Linien des Lebens

[63] Die Mutter

Wer im Johannesevangelium Episoden von bloß biographischem Interesse vermutet, geht an seinem Stil und an seiner Absicht vorbei. Das gilt auch im Blick auf die beiden „marianischen“ Texte bei Johannes, die Hochzeit zu Kana (Joh 2,1–11) und das Wort des Gekreuzigten an seine Mutter (Joh 19,25–27).

In diesen Abschnitten steht ähnlich wie bei Matthäus und Lukas Maria in einer merkwürdigen Spannung. Einerseits begegnen wir einem überraschend zurückweisenden Verhalten Jesu zu seiner Mutter, in dem deutlich wird: Nicht Blutsbande, nicht familiäre Zusammengehörigkeit sind in der Ordnung des Gottesreiches entscheidend, sondern der Glaube; er stiftet eine neue Gemeinschaft, eine neue Weise von Nähe, die alle bloß äußerliche Beziehung überragt. Zum anderen ist gerade die Mutter, an der sich dieser Gegensatz der Ordnungen entlädt, zugleich Trägerin der neuen Ordnung des Glaubens; sie ist die Glaubende schlechthin, sie ist Mutter aus Glauben und im Glauben.

Die Orte in der Lebensgeschichte Jesu, an denen Maria in Erscheinung tritt, sind bei Johannes andere als jene, die wir von den Synoptikern her kennen. [64] Eine „Kindheitsgeschichte“ gibt es bei Johannes im Gegensatz zu Lukas und Matthäus nicht; Maria kommt nicht am Anfang des irdischen Lebens Jesu, sondern am Anfang seines öffentlichen Wirkens in den Blick. Und hernach begegnet sie nicht innerhalb dieses „aktiven“ Lebensabschnittes, sondern eben in der Passion, beim letzten Akt, ehe er alles hineingibt in das vollendende Wort „Mich dürstet!“ und in den Ruf: „Es ist vollbracht“ (vgl. Joh 19,28–30, mit dem ausdrücklichen Anschluß an die vorherige Szene).

Liegt hier nicht indessen eine für Johannes typische Ortsverschiebung vor, wie wir sie auch im Blick auf die Taufe und zumal auf die Eucharistie entdecken, die sich in andere Zusammenhänge – die Begegnung am Jakobsbrunnen (vgl. Joh 4,1–42), die Fußwaschung (vgl. Joh 13,1–20) – hüllen, um in diesen Gegebenheiten ihre Botschaft auszudrücken?

Jesu öffentliches Wirken und Jesu Passion sind bei Johannes umgriffen von den beiden Marienszenen, und es ist schwierig, hierin nicht eine Komposition zu vermuten. In dieser Komposition aber erwecken die Texte den Eindruck, daß hier eine vertiefende und erweiternde Deutung der Marienbotschaft des Neuen Testamentes insgesamt vorliegt. Daß dies vordergründig die Aussageabsicht der Quellen oder der Endredaktion gewesen sei, wird sich schwerlich streng beweisen lassen. Nichtsdesto- [65] weniger führen die Aussagen und ihre Kontexte jene, die sie bedächtig erwägen, von sich her in die angedeutete Richtung.

Blicken wir zunächst auf einige Besonderheiten in der Perikope von der Hochzeit zu Kana.

Daß Maria (ihr Name taucht im Johannesevangelium nicht auf, die Rede ist stets nur von der „Mutter Jesu“) ihrem Sohn den Hinweis gibt, der Wein bei der Hochzeit gehe aus, hat nur Sinn, weil sie schon jetzt – also vor dem ersten Zeichen, das Jesus wirkt – damit rechnet, daß er Abhilfe schaffen kann. Sie bringt also bereits einen Glauben an Jesu Mächtigkeit, die über das Menschenmögliche hinausgeht, mit.

Die in solcher Anspielung an Jesus enthaltene Absicht der Mutter wird von Jesus abgewiesen. Dies bedeutet allerdings nicht, daß Jesus sich nicht zum Diener menschlicher Bedürfnisse und Wünsche machen lassen will, wirkt er doch später dieses Wunder, das Ja sagt zum Fest und Feiern der Menschen, wenn dies auch nicht im Mittelpunkt der Szene steht. Es geht hier vielmehr um jene messianische Hochzeit, zu der Gott in Jesus einlädt und in der er unsere Armut in seine Fülle verwandelt. Die Abweisung trifft eine Motivation wunderbaren Eingreifens, die nur aus der Logik menschlicher Rücksichten erwüchse. Es gibt für Jesus keinen anderen [66] Grund, etwas zu tun oder zu lassen, als den Willen des Vaters, der konkret wird in der „Stunde“. Äußerlich liegt diese „Stunde“ nur ein paar Momente von der des Gespräches zwischen Jesus und seiner Mutter entfernt – und doch liegt ein qualitativ „unendlicher“ Sprung dazwischen, aus menschlicher Gefälligkeit oder aus dem Hinhorchen auf den Willen des Vaters den Augenblick des Handelns zu erhorchen.

Maria, so wird oft und mit gutem Grund gesagt, „beschleunigt“ durch ihren Glauben und ihre Achtsamkeit die Stunde. Und doch ist sie hier nicht zuerst und zutiefst „Mittlerin“ als jene, die sich für unsere Interessen bei ihrem Sohn einsetzt und ihn zum Eingreifen bewegt. Sie hat eine radikalere vermittelnde Funktion. Denn dies ist doch das Erstaunliche: Abgewiesen, wendet sie sich nichtsdestoweniger an die Diener und bereitet sie vor aufs Kommende: „Was er euch sagt, das tut!“ Wenn und wann die Stunde kommt, dann seid bereit, dann stellt euch unter sein Wort. „Mittlerin“ nicht unmittelbar des Wunders ist sie, wohl aber Mittlerin jenes Gehorsams gegenüber dem Wort, der Voraussetzung für das Wunder ist. Wir dürfen die Linie weiterführen: Mittlerin nicht bloß des Wunders ist sie, sondern des Glaubens, dem das Wunder widerfährt, Mutter des Wortes in uns. Von Jesus innerlich „umgebrochen“, ist sie das, was sie für Jesus war, auch für uns: Sie [67] empfängt das Wort, das ihre eigenen Erwartungen und Planungen durchkreuzt, und läßt es aus ihrem Glauben aufgehen in die Welt. So dürfen, ja müssen wir doch die Verkündigungsszene bei Lukas verstehen, die anknüpft an die Glaubensgeschichten des Alten Testamentes mit ihrer Zukunftsmacht und sie überbietend erfüllt. Die einzige und ausschließliche Kausalität Gottes, der die Stunde festlegt und das Wunder geschehen läßt, führt den Menschen nicht ins bloß passive Objektsein zurück, sondern hebt ihn gerade in die Teilhabe an Gottes Wirken hinein. Und nirgendwo ist dies radikaler und fundamentaler der Fall als in Maria, der Mutter des fleischgewordenen Wortes, der Mutter des Wortes auch in uns.

Vom Ansatz her ist die vollendende, bis in ihre Gründe hier nicht auszuschöpfende andere Mariengeschichte bei Johannes sehr ähnlich: die der Mutter unter dem Kreuz.

Sie ist wiederum die „Ausgeschlossene“, jene, die verliert, die ins Weggeben, ins Annehmen des Unbegreiflichen und Unerwartbaren gestoßen wird. Ihren Sohn verlierend, verliert sie ihr Alles. Doch sie wird über diesen Verlust nicht hinweggetröstet, indem nun für sie an Jesu Stelle ein anderer sorgt. Vielmehr wird hier der Fortgang der vollendeten und vollbrachten Geschichte Jesu mit uns grundgelegt. Von der weiteren Glaubensgeschichte her gesagt: Maria [68] wird hier zur theotokos („Gottesgebärerin“) im Jünger, ja in der Gemeinschaft der Jünger und Freunde Jesu; Maria wird eingeschrieben in die Geschichte der Kirche, in jenes Muttersein für die anderen, das nicht in helfender Fürsorge sich erschöpft, sondern im Wachhalten des Wortes und der Liebe, durch die Jesus gegenwärtig ist. Mit Maria fängt dies an – und in der Gegenseitigkeit unseres Mutterseins und Sohn- und Tochterseins (vgl. Mk 3,31–35) geht dies weiter, zeigt sich die Spur, die im Testament Jesu, daß alle eins seien, gelegt ist.

Maria ist einzig und einmalig als die Gottesmutter – Maria ist in uns, wir sind Maria: Beide Aussagen beschneiden und widersprechen sich nicht, sondern klingen zusammen, wie dies uns das letzte Kapitel der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ vor Augen stellt, das, über Maria sprechend, über die Kirche, über die Kirche sprechend, über Maria spricht.

Das Wort und die Gemeinschaft sind Mitte des Vermächtnisses Jesu in der Botschaft des Jüngers, den er liebte. Das Wort und die Gemeinschaft sind die Dimensionen der Mütterlichkeit Mariens über ihre grundlegende und einmalige Aufgabe an Jesus von Nazareth hinaus. Sollten wir diese Maria, Mutter des Wortes und Mutter der Gemeinschaft, nicht auch in uns und unser neues Verstehen von Kirche hineinnehmen?