kann und wird zur Bitte an Ihn werden. So zu leben ist „unmöglich, aber leicht“ – eine Formel übrigens für die Handlungsweise der Kinder. In dieser Linie liegt es, wenn Jesus uns zur „Sorglosigkeit“ mahnt (vgl. Mt 6,31) und unser Menschsein unter das Maß der Lilien und der Spatzen stellt (vgl. Mt 6,26–28).

Das ist tatsächlich eine Umkehrung der Werte! Wir werden wie Gott, der den einen ewigen Augenblick lebt; weil wir alles in seinen einen ewigen Augenblick gelegt haben, „haben“ wir diesen Augenblick. Und dadurch sind wir frei und können Zukunft wagen. Das ist Umwendung unseres ichbezo- [69] genen Lebens in die trinitarische Beziehung. So wie der Sohn auf die Stunde harrt und nur im Augenblick lebt und sagt: Jetzt ist die Stunde noch nicht gekommen! und: Jetzt ist die Stunde da (vgl. Joh 2,4; 17,1), so lerne auch ich mit dem Vater zu leben. Das ist die erste fundamentale Weise, um uns der Einheit unseres Lebens anzunähern. Die Einheit unseres Lebens „geschieht“ im Augenblick.

Dieses dreifaltige Leben hat eine zweite Dimension. Sie heißt für mich: das Wort sein, das Wort leben. Wenn wir unserem Tag eine Überschrift geben sollten oder gar unserem ganzen Leben, müßten wir wahrscheinlich lange danach suchen. Viele Überschriften – ja. Aber eine Überschrift? Dennoch: Gott hat unserem Leben schon eine Überschrift gegeben, die Überschrift Seiner Liebe. Er hat über alles, was in unserem Leben war, ist und kommt, das Wort Seiner Liebe geschrieben – nicht als Formel, sondern persönlich und lebendig: als seinen einzigen, geliebten, Mensch gewordenen Sohn.

Meine innere Einheit suchen heißt Sein Wort suchen, in dem Er sich mir sagt und mich mir sagt. Wer hingegen nur in sich seine eigene Identität sucht, um der Selbstentfremdung und dem Zerrissenwerden zu entgehen, der spinnt sich um so tiefer in sich selbst ein und läuft Gefahr, sein Leben in immer kleinere Abschnitte zu „parzellieren“. Wenn er aber bereit ist, auf das Wort zu achten, in dem er sich geschenkt und gesagt ist, dann hat er seine Identität im Hören und Antworten. Letztlich ist [70] mein Leben nur eins, wenn ich ein Gerufener bin. Sonst werde ich zum Produkt der Determinationen, der Festlegungen von außen, und ich „bin“ dann gar nicht. Oder ich „bin“ das jeweilige Produkt meiner immer neuen Entwürfe vom Nullpunkt aus – und wiederum „entfällt“ die Einheit meines Lebens und meines Ich.

Ich kann nur mit mir identisch sein als ein Geschaffener, als mir zugeeignet von Ihm. Gott hat in Jesus mich mir zugesprochen, indem er sich mir zugesprochen hat: „Ich will dein Nächster sein. Ich will dein Bruder sein, ich will mit dir sein, ich will dein Leben teilen. Was ich seit Ewigkeit weiß, das will ich mit dir an deiner Seite, in deinem Leben lernen in einem zeithaften Experiment in deinem Fleisch, in deiner Zeit, in deinem Leben.“ Und genau das wird mir mitgeteilt durch sein Wort. Das Wort, das Er ist, das Wort, das von ihm her ich selber bin, erschließt sich im Wort, das als das Seine uns gesagt ist in der Offenbarung.

Wo Christentum in unserer Welt neue Lebendigkeit und Überzeugungskraft gewinnt, da ist das Wort Gottes in dieser seiner unverbrauchten Buchstäblichkeit im Spiel. Dies ist etwas von Grund auf anderes als jener Fundamentalismus, in dem das Wort mir zu einer magischen Formel oder zu einer Keule des Rechthabens wird, um mit allem fertigzuwerden. Wie mein „Fleisch“, mein Leben, meine Geschichte in das Innerste und Eigenste des menschgewordenen Wortes gehören, so gehört auch die Vielfalt von Denkformen, Überlieferungsströmen, historischen Bedingtheiten ins „absolute“ [71] Offenbarungswort. Und so ist auch in seiner Geschichte mit und in uns das Wort je neu.

Das Wort ist ein Zuspruch, der uns beständig neu ins Leben hebt. Franz von Assisi, Ignatius von Loyola, Camillus von Lellis, Martin Luther – für sie alle und ungezählte andere ist es Sein Wort, das sie trifft und sie verwandelt. Und nur wenn wir uns auf dieses Wort einlassen, wird etwas in uns neu. Wenn ich mein Leben so gestalte, daß darin das Wort „Lebensform“ ist und nicht mehr nur ein „Lebenselixier“, das ich dann in die vorgegebene Form meines Lebens gieße, wenn ich umgekehrt selbst „Wort werde“ und dieses Wort dann in mir lebt, Subjekt wird in mir: Dann erst kann ich leben, dann bin ich frei, dann „habe“ ich eine neue Zeit.

So beginnt das Wort mein Verhalten zu prägen, so „buchstabiert“ es immer mehr mein Leben. Meine Beziehungen, meine Ängste, meine Freuden, meine Zukunft, meine Vergangenheit, meine Lebenszusammenhänge, meine Arbeit sind von diesem Wort so geprägt, daß ich selbst zu einem lebendigen Wort werde. Dadurch bin ich gerade nicht sklavisch an einzelne Worte gebunden, sondern erlebe die Fülle und Weite des ganzen Wortes Gottes, die sich im jeweiligen Wort zeigt und mein eigen wird. Meine Identität und meine Zeit „sind“ Sein Wort. Je im Augenblick gilt es, mich unter das Zeugnis des Wortes zu stellen; gerade so, auf dem je unabsehbaren Nachfolgeweg mit seinen unplanbaren Schritten, wächst meinem Leben seine Einheit und meiner Existenz ihre Gestalt zu.

Ich werde eins mit mir, indem ich mich aus der [72] Hand gebe, mich je neu im Augenblick dem Vater anvertraue. Ich werde eins mit mir, indem ich mich loslasse an Sein Wort, das mich mir zuspricht, das mich ruft, das mir den Weg der Nachfolge Augenblick für Augenblick zeigt und mich so – in der Unbekümmertheit um mich selbst, im alleinigen Suchen des Reiches Gottes – meine Lebensgestalt und meine Identität finden läßt. Ich werde eins mit mir, indem ich durch Seinen Geist eins werde mit den anderen, indem ich nicht in Abgrenzung, sondern in gegenseitiger Öffnung so lebe, daß der Herr die Mitte zwischen uns zu sein vermag (vgl. Mt 18,20). So wird er auch meine eigene Mitte werden – dies die dritte Dimension dreifaltigen Lebens.

Meine Zeit wird nur „ganze“ Zeit, wenn sie „geteilte“ Zeit ist. Nicht in der Realisierung eines mir von mir vorgegebenen Planes, sondern in der Bereitschaft des je neuen Eingehens auf dich, des je neuen Mich-Einsmachens mit dir wächst mir jene Lebensgestalt zu, die dann nicht die meine ist, wenn sie bloß die meine ist. Wenn Sein als solches Beziehung ist und nur in dieser Beziehung Selbststand gelingen kann, dann hat mein Leben seine Einheit nur im Austausch des Lebens, in jener Perichorese, Gütergemeinschaft, gegenseitigen „Verherrlichung“, die uns als Grundbegriffe göttlichen und menschlichen Lebens im Johannesevangelium begegnet sind. Es geht nicht um ein Aufgesogenwerden vom anderen, nicht um eine Erstickung des Dialogs in der [73] Monotonie. Ich bin nur ich selbst, wenn ich größer bin als ich, wenn ich mich aufs Ganze und aufs Absolute hin übersteige. Dieser Überstieg aber ist nicht zusätzlich zu meinem Sein in mir, sondern mein Sein in mir geschieht gerade in diesem Überstieg. Daher ist mein Ich-Akt eben zugleich Du-Akt und Wir-Akt. Der Geist ist in der Dreifaltigkeit gewissermaßen die Ausdrücklichkeit dieses Austauschs, dieser immanenten Selbstübersteigung – und nur aus dem Geist kann auch die Selbstübersteigung Gottes nach außen, die Schöpfung, die Selbstmitteilung in der Offenbarung und schließlich die radikale Selbstmitteilung in der Inkarnation des Sohnes geschehen. Mich in dir, dich in mir sehen und in und zwischen uns das eine Leben und die eine Liebe sehen, dies ist unser Seinsakt, in dem wir allein den Zusammenhang unseres Lebens und unserer Person vollziehen. Das „Neue Gebot“ (vgl. Joh 13,34) und das „Testament“ Jesu (vgl. Joh 17,21–23), die geistgewirkte gegenseitige Liebe, die uns befähigt, eins zu werden miteinander, wie und weil Vater und Sohn eins sind, bezeichnen nicht nur unseren trinitarischen Auftrag, sondern auch und gerade unser personales Sein, unsere Identität, die Einheit unseres Lebens in uns. Nicht indem ich eins bin mit mir und nachträglich Beziehungen aufnehme, gelingt dieser Zusammenhang, sondern indem ich mich überschreite, mich einsmache mit dir und darin mich entdecke in dieser polaren Bezogenheit der Gemeinschaft mitein- [74] ander. Nicht vom Ich zum Wir, sondern vom Wir zum Ich: das ist der „neue Weg“ des Geistes. Gerade wenn wir diesen Weg ganz ernst nehmen, entdecken wir, daß er nicht ein Weg der Selbstzerstörung und Selbstaufgabe ist, sondern der Weg in jene Weite und Tiefe, die Leben und Person einsmachen.


  1. Nachzulesen in der Brevierlesung am Freitag der zweiten Woche im Advent, Lesejahr I. ↩︎

  2. Vgl. Bernhard von Clairvaux: De gradibus humilitatis et superbiae III, 6–10. ↩︎