Dein Herz an Gottes Ohr
[58] Gebet ist Schrei
Nirgendwo verdichtet sich Gebet bis zum Innersten und Äußersten wie in Jesu Sterbegebet. Der Schrei der Gottverlassenheit, mit welchem der 22. Psalm anhebt, hat Jesus in die Todeshingabe an den Vater geleitet. In diesem Schrei wird alles das, was nicht Gebet ist, Gebet. Der sich selbst hineinhält in die äußerste Ferne von Gott, um sie in sich zum Vater zu tragen, er „betet“ die Verzweiflung, die Gottesferne der Menschheit, er „betet“ alles Warum, ja allen Protest der Menschheit und erlöst so allen Aufschrei ins Gebet hinein.
Daß er, der Gerechte, für uns zur Sünde (vgl. 2 Kor 5,21), zum Fluch (vgl. Gal 3,13) geworden ist, wird hier greifbar. Aber es wird greifbar in seinem – Gebet.
In diesem Gebet liegt eine Erlaubnis und eine Berufung. Die Erlaubnis, alles, was in uns brüllt und schreit, alles, was in uns „warum“ fragt, alles, was in uns nicht Gott ist, zu „beten“, in den Todesschrei Jesu hineinzugeben. Gebet wird eine universale Möglichkeit, ohne Grenzen.
Hier aber ist zugleich ein Ruf an uns, eine Berufung für uns. In allem Schrei, in aller Gottferne in uns und um uns dürfen wir dem begegnen, der dies angenommen und in Gebet verwandelt hat. Wir be- [59] gegnen hier der Liebe, die vor nichts zurückschreckt, der Liebe, über die hinaus eine größere nicht gedacht werden kann. Und so sind wir gerufen, dieser Liebe zu antworten. Genau dort, wo aus Gottes Liebe zu uns unsere Gottferne zum Gebet an den Vater wird, hebt der Brautgesang der Erlösten, das Brautlied der Kirche an. Hier wächst der Dank an die Liebe, der Lobpreis der Liebe jenes „Da-bin-ich!“ einer Bereitschaft ohne Grenzen, aus Liebe seine Liebe zu teilen und weiterzutragen.
Schrei dich hinein in seinen Schrei! Danke seinem Schrei, danke seiner je größeren Liebe mit dem Lied deiner je größeren Liebe!