Linien des Lebens

[69] Einander Geschenk sein

Als ich kurz nach Beginn meines bischöflichen Dienstes in Aachen Papst Paul VI. besuchte, kam er spontan darauf zu sprechen, daß er als junger Mann diese Stadt und ihren Dom kennenlernte. Es habe sich ihm tief eingeprägt, wie das karolingische Oktogon und die gotische Chorhalle sich zur Einheit fügten, sich selbst je einbringend und einander gegenseitig Identität schenkend. Und er fügte hinzu, daß er sich so auch das Verhältnis zwischen Weltkirche und Ortskirche vorstelle. Bei einer späteren Begegnung kam er nochmals auf diese Deutung des Aachener Doms zurück. Sie begleitet mich seither, und ich glaube, sie drückt mehr aus als nur – was schon in sich bedeutend genug wäre – die Beziehung zwischen den genannten Größen Welt- und Ortskirche.

Einander zum Geschenk werden – ist das nicht ein theologisches und geistliches Strukturprinzip für das Leben und den Auftrag der Kirche insgesamt?

Blicken wir etwa auf die Bedeutung der Charismen im Leben der Kirche. Sie sind einzelnen (oder Gemeinschaften) geschenkt, damit diese sie der Kirche als ganzer schenken. Zwischen den verschiede- [70] nen Diensten kann es eigentlich keine Konkurrenz geben, da sie ja der Ergänzung durch andere Dienste nicht nur fähig, sondern bedürftig sind. In der Bereitschaft, sich zu ergänzen und ergänzen zu lassen, tragen sie dieses Ganze mit, bauen es auf. Sicher hat das geistliche Amt in der Kirche den Auftrag, die Unterscheidung der Geistesgaben und die Einheit der Charismen zu gewährleisten, ja der Dienst an der geistlichen Einheit steht in der Mitte seines Leitungsauftrags. Doch die Aufgabe der Unterscheidung ersetzt nicht die zu beurteilenden Geistesgaben und hebt die Angewiesenheit auch der Amtsträger auf ihre im Volk lebende Fülle keineswegs auf. Einung und Unterscheidung gehören zusammen. Die einen sind der anderen bedürftig und sind den anderen zum Geschenk bestimmt.

Unser Eigenes zum Geschenk für die anderen und die Gaben der anderen uns selber zum Geschenk werden lassen – das ist der Stil von Kirche, ja ihr „Ausweis“. Denn daran sollen wir für alle als Jünger Christi und somit als Kirche erkennbar sein, daß wir jene Liebe zueinander haben, die der Herr zu uns hat (vgl. Joh 13,34f.). In ihm wird Gott zum Geschenk für den Menschen. In ihm wird der Mensch wieder zu jenem Geschenk an Gott, zu dem er geschaffen und gerufen ist, in ihm werden wir einander zum Geschenk. „Lumen gentium“, die Kirchenkonstitution des Zweiten Vatikanischen [71] Konzils, bezeichnet das Neue Gebot als das Lebensgesetz der Kirche.

Dieses Lebensgesetz freilich erschöpft sich nicht in einem moralischen „Du sollst“. Es deckt uns die Tiefe des Menschseins, ja die Tiefe Gottes selber auf. Die vielen Linien des Johannesevangeliums laufen im Neuen Gebot und seiner Konsequenz, dem Testament Jesu, daß alle eins seien (vgl. Joh 17,20–23), zusammen.

Drei miteinander zusammenhängende Motive des Johannesevangeliums zeigen uns, wie tief dieses gegenseitige Sich-Lieben und Sich-Verschenken, in welchen das Leben von Kirche geschieht, im innersten Geheimnis Gottes selbst verankert sind.

Das Ärgernis im Leben Jesu ist, bei den synoptischen Evangelien wie bei dem des Johannes, daß er sich Werke und Würde Gottes zugemessen weiß. Jesus führt nun jene, die Anstoß daran nehmen, zu seinem Geheimnis hin, indem er es als Ausdruck der Liebe des Vaters zum Sohn erhellt: Der Vater gibt dem Sohn alles, legt das Seine in die Hände des Sohnes. Es ist auffällig, wie oft gerade dieses Motiv im Johannesevangelium vorkommt (vgl. Joh 3,35; 5,20; 10,17; 17,23). Auf der einen Seite gilt: Der Sohn tut nichts anderes als das, was er den Vater tun sieht und was der Vater ihm anvertraut. Auf der anderen Seite aber ist dieses vom Vater dem Sohn Mitgeteilte [72] Gottes ureigenste Vollmacht, Gottes ureigenstes Werk, etwa Sündenvergebung, Gericht, Erweckung zum neuen und ewigen Leben. Die Gebärde, in welcher der Vater dem Sohn alles überantwortet, ist nun nichts Zusätzliches zum Sein und Wirken des Vaters als solchen, sondern das Inwendigste des Gottseins selbst. Der Vater „ist“ dies: alles Seine dem Sohn schenken und anvertrauen. Die Göttlichkeit Gottes „ist“ diese sich in dreifaltigem Leben verschenkende Liebe.

So sehr diese absolute Lebens- und Seinsgemeinschaft einzig und allein dem dreifaltigen Gott eignet, so sehr prägt sie doch auch sein Wirken „nach außen“ und das, was er in diesem Wirken schenkt, stiftet, in Gang bringt. Wir sind durch Gott allein geschaffen und erlöst – aber er legt es in unsere Hände, Anteil zu haben an seinem Werk. „Gott allein“ heißt nicht: Gott ohne uns, sondern „Gott mit uns“, „Gott und wir“. Dies ist kein Widerspruch, weil Gott eben Liebe ist, die im „und“ und „mit“ aufstrahlt und wirksam wird. Gott wirkt so, daß es uns geschenkt ist, seine Wirkungen nicht nur zu empfangen, sondern mitzuvollziehen und weiterzuschenken.

Dies gilt aber nicht nur in der Vertikalen, von Gott auf uns zu, sondern es ist in dem Geist, den Vater und Sohn einander schenken und der uns geschenkt wird, auch das Wirkgesetz für die Charis- [73] men, für unser gegenseitiges Dienen und Lieben. Die Gaben in ihrer Unterschiedlichkeit werden keineswegs nivelliert, die gegenseitige Verwiesenheit ist entscheidend; aber Teilhabe, Mitwirken, Mitsein sind nicht „Konzession“, sondern „Konfession“, Bekenntnis zu Gottes Lebensstil und Lebenswirklichkeit.

Wir sind in unserer Überlegung bereits auf das zweite Motiv gestoßen: göttliche Gütergemeinschaft. Alles, was des Sohnes ist, ist auch des Vaters, alles, was des Vaters ist, ist auch des Sohnes (vgl. Joh 17,10; 16,15). Die ihr Sein und Wesen gemeinsam haben, haben alles gemeinsam. Hier liegt auch der tiefste Grund für jene Perspektive, die uns die Apostelgeschichte eröffnet: Kirche erwächst nicht nur aufgrund der Auferstehung und pfingstlichen Geistmitteilung, sondern ihr Leben baut sich auf in der Gemeinschaft des Zeugnisses für den Auferstandenen und des Zeugnisses gegenseitigen Austauschs des Lebens und seiner Gaben und Ressourcen (vgl. Apg 4,32–34; 2,42–47). Gütergemeinschaft – ohne daß deren Form und konkrete Verbindlichkeit im Exempel der Urgemeinde festgeschrieben wären – gehört nicht als Anhang, sondern wesenhaft zur Weise, wie wir Kirche sind und als Kirche leben.

Wann haben wir in der Geschichte mehr als heute erlebt, wie tief das Teilen miteinander und das Ein- [74] stehen füreinander unabdingbare Voraussetzung auch für das Leben und die Einheit der Welt, für Gerechtigkeit, Friede und Erhalt der Schöpfung sind?

Die Steigerung und Vollendung finden wir in einem dritten, gerade bei Johannes zentralen, aber keineswegs auf ihn allein beschränkten Motiv: dem gegenseitigen Innesein der Personen (die Theologen sprechen von „Perichorese“).

Weil Vater und Sohn ihr ganzes Wirken und sogar ihr Wesen miteinander und mit dem Geist gemeinsam haben, umfangen Vater, Sohn und Geist sich gegenseitig. Und wir erhalten daran Anteil nicht durch eine bloße zu Gottes oder unserem Sein zusätzliche Gabe; vielmehr gibt sich im Sohn Gott selber in unser Dasein und nimmt Gott unser eigenes Dasein in sich hinein durch die Inkarnation. Wir begegnen dem Menschen in ihm, wir begegnen ihm im Menschen. Daraus aber wächst jene gegenseitige Einheit, die Jesu Testament und das Ziel und die Vollendung von Kirche ist: alle eins, damit die Welt glaube (vgl. Joh 17,20–23).

Einander nicht nur Geschenke machen, sondern einander Geschenk sein, dies ist das Innerste und Äußerste der Kirche, das Innerste und Äußerste Gottes und des Menschen selbst.