Das Wort für uns

[69] Wie das Wort leben?

Wort sein, das Wort leben: formal scheint alles zu stimmen. Doch ist nicht das die fatale Kehrseite so vieler Formeln: Es stimmt, aber es geht nicht. Neue Horizonte sind uns aufgerissen, aber wo sind Wege, gangbare Wege?

Nun, Nachfolge ist ein Weg. Damit dieser Weg auch Weg für uns sein kann, bleibt uns nicht die Mühe erspart, uns ins Gehen dieses Weges einzuüben, seine Schritte setzen zu lernen – und das heißt, das eine Wort, das Jesus ist, in den vielen Worten, die er uns sagt, mit dem Leben buchstabieren zu lernen.

Der Weg Jesu selbst war ein Buchstabieren des Wortes, das er ist. Immer neu orientierte er sich am Vater, holte ihn, seine Wirklichkeit, seine Nähe ein in die Stationen seines Lebens, menschlichen Lebens überhaupt. Es war seine Speise, den Willen des Vaters zu tun (vgl. Joh 4,34). Im beständigen Leben aus dieser Speise, Augenblick für Augenblick, hat sich Fleischwerdung des Wortes hineingesprochen, hineinereignet in die Welt. Alles, was zum menschlichen Leben gehört, alles bis hinein in Schuld und [70] Gottverlassenheit ist „Fleisch“ des Wortes geworden, ist im Wort Wort geworden.

Das Leben Jesu hat nicht ein Konzept, es erfüllt nicht eine Planskizze, es ist Leben in der Stunde – die Stunde aber gehört dem Vater. Immer stößt Jesus durch zu ihm, entziffert seinen Willen hier und jetzt. Indem Jesus geradezu punktuell vom Vater her lebt, erhält sein Leben aber zugleich Linie, innere Dynamik. Es ist wirklich ein Wort, das sich in den vielen Worten seines Lebens uns zuspricht. Und schon in den Schriften des Neuen Testaments sind die vielen Worte hingelesen auf das eine Wort, auf die eine Grundbotschaft, die sich in vielerlei Überlieferungen, in vielerlei Theologien spiegelt.

Genauso wie es Jesus getan hat, muß es auch sein Jünger tun. In der christlichen Überlieferung wurde immer wieder die Kommunion des Brotes und die Kommunion des Wortes, der Tisch des Brotes und der Tisch des Wortes zusammengesehen. Jesus sagt in der Brotrede: „Wie mich der lebendige Vater gesandt hat und wie ich durch den Vater lebe, so wird auch jeder, der mich ißt, durch mich leben“ (Joh 6,57). Stellt uns das nicht ein Modell vor, wie wir aus Jesus [71] – nicht nur im Brot, sondern auch im Wort – leben können? Wir sahen doch, wie viele Worte uns täglich nähren, wie viele Worte wir täglich weitergeben.

Christsein heißt nun: in jeder Situation hindurchdringen zu dem, was sie von Gott her meint, zu dem Wort; in jeder Situation aus der Tiefe leben, die uns in Jesus, dem fleischgewordenen Wort erschlossen ist. Die unerbittliche Regelmäßigkeit, mit welcher unser Leib die Nahrung verlangt, setzt auch das Maß für unser Leben aus dem Wort, für die Inkarnation des Wortes, die in uns geschehen soll. Da ist nicht fromme Übung gemeint, auch Essen ist keine fromme Übung. Es ist gemeint der das Leben prägende Kontakt mit dem Wort Gottes im Augenblick, im wirklichen Augenblick meines Daseins.

Da gehört – dieser Ausdruck sei nochmals wiederholt – ein wirkliches Buchstabieren dazu. Warum nehmen wir nicht ein Wort, ein einzelnes, fast zufälliges der Schrift, um in diesem Wort zugleich in die Tiefe des Wortes überhaupt und in die Realität unseres Daseins überhaupt vorzustoßen? Im Klartext: eine Woche lang, ei- [72]nen Monat lang ein Wort durch-leben, es durch-deklinieren durch die Begegnungen, Aufgaben, Nöte, durch mein Sehen, Hören und Tun.

Haben wir keine Angst vor Verkrampfung, Künstlichkeit oder dilettantischer Exegese, die uns so unterlaufen könnten. Es geht da nicht um Isolierung des einzelnen Wortes, sondern darum, es als die Pforte, als den Einstieg ins ganze Wort zu sehen. Wir nehmen ja auch nicht bloß Hüte und Mäntel, sondern Menschen in ihrer Kleidung wahr. Wir sehen immer nur durch eine Seite, durch einen Aspekt das Ganze. Wem es nicht um den Buchstaben, sondern um das Wort geht, zu dem dieser Buchstabe gehört, der wird sich aus Engführungen herauszuhalten wissen, aber er wird etwas hinzulernen, was kein intellektueller Umgang allein ihm erschließen kann: er wird entdecken, daß Gottes Wort sein Wort ist, sein Wort und Wort für das Leben der Welt, Wort für die anderen, Wort, um sie zu verstehen und Wort, um ihnen etwas zu geben.

Die Geschichte der Kirche ist eine Geschichte des Wortes Gottes. Die großen Gründer haben zumeist ein Wort Jesu, eine Station seines Weges [73] als ihre besondere Berufung erfahren. Aus dieser besonderen Berufung wuchs die Berufung vieler, wuchs neues Leben, neues Licht für ihre Zeit und über ihre Zeit hinaus. Auf die Spitze dieses einen Wortes, dieser einen Station war immer jeweils das Ganze, das Umfassende, die unverkürzte Fülle des Evangeliums gestellt – und in dieser Spitze erreichte das Evangelium auf je einmalige Weise den Boden unserer Erde, die konkrete Situation der Geschichte.

Es sei etwa an die Berufung des Franz von Assisi erinnert. Das Evangelium in der Meßfeier des 24. Februar 1209 gab seinem Leben die Richtung: „Nehmt nichts mit auf den Weg, keinen Wanderstab und keine Vorratstasche, kein Brot, kein Geld und kein zweites Hemd“ (Lk 9,3). Franziskus erkannte sogleich: Das ist es, was ich begehre: das ist es, wonach ich von ganzem Herzen verlange! Und sogleich setzte er das, was er gehört hatte, um in die Tat. In diesem Evangelium wurzelt das Armutsideal der franziskanischen Bewegung, der spezifisch franziskanische Einstieg ins Wort Gottes, ins ganze Wort des Evangeliums. Solche Exegese durchs Leben ist nicht Repetition, sondern Ereignis.

[74] Und nicht nur neue Landschaften der Geschichte und des Menschenlebens treten so ins Licht des Wortes; das Wort selbst entbirgt neues Licht, gewinnt neue Tiefe, offenbart, daß es mit seinem Gesagtsein noch nicht ganz gesagt ist. Wieviel reicher ist dieses Evangelium dadurch geworden, wieviel reicher ist die Kirche an evangelischer Kraft dadurch geworden, daß es Franz, daß es seine konkrete Nachfolge in diesem Wort gibt.

Oder nennen wir noch einen Namen unseres Jahrhunderts: Charles de Foucauld. Nazareth, letzter Platz – diese eine Station des Weges Jesu wird für Ungezählte Schnittpunkt mit ihrem Lebensweg, Ansatzpunkt für einen Weg des Evangeliums in unsere Welt, Ansatzpunkt für das Apostolat der Präsenz.