Das Wort für uns

[62] Menschsein heißt Wort sein

Es waren nicht nur Prophetenworte, die jene hörten, die ihm begegneten, Worte, die als ,,Last Gottes“ über einen Menschen kamen, sich in seinem Leben durchsetzten, ihn beanspruchten bis ins Äußerste und Innerste zugleich, Worte, hinter denen der gleichsam verschwand, der sie ausrichtete. Jesus ist mehr „da“ als der Prophet – aber auch Gott ist mehr „da“. Es geht ihm nur um den Vater, der Vater ist groß.

Aber daß der Vater groß, daß Gott alles ist, dies bedeutet für Jesus nicht nur Botschaft, für die er Zeugnis gibt, nein, er selbst, sein ganzes Leben, sein Eigenstes ist diese Botschaft: Er ist das Wort. Gott hat in ihm sein Wort gesagt, hat sich in ihm ganz ausgesagt, er hat nichts anderes mehr zu sagen als ihn, ihn in seinem Wort, ihn in seinem Leben, Sterben und Auferstehen. Und gerade in dieser ungeheuerlichen Totalität, mit der Gott sich in Jesus uns zusagt und hingibt, sind die Worte Jesu ganz menschliche Worte, ist er selbst ganz unser Menschenbruder. Jesu Leben und Jesu Wort sind nicht der Strahl, der senkrecht vom Himmel fährt und das Geflecht [63] des menschlichen Lebens und der menschlichen Welt verbrennt, Gottes Wort, das Wort, das bei Gott ist und das Gott ist, kommt in Jesus von nebenan, von gegenüber. Es kommt im Mit-Sein, in der Gemeinschaft von Mensch zu Mensch auf uns zu.

In diesem Wort, in dieser Begegnung ist unsere menschliche Situation mit drinnen: Wir hören, wir antworten, wir gehen mit, wir leben mit, wir sind freigelassen, ja freigegeben an uns selbst. In diesem Wort, in dieser Begegnung sind aber auch wir selbst mit drinnen. Wir sind nicht nur Partner zu diesem Wort, sondern unser Innerstes, unser Eigenstes, der Schlüssel zu mir und dir und zur Welt liegt in diesem Wort, er liegt in Jesus. Er ist das Wort, in dem alles geschaffen wurde, auch ich.

Wenn ich Jesu Wort lebe, wenn ich es mit meinem Dasein nachzusprechen suche, dann kommt nicht nur ein Schauspiel zur Aufführung und ich habe darin eine Rolle zu spielen. Nein, daß es mich gibt, daß ich dieser da bin, das ist im Licht dieses Wortes nicht mehr Geschick, blinde Tatsache, Zufall. Daß es mich gibt, daß ich dieser da bin, daß es Welt, diese Welt gibt, [64] ist mir zugesprochen – und das Wort, das mir die Welt und mich selbst zuspricht, finde ich in Jesus und seinem Wort. In ihm finde ich allererst mich und die Welt, ich kann allererst mich und meine Welt identifizieren. Wenn ich mich von diesem Wort beim Namen rufen lasse, entdecke ich erst den neuen Namen, der mich und alles aus der Sprachlosigkeit, aus der Dumpfheit, aus der unentwirrbaren Verschlüsselung herausruft.

Aber stimmt das überhaupt, mache ich nicht so viele rätselhafte Erfahrungen mit mir, mit den anderen, mit der Welt, Erfahrungen der Schuld, aber auch der Tragik, der Sinnlosigkeit und Belanglosigkeit? Wie paßt das zu dem einen Wort, das mir alles, das in allem mir die Liebe und Nähe Gottes zusprechen will? Bricht nicht der Glaube, daß Jesus das Wort ist, in dem alles erschaffen ist, zusammen, wenn wir mit unverbundenen Augen die Wirklichkeit sehen: Wie vieles bleibt da wortlos, beziehungslos, ungedeutet und unerlöst draußen liegen? Daß Jesus das Wort ist, in dem alles geschaffen wurde, ging auch den Jüngern erst auf, nachdem die Bewegung der Fleischwerdung dieses Wortes die [65] Zone der Stummheit, der Unerklärlichkeit, des Todes, der Schuld durchlaufen hatte. Das Wort ist Schweigen geworden, das Wort ist Warumschrei geworden, es heißt von Jesus, er sei zum Fluch und zur Sünde geworden (vgl. 2 Kor 5,21; Gal 3,13). Alles, auch das Wortlose, findet in ihm ein Wort, nicht eine Erklärung, aber die Antwort der Liebe, die größer ist als alles Erklären.

Dieses Mehr läßt sich nicht registrieren, es läßt sich nur erfahren von dem, der das Wort tut, der das Wort lebt. Von Anfang an war Jesu Wort Nachfolgeruf. Jesus selbst ist Wort, das kommt; Wort, das nicht erst im allmählichen Enträtseln der vielen Silben des Lebens, der Welt, der Probleme von unten her ermittelt, herausanalysiert wird, sondern Wort, das sich schenkt, in dem Gott sich selbst schenkt. Einem solchen Wort aber kann nicht bloßes „Fürwahrhalten“, kann auch nicht die bloße Meditation, die Versenkung, die intellektuelle Aneignung und Durchdringung als Antwort genügen. Es entspricht der inneren Logik dieses Wortes, daß es sich an den Menschen selbst, an sein Leben wendet, an das, was er ist. Da gehört das Denken [66] mit hinzu, aber es gehört eben auch die Entscheidung mit hinzu, der Stoff, das „Fleisch“. Allein wer in die Nachfolge Jesu eintritt, findet in ihm, in seinem Wort sich selbst, den Herrn selbst und die ganze Welt.

Nachfolge trägt uns über uns selbst hinaus – und so gerade trägt sie uns selbst. Nachfolge identifiziert uns, indem sie uns entäußert. Nachfolge eröffnet uns das Wort, das Gott ist und in dem alles gemacht ist, und gerade darin entdecken wir unser eigenes Wort. Nachfolge ist das treue Nachsprechen des Wortes, das ein anderer gesagt hat, und gerade so wird dieses Wort zum unverwechselbar eigenen, zum je neuen Wort. Dann aber ereignet sich in diesem Wort eine merkwürdige Doppelbeziehung: Ich spreche dieses Wort, es wird zum Wort meines Lebens, es wird – recht verstanden – zu meiner Tat; aber mehr noch sagt dieses Wort mich, das Wort ist der sprechende, der aktive Part. Ich lasse mir sagen, wer Gott ist, wer ich bin, was die Welt ist - mein Dasein, mein Leben, mein Tun -, und von diesem Wort lasse ich mich selber sagen.

Nicht nur zwischen mir und Gott schafft das Wort neue Verhältnisse, sondern auch zwischen [67] mir und der Welt. Indem ich mich ganz auf Gottes Wort einlasse, indem ich in den wechselnden Strophen meines Lebens es sich selber sagen lasse, wird mein eigenes Dasein zur Interpretation, zur „schöpferischen Exegese“ des Wortes Gottes. Aber in diesem selben Wort, das ich sage und das sich in mir sagt, ist doch auch gesagt, wer du bist, der Mensch neben mir, und was die Welt ist, in der wir leben. Das Wort, das ich in mir trage, ist dir inwendiger als dein Innerstes, es ist inwendiger in den Dingen als ihr innerstes Geheimnis. Das heißt aber nicht, daß ich einen „Trick“ hätte, um an dich und die Welt heranzukommen, um hinter dich und die Welt zu kommen.

Das Wort, das Fleisch geworden ist, hat sich verschenkt, hat sich hingegeben bis in den Tod, es hat das Hören gelernt, das Eingehen auf jene, die in ihm geschaffen sind. So und nur so ist es in seiner ganzen Fülle das Wort, in dem alles drinnen ist. So und nur so, in dieser dienenden Bewegung der Entäußerung, der immer neu horchenden Liebe, des schweigenden Einswerdens bringe ich in die Bewegungen und Beziehungen der Geschichte das Wort ein, in dem [68] Menschen sich und die Welt und Gott entdecken können. Und doch: dies und nicht weniger ist meine Aufgabe, meine Sendung in der Nachfolge des Wortes.

Ist hier nicht etwas Grundlegendes passiert mit dem Menschen? Ich bin davon befreit, nur meinem eigenen Wort nachzujagen, nur meine eigene Persönlichkeit auszuprägen, der Gefangene meiner Einmaligkeit zu sein. Und ebenso bin ich davon befreit, nur ein „Fall“ des allgemeinen Wesens Mensch zu sein, Nummer im Kollektiv, Vollstrecker einer Idee über mir, eines Gesetzes, das mich mit Gesellschaft und Welt zusammenschweißt. Mein Wort ist weder nur das meine noch nur das allgemeine. Ich habe mein Wort zu sagen, aber mein Selbersagen ist ein Mit-Sagen, Mit-Sagen mit Gott und Mit-Sa-gen mit den anderen, mit der Welt. Gott und Welt und Mensch treten ein in die Beziehung, ins Aufeinanderzu, in welchem nichts isoliert und nichts ausgelöscht ist.