Geistige Hintergründe des Terrorismus

[69] I.

Ich will im folgenden nicht die Antwort der deutschen Bischöfe einfach nachentwickeln. Ich möchte vielmehr zuspitzend und in manchem weiterführend, also keineswegs mit der Autorität der Bischofskonferenz gedeckt, eine These wagen, deren Anfechtbarkeit mir bewußt ist. Meine These lautet: Dasjenige, was die Terroristen zu Terroristen macht, dasjenige, was die Unsicheren verunsichert und anfällig macht, und dasjenige, was uns Christen, was unsere Gesellschaft insgesamt so ohnmächtig, so ratlos macht vor dem Terrorismus, hat letztlich dieselben Gründe.

Was meine ich damit? Zunächst sehr abstrakt und allgemein gesagt: Wir sind frei, aber unsere Freiheit ist endliche Freiheit. Darum sind wir nur dann wirklich frei, wenn wir unsere Endlichkeit annehmen und wenn wir zugleich diese unsere Endlichkeit binden an ein unendliches Ziel und seine verbindliche Maßgabe. Menschen, die meinen, ihre eigene Freiheit sei unendlich und könne alles, werden nur zu leicht zornig auf ihre eigene Endlichkeit und zerschlagen alles, was sich ihrer Freiheit in den Weg stellt. Menschen, die glauben, das volle Glück auf Erden und die perfekte Gesellschaft und das ewige Heil manipulieren und aus eigener Kraft leisten zu können, stürzen sich selbst in die Enttäuschung, nehmen ihre Endlichkeit nicht an und werden entweder zu Gewalttätern oder für Gewalttätigkeit anfällig. Die andere Hälfte derselben Alternative heißt: Wer nicht daran glaubt, daß seine Freiheit einem unbedingten Maßstab verpflichtet ist, daß sie sich an einem unendlichen Ziel orientieren muß, daß es absolute Grundsätze gibt, bei dem ist in allerletzter Konsequenz Gewalt gegen Sachen und Personen nicht vollends auszuschließen. Wer auf der einen Seite also keine unbedingte Bindung anerkennt oder wer auf der anderen Seite seine eigene Endlichkeit nicht realistisch übernimmt, ist gegen ein terroristisches Verhalten nicht grundsätzlich immunisiert.

[70] Wie nun stehen wir selber zu unserer Freiheit? Sicher, wir machen die Erfahrung unserer Endlichkeit, aber wir verschleiern uns diese Erfahrung zugleich in einem schrankenlosen Anspruchsdenken. Mit unserer Freiheit alles mögliche haben und erreichen wollen und damit die eigene Endlichkeit, die eigene Begrenztheit überspielen – das ist sozusagen der spießbürgerliche Pakt mit jenem Terrorismus, der im Grunde ebenfalls seine Endlichkeit nicht wahrhaben will. Und wenn wir andererseits in einen bloßen Pragmatismus hineingeraten, dabei natürlich wollen, daß nichts Schreckliches passiert, aber nicht wollen, daß absolute Ziele und letzte Orientierungen unsere Freiheit einfordern, dann paktieren wir mit Verhaltensmustern, die zu einer Anfälligkeit für jenen Terrorismus hinführen, der die Hinordnung unserer Freiheit auf ein unendliches Ziel verleugnet. Für den Menschen, der bloß pragmatisch denkt, der sich nicht an ein letztes Ziel bindet, werden nicht nur die Dinge, wie es in der Erklärung der Bischofskonferenz heißt, zu Wegwerfdingen, sondern ebenso die Werte und Normen zu Wegwerfwerten und Wegwerfnormen, schließlich wird ihm auch sein eigenes Leben zum Wegwerfleben. Nur der Mut zur eigenen Endlichkeit und der Mut zur eigenen Unendlichkeit zugleich, nur die Übernahme dieser doppelten Konstitution unserer Freiheit befähigt uns dazu, dem Terrorismus eine tragfähige Alternative entgegenzusetzen.

Gehen wir in der Aufklärung der geistigen Hintergründe des Terrorismus einen Schritt weiter, indem wir uns fragen: Durch welche Gedankenmuster und durch welche Einflüsse konnten der Terrorismus und sein Sympathisantentum wachsen und konnte zugleich die Widerstandskraft gegen den Terrorismus mehr und mehr ausgehöhlt werden? Offenkundig liegt dies an Gedanken, die in unserer Gesellschaft prägend und führend geworden sind. Um nicht mißverstanden zu werden, ich möchte keineswegs sagen, diese oder jene Philosophen, [71] Soziologen, Psychologen, diese oder jene Publizisten, Politiker trugen die Schuld am Terrorismus. Dies wäre ein zu billiges und ungenaues Verfahren. Aber wir müssen doch damit rechnen – wie oft erschrecken wir vor diesem Phänomen! –; nicht nur das wirkt, was wir oft sehr differenziert sagen, was so und so von uns gemeint ist und auch dasteht, sondern Ideen, Worte, Anstöße wirken selbstmächtig in einen Gedankenkontext hinein, den wir vielleicht nicht genügend in unserem Sprechen mitbedacht haben, und bringen dort von uns nicht vorhergesehene Frucht. Diese furchtbare, aber auch kostbare Kraft unserer Worte, im Herzen von Menschen Wirkungen zu erzielen, muß uns zu denken geben. In einer so medialisierten Gesellschaft tragen wir eine ungeheure Verantwortung für das eigene Wort, für das eigene Beispiel, für die eigene Idee, auch für ein bloß hypothetisch hingestelltes Zielbild. Wir müssen einfach damit rechnen, daß jedes Wort und jede Meinung potenziert weiterwirken können auf andere, weil wir in einer Kommunikationsgesellschaft innestehen wie nie zuvor. In diesem Sinn will ich nun nicht auf einzelne Denker zu sprechen kommen, sondern einmal vier Typen von Gedanken hinstellen, die meiner Meinung nach unseren inneren Widerstand gegen den Terror schwächen und die zugleich Terror hervorrufen können.

Einmal sind hier die vielfältigen Ideologien eines utopischen Fortschrittsglaubens zu nennen. Alle, die glauben, daß der letzte Sinn, die vollendete Gerechtigkeit, die vollkommene Welt herstellbar, innerhalb der Geschichte erreichbar seien, sind im Grunde anfällig für Gewalttätigkeit, um ihre übersteigerten Ziele zu erreichen, wie auch für jene zornige Enttäuschung, wenn sich ihre Ziele als doch nicht erreichbar herausstellen, so daß sie dann zu „Systemverweigerern“ werden, zu Menschen, die keinen Halt mehr, nichts mehr zu verlieren haben. Ideologien einer machbaren Glückselig- [72] keit und Gerechtigkeit sind durch die Enttäuschung, die sie nach sich ziehen, und durch den mangelnden Widerstand gegen Gewalt in der Tat mitursächlich am Aufkeimen von Gewalt.

Eine zweite Ideologie, ein zweites Denkverhalten führt indirekt zum selben. Es ist jenes rein formale Fortschrittsdenken, das alle unerschütterlichen Grundlagen in Frage stellt und von Hypothese zu Hypothese fortschreitet. Für dieses Denken sind alle Wissenschaft und alles Tun bloße Hypothesen, die wir entwickeln, um sie zu falsifizieren und durch bessere Hypothesen abzulösen. Ein solches Fortschrittsdenken, das sich absolutsetzt, wird wiederum gefährlich. Hier entsteht im scheinbaren Verzicht auf jede Ideologie die kühnste Ideologie: daß es nichts gibt, an das ich unbedingt gebunden bin, außer an das ständige Probieren, an die innere Dynamik der Falsifizierung einer jeden These. Das hohe Ethos dieser Wissenschaftlichkeit in sich selbst braucht nicht bezweifelt zu werden. Auch nicht die großen Erfolge, die sie erzielt, indem immer wieder neue Theorien, neue Systeme entworfen werden. Aber in diesem Denken hebt sich gleichsam die menschliche Freiheit vom Boden ab, sie verliert ihren vitalen Kontext, die Tuchfühlung mit der Wirklichkeit, dem Leben, sie verliert jene Bodenständigkeit, deren sie bedarf, um überhaupt noch das Maß des Menschlichen zu ermessen. Und so wird sie unfähig, eine letztgültige Wahrheit anzuerkennen. Die rein formale Fortschrittsideologie eines technischen Denkens, das sich stets weiterentwickelt und alle Werte und Normen nur benützt, um eine Konvention zu erreichen, damit nicht das Ganze auseinanderbricht, dies trägt nicht. Innerhalb eines solchen Denkens entsteht entweder jene tiefgreifende Unzufriedenheit, daß wir in ein System von Konsum und Leistung völlig verplant sind, ohne daß Mensch und Menschlich- [73] keit noch etwas zählen, oder es entsteht die Lust des Probierenwollens: Warum nicht auch einmal so, warum nicht auch einmal die totale Destruktion?

Eine dritte Gefährdung ist jene schon fast zur Selbstverständlichkeit gewordene Haltung, die ich das Ethos der progressiven Hoffnungslosigkeit nennen möchte. In ihr droht die Kritik am je Bestehenden zum Selbstgenuß zu werden. In ihr ist nur eines schick: den einen falschen Ton herauszuhören, kritisch je das aufzuspüren, was nicht geht und nicht stimmt. Freiheit wird allein als die Dynamik verstanden, dieses Negative auszukosten. Ich weiß dann auch schon bei allem, was ich machen werde, daß es ja doch negativ ist, und das treibt mich weiter. Warum auch nicht jenes Nein, jener Ekel gegen alles Bestehende? Selbstverständlich gehört kritisches Denken zur Entwicklung der Gesellschaft hinzu. Selbstverständlich sollen wir nicht alles Bestehende festschreiben, in einem Romantizismus oder Klassizismus die überkommenen Werte so anhimmeln, daß wir keine kritische Distanz mehr zu ihnen gewinnen. Trotzdem können wir Kritik nicht als das einzige Prinzip betrachten und dabei übersehen, welchen Konsens im Positiven die Kritik jeweils voraussetzt, um überhaupt produktiv kritisch sein zu können. Sonst fallen wir in eine ideologische Verkürzung, die zum Stil unseres Lebens nur zu fatal paßt.

Ich muß endlich noch eine vierte Spielart nennen, die indirekt den Terrorismus und ihm nahestehende Geistesarten stützt. Es ist die ängstliche Festschreibung des Bestehenden, das lähmende Selbstmitleid, daß Vergangenheit nicht festzuhalten ist, die Nostalgie, die nach rückwärts gewandt ist und sich kritisch gegen jegliche Neuerung richtet. Dadurch aber macht man gerade das, was man wahren will, im Grunde [74] unzugänglich und zerstört es. Ich bin dafür, daß wir tradieren, aber gerade deshalb müssen wir das Überkommene je einer Neuformulierung ausliefern. Ich bin dafür, daß wir Werte unabdingbar stehen lassen, aber gerade deshalb müssen wir sie je neu nahebringen. Zementierung als Mantel der Angst ist gerade das, was ein System morsch und uninteressant macht, was einem kritisch Suchenden eine Identifikation verunmöglicht.