Das Wort für uns

[57] Wo das Wort finden?

Funkantenne auf einem Wagen, der kreuz und quer durch die Straßen einer Stadt fährt und dabei diesen Spruch, jenen Wortfetzen, irgendein Geräusch auffängt: ist das nicht Bild für unser Leben? Immer empfangen wir irgend etwas, immer streift oder trifft uns ein Eindruck, ein Impuls, ein Wort. Informationen, Stimmungen, Meinungen: alles wird in uns eingespeist, alles wird, kaum daß wir uns wehren können, in uns eingespielt, es drängt sich in unser Leben hinein und macht sich zu seinem Inhalt.

Aber wir hören nicht nur, wir empfangen nicht nur, wir sind nicht nur fremdbestimmt. Nicht nur Antenne, sondern auch Sender. Beständig geht etwas von uns aus, geben wir etwas weiter in unseren Reaktionen und Aktionen, in dem, was wir sagen, aber auch in dem, wie wir [58] dreinschauen, in dem, was wir sind. Wir hören beständig ein Wort, wir sagen beständig ein Wort, aber welches? Wechselnde Worte, undeutliche Worte, eine verschwommene Klangtapete, ein zusammenhangloses Hin und Her kontrastierender Worte? Sage mir, was du sagst, und ich sage dir, wer du bist.

Am Grab eines lieben Bekannten sagte kürzlich der Priester, in den paar Tagen seit dem Tod dieses Menschen sei ihm bei vielen Stellen der Heiligen Schrift aufgefallen: Dieses Wort paßt genau zum Leben des Verstorbenen, es bringt zum Ausdruck, wer er war. Ich fragte mich, könntest du dir eine schönere Inhaltsangabe für dein eigenes Leben, ja für das Leben eines jeden Christen vorstellen als die, Spiegel, gelebte Gestalt der Worte Gottes zu sein?

Und doch sträubt sich in uns etwas dagegen. Unser Leben will ein Wort sagen, aber es will nicht nur Repetition anderer Worte sein, es will durchstoßen zum eigenen Wort. Die großen Künstler haben unverwechselbar und einmalig ihr je eigenes Wort in ihrem Werk formuliert, die großen Menschen insgesamt haben es formuliert durch ihre Existenz. Finde dein Wort, [59] trag es durch gegen Widerstände, laß es unbeirrt von allem, was dich ablenken will, Gestalt werden in deinem Leben! So ungefähr ließe sich die Leitvorstellung eines Humanismus kennzeichnen, für den Menschsein sich vollendet in der Individualität, in der Persönlichkeit, Gewiß, nicht jeder kann und soll ein kleiner Goethe oder Albert Schweitzer sein. Aber in seinem Bereich, in seinen Grenzen muß er doch darum ringen, das bloße „man“, die bloße Anpassung, das bloße Klischee zu überwinden und sein eigenes Profil zu finden, er selbst zu werden.

Erfahren wir indessen nicht unübersehbar die Grenzen eines solchen Ideals? Ist es für den Menschen nicht zuwenig, nur sich selbst aufzuführen, ins Leben der Gesellschaft und der Menschheit nur sein Ich einzubringen? Sollte das Wort, das ich mit meinem Leben sage, nicht viel eher ein Wort sein, das größer ist als ich? Sollte sich mein Leben nicht in den Dienst stellen für eine Idee, die tiefer gründet als nur in mir, die weiterreicht als nur bis zu mir? Bin ich nicht gerade dann ich selbst, wenn ich selbstlos zur Verfügung stehe für eine Botschaft, für ein Wort, für eine Sache, die nicht nur mich angeht, son- [60]dern alle, die nicht nur mein Leben prägen kann, sondern das Leben vieler, ja vielleicht sogar Gesellschaft und Welt im ganzen verändern will? Aber auch hier wiederum: Grenze. Wer die größeren Worte zu seinen eigenen macht, der kann zum Eiferer werden, der kann sich selbst auffressen lassen und ein Feuer nähren, das auch andere auffrißt. Fanatismus und Ideologie sind nicht selten Folge, die aus einem edlen Idealismus, aus einem lauteren Engagement fürs Höhere und Größere herauswächst. Individualität oder Idee oder auch ihr Kompromiß: in diesem Feld scheint die Lösung nicht zu liegen, wie der Mensch das Wort finden kann, das sein Leben lohnt.

Also doch vielleicht jener Mensch, an dessen Leben sich Worte, wirkliche Worte ablesen ließen, die ein anderer gesagt hat? Die Enge der Beschränkung aufs eigene Ich, aber auch die Namenlosigkeit einer bloßen Idee ist hier aufgehoben in die lebendige Beziehung, ins konkrete Gegenüber: ich, aber nicht nur ich; etwas anderes, aber kein namenloses anderes, sondern ein anderer, ein Du. Worte, wirkliche Worte, menschliche Worte sind von dieser Art. Und wo [61] sie mein Leben prägen, da kann dieses Leben wahrhaft menschliches Leben sein.

Alles freilich kommt darauf an, welchem Du ich begegne, von welchem Du ich mir das Wort sagen lasse. Jener, der nur mein Wort entbindet, ließe mich letztlich doch nicht über mich hinauskommen; jener, der mich nur überwältigt, drohte mich zu überfremden - und die Verfallenheit an ein Du ist nicht weniger Zerrform als die Verfallenheit an mich selbst oder an eine Ideologie; jener, der nur, genauso vorläufig und armselig wie ich, mir sein Wort liehe als Inhalt meines Lebens, könnte den Kreis auch nicht aufsprengen. Aber gibt es überhaupt ein anderes Du, gibt es überhaupt ein anderes Wort? Menschen, die lebendige Erfahrung mit dem Wort Jesu gemacht haben, können es uns bezeugen: es gibt dieses andere Du, es gibt dieses andere Wort.