Und das Wort ist Kind geworden
[64] Zachäus an der Krippe
Ich kenne einen sympathischen jungen Mann, der zur großen Weihnachtskrippe seiner Pfarrkirche jedes Jahr eine neue Figur hinzuschnitzt. Mit dem Kind, mit Maria und Josef sind bereits viele versammelt: Hirten und Könige, Ochs und Esel, Engel und auch der Troß der Weisen aus dem Morgenland. Wer kann jetzt noch hinzukommen? Ich habe da einen etwas verblüffenden Ratschlag, vielleicht fürs nächste Jahr, zur Hand: Wie wäre es mit Zachäus?
Hören wir einmal mit „weihnachtlichen Ohren“ den kleinen Abschnitt aus dem 19. Kapitel nach Lukas an, der von diesem Zachäus spricht:
In jener Zeit kam Jesus „nach Jericho und ging durch die Stadt. Dort wohnte ein Mann namens Zachäus; er war der oberste Zollpächter und war sehr reich. Er wollte gern sehen, wer dieser Jesus sei, doch die Menschenmenge versperrte ihm die Sicht; denn er war klein. Darum lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus zu sehen, der dort vorbeikommen mußte. Als Jesus an die Stelle kam, schaute er hinauf und sagte zu ihm: Zachäus, komm schnell herunter! Denn ich muß heute in deinem Haus zu Gast sein. Da [65] stieg er schnell herunter und nahm Jesus freudig bei sich auf. Als die Leute das sahen, empörten sie sich und sagten: Er ist bei einem Sünder eingekehrt. Zachäus aber wandte sich an den Herrn und sagte: Herr, die Hälfte meines Vermögens will ich den Armen geben, und wenn ich von jemand zu viel gefordert habe, gebe ich ihm das Vierfache zurück. Da sagte Jesus zu ihm: Heute ist diesem Haus das Heil geschenkt worden, weil auch dieser Mann ein Sohn Abrahams ist. Denn der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist“ (Lk 19,1–10).
Ich sah nun im Geist diesen Zachäus am Zugang zu einer großen Krippenlandschaft stehen, dort, wo die Betrachter der Krippe vorbeigehen müssen, ehe sie zur Mitte des Geschehens kommen. Und an dieser Stelle hat mir Zachäus etwas von sich erzählt:
„Als damals Jesus in Jericho war, habe ich mich einerseits für ihn interessiert. Andererseits fühlte ich mich auf dem Maulbeerfeigenbaum, auf den ich wegen meiner kleinen Statur geklettert war, sicher vor ihm. Es war mir klar, er wird an mir vorbeigehen. Und das war mir nicht unlieb. Denn ihn sehen, das wollte ich. Aber mich so direkt auf ihn einlassen, und dies mit all meinem Vorleben und all meinen Problemen, darauf war ich nicht eingerichtet. Ich war Zuschauer, Beobachter, wollte dabei sein, aber mein Herz, mein Leben wollte ich draußen halten. Und dann bleibt dieser Jesus stehen, schaut zu mir hinauf und sagt: Steig herunter, in deinem Haus muß ich bleiben. [66] Und plötzlich war mir dies gar nicht mehr unangenehm. Ich spürte einfach: Da ist eine ungeheure Forderung, aber vielmehr noch: Da ist eine ungeheure Liebe. Da will einer mir persönlich wohl, da ist einer ganz persönlich für mich da. Und so ist in jener Begegnung mein Leben anders geworden.
Nun weiß ich, daß viele Menschen zur Weihnachtszeit gerne Krippen anschauen. Das kann zum Hobby werden, und meistens ist es auch mit frommen Gefühlen verbunden. Aber ich weiß nicht, warum die Leute nicht hören, was das Kind ihnen ganz persönlich sagt. Es ist genau dasselbe, was dieser Jesus damals mir gesagt hat: Steig herunter von deinem sicheren Zuschauerplatz, denn heute mßs ich in deinem Haus bleiben. Eigentlich ist jede Krippe eine Selbsteinladung Jesu bei dem, der an der Krippe steht und sie anschaut: Heute will ich, ja heute muß ich bei dir bleiben. Ich meine, nachdem mir dies damals so unendlich gut getan hat, bin ich es den Vielen, die zur Krippe kommen, schuldig, ihnen die Ohren zu öffnen, damit sie diese Stimme des Kindes hören: Heute muß ich bei dir bleiben!“
Beim Nachdenken ging mir auf: Wir sind Zachäus an der Krippe, jede und jeder von uns können sich in ihm finden. Wir teilen vier Erfahrungen mit ihm.
Das Erste und Grundlegende: Zachäus hat in der Begegnung mit Jesus erfahren, Gott liebt mich grenzenlos und ganz persönlich, Gott wendet sich mir zu.
[67] Und das ist auch die Weihnachtsbotschaft für uns: Sie gilt je mir persönlich. Für mich ist Jesus gekommen, mich hat er im Blick, bei mir will er bleiben. In deinem Hause, in deinem Herzen, in deinem Leben soll mein Platz sein, sagt er uns.
Damit ist aber ein Zweites verbunden: Jesus lässt sich von Zachäus beschenken, Jesus nimmt seine Gastfreundschaft an. Zachäus hat etwas, was er dem Herrn anbieten, womit er dem Herrn helfen kann. Das ist doch das Ungeheuerliche am Weihnachtsgeschehen: Gott macht sich in der Menschwerdung seines Sohnes abhängig von uns, er wird zum Empfänger, zum Beschenkten. Nichts gibt uns eine größere Würde als dies: Wir haben etwas, was wir Gott schenken können. Jeder von uns hat Gott etwas anzubieten. Keiner ist minderwertig, keiner bedeutungslos. Wir dürfen an die Gabe Gottes, die er uns anvertraut hat, glauben und dürfen sie ihm weitergeben.
Diese Linie führt zu einem Dritten: Zachäus wird von Jesus ein neuer Anfang geschenkt. Er wird herausgerissen aus dem Teufelskreis der Versuchung seines Berufes, andere zu übervorteilen, unehrlich und habgierig zu sein. Nehmen wir Jesus auf in das Haus unseres Lebens, dann hat er die Chance, wirklich etwas in uns zu verändern. Ich bin nicht zu mir verurteilt, ich bin von Ihm gerufen, und Er macht mich neu.
Schließlich ein Viertes: Worin besteht der neue Anfang? Antwort: in neuen Beziehungen zum [68] Nächsten. Zachäus geht anders um mit seinen Geschäftspartnern, Zachäus fängt an, Jesu Zuwendung zu den Ärmsten und Kleinsten zu teilen. Und soviel das von ihm fordert, so reich beschenkt ihn das: nicht mehr isoliert, nicht mehr gefürchtet, sondern angenommen, Partner der anderen zu sein. Wer sich selbst zum Kind in der Krippe mitbringt, der wird befreit zu neuen Beziehungen. Er tritt ein in die neue Familie Gottes. Er kann nicht anders, er hört das Wort Jesu: Heute muß ich in deinem Hause bleiben! Und die Herausforderung, die Nächsten, die so fremd und unbequem sind, einzubeziehen in den eigenen Lebensraum und Lebenskreis, sie wird auf einmal zum Weihnachtsgeschenk für uns.
Das ist die Botschaft des Zachäus an der Krippe. Er hilft uns hinhören auf die Stimme Jesu, die uns dasselbe sagt wie ihm: Heute muß ich in deinem Hause bleiben. Ja, er liebt uns persönlich – er läßt sich von uns beherbergen und beschenken – er schenkt uns einen neuen Anfang – er macht unsere Beziehungen neu.1
-
Geistliches Wort im 2. Hörfunkprogramm des WDR am 26. 12. 1989. ↩︎