Dein Herz an Gottes Ohr

[71] Die Grammatik des Gebetes

I

Deklination

Es fängt an mit dem Vokativ: Gebet ruft Gott an. Aber im Vokativ erwacht der Nominativ, der Wer-Fall. Wenn ich Ihn rufe, dann ist er für mich nicht nur ein Objekt, sondern ein Partner, ein Gegenüber, ein Handelnder. Bei ihm liegt die Initiative. Wer betet, der rechnet damit: Gott handelt, Gott spricht, Gott tritt aus sich heraus. Und zugleich mit Gott trete auch ich in den Nominativ, in den Wer-Fall. Indem er handelt, spricht, mich angeht, bin ich in den Stand der Antwort, der Verantwortung, des Sprechens und Handelns gesetzt.

Gottes Dasein und das meine sind aber nicht zwei getrennte, irgendwo aneinandergrenzende, sich berührende Bereiche, sondern in Gottes Selbstsein und in meinem Selbstsein ereignet sich Zugehörigkeit, Wes-Fall, Genitiv. Ich bin dein, weil du Gott bist, und du gehörst zu mir, weil du Gott bist. Ich bin der Knecht, der Freund, das Kind Gottes – Gott ist der Gott meines Lebens, meines Heiles, meiner Zukunft und Zuversicht.

Es bleibt aber wiederum nicht bei diesem Zustand, die gegenseitige Zugehörigkeit selbst wird zum Inhalt des Tuns, zur Orientierung des Lebensvollzugs. [72] Ich lebe Ihm, schenke mich Ihm – er wendet sich mir zu, ist mir gut und schenkt sich mir. Im Dativ, im Wem-Fall, erreicht das Gebet seine Spitze und seine Fülle.

Und doch geht es noch einen Schritt weiter in den Akkusativ, in den Wen-Fall hinein. Wer betet, der wendet sich nicht nur Gott zu, er gibt Gott weiter. Gott gibt sich in ihn, in sein Leben hinein, und er wird die Gabe des Beters an die anderen, an die Welt. Und umgekehrt wird der im Gebet von Gottes Zuwendung Umfangene gesandt, verschenkt. Gott sendet ihn, schenkt ihn an die anderen, macht ihn zur Gabe für die anderen. Gebet geht nicht nur bis zu Gott und bis zu mir. Es geht über Gott und über mich hinaus in die Geschichte, in die Welt.

Ich rufe dich, o Gott. Ja, du bist Gott, du allein. Und ich stehe vor dir. Ich bin dein, du bist mein, ich bin die Magd, der Knecht des Herrn, du bist Heil und Hoffnung derer, die zu dir rufen. Mein Leben hat ein Ziel, ein Wofür: Ich lebe dir. Und du, der unendlich Große, wendest dich mir zu, bist mir nahe, schenkst dich mir. So aber trittst du ein in mein Leben und wirst zum Leben meines Lebens, so daß ich dich bezeuge. Und du ergreifst mich, sendest mich, verschenkst mich an die anderen.

II

Konjugation: die Personen

Wer betet, sagt „ich“. Er kann sich nicht verstecken hinter dem Busch, er setzt sein Antlitz dem aus, der ihn ins Dasein rief und der jetzt ihn ruft.

[73] Wer betet, der sagt „du“. Er bleibt nicht bei sich, sondern er öffnet den Kreis des Ichsagens, läßt ihn zum Pfeil werden, der von sich weg, über sich hinausweist zum Du.

Wer betet, der kennt auch die dritte Person: er, sie, es. Auch beim persönlichsten Gebet kann er die anderen und das andere nicht ausschließen, er tritt vor Gottes Antlitz hin angesichts des anderen und der anderen. Wer mit Gott spricht, der bringt in dieses Sprechen jene mit, die zu ihm gehören, jenes mit, was zu ihm gehört.

Und noch ein anderes Er sagt jener, der betet. Wenn er aus dem Gebet heraustritt, dann kann er den nicht mehr verleugnen, zu dem er „du“ sprach. Er muß ihn bezeugen. Er muß von Gott reden, zumindest mit seinem Sein, mit seinem Tun.

Wer betet, sagt „wir“. Ganz als er selbst gemeint und gerufen, ist er mit den anderen und zu den anderen gerufen. Beten heißt: einstimmen in den Chor, einstimmen in die Geschichte.

Wer betet, sagt „ihr“. Beten bringt auch Unterscheidung, aber Unterscheidung, die sich nicht in die Distanz einmauert, sondern Gespräch stiftet. Wer im Gebet sich von Gott ergreifen läßt, der läßt sich verändern, herausrufen, gegen den Strom, gegen die bloße Anpassung. Er spricht nicht nur vom Er Gottes, sondern er spricht darin andere an, rührt an ihr Herz, öffnet den Kreis des betenden Wir, auf daß andere in ihn eintreten können.

Wer betet, der sagt schließlich ein allumfassendes „sie“. Die ganze Menschheit, die ganze Welt sind drinnen in seinem Beten. Nicht nur die einzelnen Personen und Dinge, Begegnungen und Umstände [74] seines Lebens sind einbezogen; über alles, was der eigene Horizont umspannt, hinaus ist es Gottes grenzenloser Horizont, den der Beter sich zu eigen macht. Sein Herz wird so weit wie Gottes Herz. Nur in allumfassender Fürbitte, Verantwortung, Liebe, nur weltweit läßt sich zum allumfassenden Gott, zum Gott der ganzen Welt beten.

III

Konjugation: Zeiten

Beten geht im Grunde nie, ohne daß in seinem Jetzt Zukunft und Vergangenheit mit enthalten sind.

Die elementare Zeitstruktur des Gebetes läßt sich ablesen am Vaterunser ebenso wie an der Eucharistie.

Am Vaterunser. Die führende „Zeit“ im Vaterunser ist die Zukunft. Darauf, daß Gottes Reich komme, darauf, daß Gott uns vom Bösen erlöse, laufen alle Bitten hinaus. Darin ist eine doppelte Ohnmacht des Beters aus sich selbst gegenüber der Zukunft ausgesagt. Er vermag von sich aus nicht die heile Zukunft herzustellen und herbeizubringen, Gottes Reich muß kommen, Gott muß sein Reich selbst heraufführen, damit der Mensch im Heil leben kann. Und zugleich vermag der Mensch nicht aus sich die Bedrohung durch unheile Mächte auszuschließen, er wäre, auf sich allein gestellt, der Ausgelieferte. Nur der, dessen Reich das Heil ist, kann auch das Unheil bannen.

Im Gebet übergreift aber der Mensch seine doppelte Ohnmacht. Er bricht auf zu dem Gott, der Heil [75] schenkt und Unheil überwindet, er verbündet sich mit dem Gott, der aus unverfügbarer Freiheit bereits aufgebrochen ist, um seine Zukunft Gegenwart werden zu lassen und in ihr die drohenden Abgründe zu verschließen. Der Beter tritt in die Wahrheit seiner doppelten Ohnmacht gegenüber der Zukunft, er liefert sich dem der Zukunft Mächtigen aus, er geht mit Gott den Weg, auf welchem er kommt und seine Zukunft allumfassende Gegenwart werden läßt. Damit ist freilich eine dreifache Gegenwart im Gebet mitgegeben.

Zum einen: Wenn ich den Kommenden jetzt rufen kann, wenn ich ihm jetzt „Vater“ sagen kann, dann wächst eben das Gebet bereits über die reine Künftigkeit Gottes, sie anerkennend, sie wahrend, hinaus in eine Gleichzeitigkeit mit diesem kommenden Gott. Der Vater ist im anderen Bereich, im Himmel, aber er ist dort anrufbar, er hört und sieht. Die Ferne ist vom Hier und Jetzt des hörenden und sehenden Gottes überwunden, Gegenwart waltet. In der Gegenwart des Gebetes hebt die Zukunft Gottes schon an. Und Gottes Zukunft gewinnt im Gebet bereits Gegenwart.

Zum zweiten: Das Vaterunser sagt „wir“, Gott ist eben nicht nur mein, sondern unser Vater. Ich kann gar nicht Vater sagen, ohne dieses Wir mitzusprechen. Alle, die ihn anrufen, alle, die dazu gerufen sind, ihn anzurufen, sind zueinander gerufen. Die Gegenwart steht nicht nur auf der Spitze meines einzelnen, jetzt von Gott berührten und sich zu Gott hin aufmachenden Herzens, sondern in der umgreifenden Gleichzeitigkeit der Ekklesia, der Herausgerufenen, der Kirche. Wer betet, wird nicht nur gleichzei- [76] tig mit Gott, sondern gleichzeitig mit der Communio der Beter.

Zum dritten begegnet uns im Vaterunser das Wort „heute“. Gerade die Auslieferung an Gottes Zukunft, gerade die grenzenlose Hingabe und das grenzenlose Vertrauen an den waltenden und liebenden Vater befähigt uns zur Bescheidung und zugleich zur Kostbarkeit des Heute, des Jetzt und Nur-Jetzt. Die Sorge um die Zukunft drängt nicht danach, die ganze Zukunft in die Vorratskammer des Jetzt einzuheimsen, sondern sie befähigt zum Mitgehen mit der Zeit, die im Tropfen des Augenblicks geschieht. Mehr brauche ich nicht als das, was ich für das Jetzt brauche. Nicht weil Gott sparsam wäre, soll ich so beten, vielmehr deshalb, weil die Fülle des alle Zukunft umfassenden Jetzt nicht in meine engen Kammern geht, sondern nur in das weite Herz Gottes. Dort ist die ganze Zukunft, dort ist das umfassende Jetzt. Und wenn ich mich auf das winzige Jetzt des Heute beschränke, mich mit ihm begnüge, dann lebe ich in der Freiheit jener Fülle, die nicht ich fasse, sondern nur Gott faßt.

Gib es auch Vergangenheit im Vaterunser? Es gibt sie in zweifacher Gestalt. Einmal als Vergangenheit, die weiterwährt ins Jetzt und Zukunft eröffnet – zum andern als Vergangenheit, die im Jetzt verschlungen, erlösend verschlungen wird.

Fangen wir mit dem zweiten an. Wir bitten um die Vergebung unserer Schuld und versichern, daß wir unsern Schuldnern vergeben. Es bestehen also Schuldverhältnisse in der Zeit, in welcher wir das Vaterunser sprechen. Wir vertrauen sie Gott an, der sie auflöst in seinem vergebenden Neuanfang. Doch [77] dieser vergebende Neuanfang Gottes ruft – es ist die einzige Stelle des Vaterunser, an der solches uns begegnet – unser Tun, unseren eigenen Einsatz auf: Wir selbst sind dessen mächtig, die Schuldverhältnisse der Vergangenheit nicht weiterwähren und weiterwuchern zu lassen. Wir können neu anfangen mit unserem anderen – in Gottes neuen Anfang mit uns und allen hinein. Wer betet, der wirft die Last, die keineswegs nur ungerechte Last weg, die von ihm her auf dem Nacken und auf dem Herzen anderer ruht. So wird die Last, die auf ihm ruht, von Gott selbst ihm hinweggenommen. Das ist keine verengende Bedingung eines nicht ganz zu seiner grenzenlosen Barmherzigkeit stehenden Gottes, sondern die einzige Möglichkeit für mich, wahrhaft frei zu sein. Nur wenn ich nicht den andern in der Belastung durch die Vergangenheit halte, kann ich in den Nullpunkt des göttlichen Neuanfangs gelangen. Neuer Anfang geschieht radikal oder er geschieht nicht. Er geschieht auch im Blick auf die anderen oder er geschieht nicht für mich.

Die andere Vergangenheit, jene, die Fundament bleibt für Gegenwart und Zukunft, ist im Vaternamen Gottes versiegelt. Wir kommen von ihm her. Er ist immer schon da. Und er hat uns seinen Namen schon geoffenbart, so daß ich ihn Vater nennen, als Vater anreden darf. Wer betet, dem ist schon das Betenkönnen und das Betendürfen zugesprochen. Beten sagt, daß Heilsgeschichte schon angefangen hat. Beten ist Erinnerung an diesen Zuspruch, an diesen Anfang.

In der Eucharistie begegnet uns dieselbe Zeitstruktur wie im Vaterunser. Gottes Zukunft hebt im [78] Bundesmahl bereits an, der Kommende ist schon mitten unter uns. Aber das Bundesmahl ist noch Pilgermahl, die ganze Hoffnung lebt noch in der Geduld des Bleibens auf dem Weg, bis die Herrlichkeit des Herrn offenbar sein wird.

Der Herr leibhaft in unserer Mitte – und wir die vielen Glieder an seinem Leib, geeint durch seinen Geist – und dies im Jetzt, im immer neuen Jetzt der eucharistischen Feier. Eucharistie als Mahl der Versöhnten, als Besiegelung der Vergebung – weil sein versöhnendes Opfer hier unter uns da ist, weil das Einmal seines Sterbens und Auferstehens uns zugewendet ist in der Feier, die wir zu seinem Gedächtnis begehen.