Dein Herz an Gottes Ohr

[69] „Wenn ich abgestiegen bin ...“

Katharina von Siena schreibt in ihrem „Dialog über die göttliche Vorsehung“: „Durch das Blut deines eingeborenen Sohnes hast du mich neu geschaffen; daran erkenne ich, von dir erleuchtet, daß du von der Schönheit deines Geschöpfes ergriffen bist“ (Kap. 167).

Man unterscheidet, von Liebe sprechend, zwischen Agape und Eros, zwischen der sich verströmenden Liebe Gottes, die einfach sich schenkt, sich nach unten verstrahlt, und der aufsteigenden Liebe, die vom höchsten Gut fasziniert, angezogen ist, um dorthin sich zu übersteigen, um dort sich zu vollenden. Das Neue des Christentums ist die Botschaft von Liebe als Agape, die als Kontrapunkt zur Lehre Platons vom Eros begriffen wird.

Horchen wir aber hinein in den knappen Text der heiligen Katharina von Siena, so zeigt sich: Auch Agape ist Eros, auch sich verströmende Liebe ist anziehende, sich anziehen lassende Liebe. Gott ist von sich selbst, der Vater von seinem Sohn „angezogen“. Er findet den Sohn in uns, die wir in ihm, dem Sohn, erschaffen sind. Wir sind sein geschöpflicher Spiegel. Er findet ihn in uns – und findet ihn in uns, die wir uns durch die Sünde von ihm entfernt haben, gerade nicht. Verläßt er uns? Nein, er sucht den Sohn in [70] uns. Der Sohn, in Liebe zum Vater, kommt zu uns und läßt sich, wo wir sind, finden: in unserem Sündersein, in unserem Sünde-, Fluch-Todsein (vgl. 2 Kor 5,21; Gal 3,13; Eph 2,4f.). Nun findet der Vater den Sohn dort, wo er nicht ist, und findet so uns neu. Wir sind zweimal „sein Sohn“, als geschaffener Spiegel und als vom Sohn angenommene, geliebte, in Liebe verwandelte Abwesenheit des Sohnes. Er ist „wir“ geworden, er hat unsere Gottverlassenheit geteilt – und in ihm sind wir angezogen vom Vater, ziehen wir den Vater an.

„Wenn ich abgestiegen bin, werde ich alle an mich ziehen. Denn dort bin ich erhöht zur Liebe, über die hinaus es keine größere geben kann“ (vgl. Joh 12,32). Beten heißt: hinabsteigen in unsere eigene Armut, in die Armut des am Kreuz verlassenen Christus, der uns an sich gezogen hat und der nun den Vater anzieht, herzieht zu uns.