Dein Herz an Gottes Ohr

[65] Beten heißt: Aufstieg

Die höchsten menschlichen Erfahrungen, die stärksten Zeugnisse von der Größe des Menschen bekunden den Aufstieg, in welchem der Mensch sich löst von sich und hineingeht in die „Wolke“, alles hinter sich lassend, um ganz einzutauchen in Gottes Geheimnis.

Anhänglichkeiten, Fixierungen, alle nur erdenklichen Gestalten der Abhängigkeit überwinden, um in die reine Freiheit zu gelangen, die nichts anderes sucht und hat als Ihn allein, mehr noch, um von sich und allen Geschöpfen „bloß“, nur noch von ihm her gehalten und „gehabt“ zu werden: wir kommen nicht umhin, diesen Weg nach oben als den bleibenden Grund-Weg menschlichen Betens, ja menschlicher Existenz anzuerkennen und anzutreten.

Auch Mose steigt auf den heiligen Berg, und Elia macht sich auf den Weg zu ihm. Doch da ist noch der Berg Morija, auf welchem Abraham den einzigen, geliebten Sohn zu opfern bereit ist.

Auch Jesus steigt auf zum Tabor – aber um abzusteigen in den anderen, radikaleren Aufstieg nach Golgatha.

<sup class="text__reference">[66]</sup> I

Aufstieg vollendet sich im Abstieg. Abstieg ist das innerste Geheimnis des Aufstiegs.

Beten ist Aufstieg, aber Aufstieg im Abstieg und in den Abstieg.

Dies hat drei Gründe und drei Formen.

Der letzte Grund, weshalb Aufstieg nur im Abstieg sich vollendet, ist Gott selbst. Sein Höchstes und Innerstes, er selbst ist Liebe, agape. Agape aber ist Sich-Verströmen, Sich-Verschenken, Sich-Lassen. Ich steige im Gebet auf zu ihm, in seine Liebe, in seinen Abstieg.

Der zweite Grund: Ich bin ganz gefordert, alles in mir ist hineingerufen in die Anziehung nach oben, in das Magnetfeld Gottes. Aber nicht ich erreiche, wohin ich strebe, sondern aus bloß Eigenem versage ich davor. Da ist ein Anderer, der mich nach oben trägt.

Ein dritter Grund: Der Aufstieg ist das Größte und Ganze, aber er ist es je hier, je jetzt. Der, über den hinaus Größeres nicht gedacht werden kann, ist mir ganz nahe im Kleinsten, im Augenblick, im Jetzt. Nur wenn ich mich in dieses Jetzt hineinlasse, erreiche ich Ihn. Jeder Schritt ist der letzte des Aufstiegs. Daß durch diese letzten Schritte des Aufstiegs aber Aufstieg im Ganzen, Aufstieg zur Spitze hin gelingt, das bin nicht ich, das ist der Aufwind des Geistes, der mich trägt.

Aufstieg ist Abstieg hin zum Vater, der sich neigt, der Sich-Neigen ist.

Aufstieg ist Abstieg in den Sohn, der allein mich zum Vater trägt.

Aufstieg ist Abstieg, ist Sich-fallen-Lassen in den [67] Aufwind des Geistes, der von Augenblick zu Augenblick mich trägt.

II

Gehen wir diesen Gang des Aufstiegs mit im Geleit geistlicher Erfahrung der Jahrhunderte:

Johannes vom Kreuz bezeichnet den Rhythmus des Aufstiegs in folgender merkwürdigen Textkurve eines seiner kostbarsten Lieder: „... und sank so tief, so tief, daß ich so hoch, so hoch geriet, daß ich das Ziel erjagte.“

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Von Bonaventura bis hin zu Therese von Lisieux geht durch die geistliche Tradition in mannigfacher Gestalt das Bild vom Sperling, welcher der Mensch ist: Er will vergebens emporfliegen zur Sonne, aber obwohl er es nicht vermag, verzichtet er nicht auf dieses Ziel. Was tut er? Er setzt sich dem Adler auf den Rücken und steigt vom Rücken des Adlers über diesen hinauf, empor ins Licht. Sich dem Rücken des Adlers anvertrauen bedeutet: sich dem menschgewordenen Sohn Gottes anvertrauen, in ihm und mit ihm den Aufstieg wagen.

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Ich möchte die Aufstiegserfahrung eines jungen Bergsteigers mitteilen, die mir zum Gebet wurde, seit ich ihn, einen Theologen, der kurz vor der Prie- [68] sterweihe stand, in seinen letzten Aufstieg zum Vater habe begleiten dürfen:

„Anstrengung ... manchmal denkst Du: nur noch der nächste Schritt geht. Wenn Du das oft genug gedacht hast, bist Du auf einmal oben.“