Leben aus der Einheit
[75] Einheit und Gemeinschaft. Ursprung von Ich und Wir in gegenseitigem Innesein
Wir konnten über die Einheit unseres Lebens und die Identität unseres Ich nicht nachdenken, ohne dabei auf die konstitutive Anwesenheit des „Wir“ von Anfang an zu sprechen zu kommen. Diese bedeutet freilich nicht, daß ich im selben Sinn – die Philosophen sprechen von univok – „du“ und „wir“ bin, in dem ich „ich selber“ bin. Aber indem ich eben „ich“ sagen kann und in einer unvertretbaren Weise mir gegeben, mir aufgegeben, mir in meine Geburt und meinen Tod zugewiesen bin, sind eben „du“ und „wir“ und – jenes in allem gewährende, zuweisende, nahe und doch entzogen bleibende – „Er“ mit im unteilbar selben Spiel.
Auch wenn wir zu den bisherigen Ausführungen ja sagten, sind wir latent doch versucht, uns das Sein und Selbstsein so vorzustellen: Ausgangspunkt all meines Denkens bin und bleibe ich. Erst in einem zweiten Schritt erkenne ich dann, daß ich mich jemand anderem verdanke und auch noch Beziehungen mit anderen aufnehmen muß. Im Verlauf dieses Geschehens entsteht ein Beziehungsgeflecht, eine Gemeinschaft, eine Art von „Einheit“ mit diesen anderen. Von dieser Vorstellung aus bil- [76] det sich auch – schier unbemerkt – unsere Gottesvorstellung: Zunächst ist der Vater da. Sodann erst verstehen wir, daß er nichts von sich wüßte und wir nichts von ihm wüßten, wenn es in ihm nicht ein Wort gäbe, in dem er für sich und für uns hell wäre. Schließlich entdecken wir, daß Vater und Sohn nicht wie die Glieder einer Summe nebeneinander stehen können, sondern daß ihre Einheit von ihnen ausgeht, daß sie von derselben Daseinsdichte wie der Vater und das Wort ist und sich so eben ausdrückt in der dritten Person, dem Heiligen Geist. Wenn wir auch durchaus eingestehen, daß dies nicht im Sinne eines zeitlichen Nacheinanders zu verstehen ist, so bleibt im Denkansatz eben doch das einsame „Ich“ des Vaters mit hinzugekommenen Beziehungen. Aber dies wäre, auch im Sinne einer „klassischen“ Trinitätstheologie, falsch gedacht. Gott ist ein einziger „actus“, ein einziges Geschehen. Anders gesagt: Gott „ist“, und in diesem „Ist“ ist die Fülle der Beziehungen enthalten. Sie kommt nicht nachher, sondern sie ist von Anfang an.
Bonaventura denkt in seinem Spätwerk, dem „Hexaemeron“, über Einheit nach, und – ich referiere frei, um den Gedanken in unserem Zusammenhang zuzuspitzen – er stellt fest, daß eine bloß materielle Einheit, eine bloß begriffliche Einheit und eine bloß auf das Ego bezogene Einheit gar nicht im vollen Sinne eins sind, weil sie das, was sie eint, nicht so in sich tragen, daß es nicht auch von ihnen abgelöst werden könnte.1 Unzerreißba- [77] re unzertrennbare, mit sich selbst absolut einsseiende Einheit erreichen wir in den genannten Modellen von Einheit gerade nicht. Und wie ist es mit einer Zweierbeziehung? Auch hier, stellt Bonaventura fest, gilt dasselbe, und es gälte auch von der Vorstellung eines zweieinen Gottes, einer „Binität“. Ich bin mit dir eins und du bist mit mir eins, aber wir gingen so entweder ineinander auf oder wir bemächtigten uns gegenseitig einer des anderen. Es käme zu etwas wie einem „Egoismus zu zweit“. Nur im gemeinsamen Einssein von zweien, die – sich verschenkend, aneinander und miteinander – sich in ein Drittes und in einen Dritten übersteigen, erreicht Einheit ihr vollendetes Maß. Es versteht sich, daß dieses vollendete Maß nur gegeben ist in der Einheit der drei göttlichen Personen im einen Wesen. Innerhalb des geschöpflichen Seins, das sich aus der freien Güte des schaffenden Gottes geschenkt ist und das in diesem Sinne also nicht „notwendig“ ist, fallen die Einheit der Person in sich und die Einheit der Person mit den anderen Personen nicht unlösbar und unverlierbar zusammen. Aber die „Proportionen“, der Bauplan und die Konsistenz von Einheit können indessen nicht anders verlaufen als so, wie eben Sein allein geht und sich gibt. Das mir geschenkte und zugleich mir unentrinnbar zugewiesene Ich-Sein ist nur eins in sich, indem es sich als in Beziehung zum anderen, als Einheit mit anderen versteht und vollbringt.
Dies möchte ich nun gegenlesen an den bislang wiedergegebenen Beobachtungen göttlichen Le- [78] bens in der Trinität. Es ist auch beim Menschen nicht so, daß er sich zuerst als einsames Ich gegeben ist, das im nachhinein erkennt: Ich kann ja allein gar nicht sein, ich muß mich selber finden an einem anderen, dem es zukommt, „wie ich“ zu sein. Und mit nur einem Partner, in nur einer gegenseitigen personalen Beziehung ist der offene Raum, in dem wir uns bewegen, als Wir konstituieren und aus dem Wir zum Ich und Du kommen, gerade noch nicht geöffnet. Solche Überlegungen haben ihr relatives Recht, weil sie die Unmöglichkeit des bloßen Ich oder auch des bloßen Ich-Du verstehen helfen; doch es ist entscheidend, dieses Verstehen des Ich und des Du von Anfang an vom Verstehen der Beziehung, ja des Wir her zu denken und auch zu leben. Bei unserem Blick auf die johanneische Sicht der Trinität haben wir entdeckt, daß Perichorese, gegenseitiges Innehaben des anderen im eigenen Ich, zu Gütergemeinschaft führt und aus Gütergemeinschaft erwächst. Gütergemeinschaft verstehe ich hier im absoluten Sinn als jene „Einheit im eigenen Wesen“. Analog gilt vom Verstehen des eigenen Ich: Nur indem wir miteinander und füreinander sind, was wir sind, „kommen“ wir zu uns selbst und über uns hinaus. In der Offenheit des Raumes von Kommunikation und Hingabe, in die uns der erste Aufschlag unseres Auges hineinführt, sind wir in einem unvertretbaren Sinne ich und zugleich mehr als nur ich.
Ich werfe nochmals einen Seitenblick auf die Trinität: Für ihr Verstehen gibt es in der klassischen Theologie zwei Modelle, die ich hier verkürzt dar- [79] stellen möchte. Das eine, im Westen führend gewordene Modell, geht aus von der Einheit des Wesens, die sich in der Dreifaltigkeit der Beziehung, in der Dreiheit der Personen gerade vollbringt und vollzieht. Es wird also zuerst die Einheit gedacht, die wesenhaft zu Gott gehört – und diese Einheit selber legt sich als trinitarisch-personales Geschehen aus. In der östlichen Theologie liegen die Akzente anders: Das Denken geht vom absoluten Anfang, vom Vater, aus – dieser aber wird gerade als Beziehung verstanden. Es gibt kein von der Zeugung des Sohnes und von der Hauchung des Geistes abhebbares Selbstsein dieses Ursprungs. So vollbringt sich die Einheit des Wesens in der Dynamik der Hingabe, die das göttliche Sein selber ist. Es scheint mir, daß diese beiden Sichten – tiefer durchdacht – nicht nur miteinander verträglich sind, sondern daß sie in ihrer Bedeutsamkeit allererst aufgehen und in ihrem Recht erst voll sich entfalten, wenn sie sich gegenseitig – perichoretisch – erhellen und ergänzen.
So hieße denn auch die Frage, die in unserem Zusammenhang zu stellen ist: Wie entsteht Gemeinschaft aus dem Wesen der Person, und wie zeitigt Gemeinschaft zugleich Personalität, wie konstituiert sie die Einheit nicht nur zwischen den Personen, sondern eben auch der Person selbst? Eine zunächst banal erscheinende Erfahrung kann uns den Zusammenhang zwischen ich, du und wir oder – anders ausgedrückt – das Entstehen von Gemeinschaft aus dem inneren Wesensgrund der Person [80] und der Person aus dem inneren Wesensgrund der Gemeinschaft tiefer erhellen.
Erwachen heißt zu sich kommen, zu den anderen kommen, zum Ganzen kommen und zum unzerreißbaren Einssein dieser Dimensionen miteinander kommen. So gibt es im Aufwachen etwas wie die unteilbare Anwesenheit dieser Dimensionen im In- und Auseinander: „Hallo, da bin ich. Du kannst jetzt mit mir rechnen!“ – „Du bist jetzt da, ich nehme dich wahr, ich bin für dich ansprechbar und zugleich auf dem Sprung, dich anzusprechen.“ – „Das Leben ist jetzt hell, das Eine leuchtet dir und mir ins Gesicht und stellt uns in denselben Raum.“ – Eine fundamentale Rufbarkeit und Gerufenheit, eine konstitutive Macht anzurufen, kommen ins Spiel, transzendieren die einzelnen Momente und verweisen uns zugleich zurück aneinander, in eine Immanenz im Ganzen und des Ganzen, die indessen imprägniert ist von dem Ernst der Verantwortung und der Freude der Kommunikation.
Das Spiel ließe sich in vielerlei Facetten fortsetzen, vertiefen, in seine Strukturelemente hinein klären. In alldem aber wird deutlich: Es ist „ein“ Spiel – dieses sein Spiel, mein Spiel, dein Spiel und unser Spiel. Personalität ist, verantwortlich in diesem Spiel zu stehen, und Gemeinschaft ist wiederum, verantwortlich in diesem Spiel zu stehen. Die Pole der Gemeinschaft, die Personen also, und die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Polen einerseits und dem Ganzen und Einen des Spiels andererseits tauchen auf. Personalität und Gemeinschaft tragen und fordern sich gegenseitig, sind ineinan [81] der enthalten – und gerade darin taucht ein Neues von Personalität wie Gemeinschaft auf.
Damit, daß der Zusammenhang zwischen dem Ich und den anderen Grundworten des Du, Er und Wir phänomenologisch konstatiert ist, wird zwar der Horizont aufgerissen, in welchem ein neues Ich-Verständnis und ein neuer Ich-Vollzug sich entfalten können – diese Entfaltung selbst aber ist gerade noch nicht geschehen. Ähnliches gilt für das soeben Bedachte: Erkennen, wie im Ich die Gemeinschaft und wie in der Gemeinschaft das Ich impliziert sind, bedeutet noch keineswegs Gemeinschaft leben, sie als Grundvollzug des Einsseins der Person und zwischen den Personen in unserer Existenz verdeutlichen. Doch darum gerade geht es: Wie entsteht Gemeinschaft? Wie geht Einssein als Gemeinschaft?
In einem trinitarisch geprägten Denken und Leben dürfen wir die Spur der Antwort in jener „ars amandi“, in jener „Kunst des Liebens“ suchen, die eine Urerfahrung des Lebens aus dem Evangelium wiedergibt. Greifen wir fünf Momente einer solchen Kunst des Liebens, fünf Schritte einer elementaren Erfahrung, wie Gemeinschaft wächst, heraus.
Als erstes Moment sei genannt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Dieses biblische Gebot ist die paradoxe Gleichung mit dem anderen und ersten Gebot, Gott über alles, Gott mit ganzem Herzen und ganzer Kraft zu lieben. Wo Gott mir aufgeht, da geht mir auf, von ihm mit seiner ganzen Liebe geliebt zu sein, von ihm in die Partnerschaft des Bundes genommen zu sein, in welcher ich ihm [82] so wichtig bin wie er sich selbst wichtig ist. Er stellt, als der Liebende, sich auf dieselbe Stufe wie mich. Das „personalisiert“ mich, macht mich so unvergleichlich einmalig, wie Gott unvergleichlich und einmalig ist. Und gerade diese Einmaligkeit und Unvergleichlichkeit Gottes – und meiner als des von Gott wie sich selbst Geliebten – läßt mich erschreckend entdecken, daß dann der andere – jener und jene, die sind „wie ich“ – mir ist wie ich, mir ist wie er; andernfalls hätte ich mich herauskatapultiert aus diesem Bundeszusammenhang, aus dieser Einheit mit Gott, die Einheit und Gleichheit auch mit den anderen im Blick auf ihn und mich bedeutet. Von mir her ausgehen, von mir her Stellung beziehen, Ursprung sein und als Ursprung handeln ist gerade kein Rückzug auf die eigene Individualität, kein Absehen von den „anderen“, sondern das Entdecken, daß sie schon je in meinem Kalkül mit mir selbst, in meiner Einheit mit mir konstitutiv mit drinnen sind. Mich lieben, mich zu mir verhalten, mich mir zugewiesen erhalten aus dem schöpferischen Du Gottes, das mein Ich konstituiert, dies bedeutet zugleich und in unteilbar einem Atemzug: dich lieben wie mich, dich lieben aus dem einen und selben schöpferischen und erlösenden Blick, der mich trifft, der mich mir „gibt“. Liebe zu mir geht nicht ohne die Liebe zu den anderen, zu denen „wie ich“.
Ein zweites Moment, das in der Ordnung der Offenbarung uns in seiner Neuheit überrascht, ist bereits angelegt als Grund und Konsequenz zugleich in der bislang bedachten Realität des zweiten Gebo- [83] tes, das dem ersten gleich und deshalb kein „nachgeordnetes“ Gebot ist. Wir können formalisierend sagen: „Liebe deinen Nächsten wie den Herrn selbst!“ Zunächst ist da natürlich an die Menschwerdung gedacht, daran also, daß der Sohn Gottes – unser Geschick, unser Sein, unsere Schuld, unser Leben und Sterben sich zu eigen machend – von jenen, denen diese radikal sich verschenkende Liebe gilt, dasselbe fordert wie von sich selbst. Was wir dem Geringsten seiner und so auch unserer Geschwister getan haben, haben wir Jesus selbst getan. Es ist überflüssig, die anderen Schriftzitate aufzuführen, die das hier so prägnant Ausgeführte bestätigen und variieren. Doch was in der Menschwerdung des Sohnes Gottes unüberbietbar zugleich welthafte und gotthafte Wirklichkeit wird, ist zugleich „nichts anderes“ als die Erkenntnis und der Ernstfall dessen, was Gott als er selber ist und lebt. Er ist einzigartig und über alles hinaus zu lieben, weil er der einzigartig über alles hinaus Liebende ist. Er ist nicht „da“, wenn er nicht als der Liebende durch alle Verdunklungen und Verschattungen hindurch aufscheint. Dann aber ist sein Daseinsschwerpunkt dort, wo seine Liebe hinzielt: in dir, in mir, in uns. Wir suchen und erkennen Gott in seinem Eigensten und Innersten, wo wir ihn suchen und erkennen in unseren Nächsten, in jenen, die sind wie wir und wie er, in jenen, die die absolut und unüberbietbar von ihm Geliebten sind. Nur wenn wir ihn draußen treffen, bei den Letzten und Ärmsten, bei denen, an welchen scheinbar nichts Liebenswertes und Anziehendes ist, treffen wir ihn [84] in sich selbst, in seinem Innersten und Eigensten. Der Zusammenfall von Sozialität und Spiritualität ist keine Randerscheinung des Christlichen, oder eben doch – nur daß die Mitte am Rande, die Randerscheinung der Aufgang Gottes aus sich selbst, die Theophanie schlechthin ist.
Was heißt das für unser Thema: Gemeinschaft leben? Gemeinschaft leben heißt – wir werden nochmals darauf zurückkommen – unsere Grundbeziehung zu Gott leben, so mit Gott allein leben, daß wir darin miteinander leben, so miteinander leben, daß wir darin mit Gott allein leben. Uns in Gott finden, wo wir die anderen suchen, uns unter diesen anderen finden, wo wir Gott suchen, dies ist unauslöschlich das Siegel des Christlichen und, in seine letzte Konsequenz durchbuchstabiert, das Siegel des Göttlichen und des Menschlichen selbst.
Ebenso wie das zweite Moment der „ars amandi“ im ersten bereits enthalten ist, geht das nun zu bedenkende dritte Moment mit den beiden voraufgehenden zusammen: „Alle lieben – immer lieben.“ Ist dies indessen nicht gerade die Überforderung, die ein christliches Idealgebäude aufrichtet, das in sich zusammenbrechen muß, da es gar nicht ausfüllbar ist? Doch wenn dieses „Alle“ und „Immer“ wegfielen, dann verkürzte sich menschliche Gemeinschaft um ihren absoluten, durchgängigen Anspruch, dann würde sie zur Episode und zum gelegentlichen Versuch. Daß sie auf wesenhaft anderes angelegt ist, wurde uns indessen schon deutlich. Liebe ist Liebe der Wahl, aber nicht Liebe der Auswahl. Weil du bist, weil du von Gott ins Dasein er- [85] wählt bist, weil du von ihm her mit mir in dieselbe Menschheitsfamilie gestellt bist, weil Gottes Ja unteilbar ist, das dich und jede und jeden und mich trifft, gibt es eine Alternative zum „Alle lieben“ nicht. Der seinshaft konstitutive Charakter von Liebe, in welchem Person und Gemeinschaft einander streng entsprechen, wäre durch Ausnahmen in unserer Bereitschaft zu lieben zerstört. Die zeitliche Unterbrechung des Liebens, der Wechsel zwischen Lieben und Nichtlieben aber stände im Gegensatz zu jener Einheit des Seins, die in der Liebe sich ereignet und in der Zeit als Kontinuität zum Ausdruck kommt.
Wie dann aber die nicht aufhebbare Zusammengehörigkeit von „lieben“ und „alle“ sowie von „lieben“ und „immer“ versöhnen mit den Möglichkeiten einer endlichen Existenz? Wie dieses „alle“ und „immer“ so leben, daß es nicht nur als ideologisches Postulat, sondern eben als Seinsform glaubhaft ist, auch dann, wenn es selbstverständlich nicht immer im Vollzug gelingen wird, die gegenseitige Entsprechung in ihrer Reinheit und Fülle zu verwirklichen? Der „göttliche“ Charakter der Liebe und jener Einheit, die sie der Gemeinschaft unter Menschen aufprägt, kann gerade helfen, die Menschlichkeit der Liebe zu retten. Gottes Dasein ist Ewigkeit, aber diese Ewigkeit ist Augenblick. Das Ich, das nicht mehr als sich in sich selbst schließendes und aus sich selbst hervorgehendes Subjekt verstanden wird, sondern von seiner Beziehentlichkeit her, ist da in der konkreten Begegnung, ist da im konkreten Augenblick. Alle lieben heißt dann aber nicht mehr, [86] im Krampf einer Universalität die eigene Begrenztheit und Zeitlichkeit zu verleugnen, sondern sie gerade anzunehmen. Die Offenheit, jeden Nächsten zu bejahen, ist zugleich die Offenheit, loszulassen, frei in den nächsten Augenblick, frei in die Begegnung mit dem Nächsten hineinzugehen. Dies nicht im Sinn einer postmodernen Verspieltheit, einer folgenlosen Augenblickssympathie, die keinen Anspruch erhebt, wohl aber in der Bereitschaft, den vergehenden Augenblick nicht festzuhalten, sondern in den liebenden Gott hinein zu bergen, und den kommenden freizugeben an den Gott, in dem meine Liebe zum Nächsten selbst geborgen ist.
Dieser „Abschied“ ist kein bloßer Notbehelf der Endlichkeit; vielmehr scheint in ihm etwas von Gott selber auf: Liebe als Hingabe, die freilich in der Zeit nicht ohne den Charakter des Schmerzes und der Hoffnung auf eine Vollendung auskommt, die über die Grenzen zeitlicher Endlichkeit hinausgeht. Zugleich aber ist solche Bereitschaft, alle zu lieben und immer zu lieben, wenn sie sich paart mit der Fähigkeit und Bereitschaft zu Hingabe und Abschied, Zeichen jener göttlichen Offenheit und Freiheit, die mich in der Begrenztheit meines Ich und Jetzt die Herrlichkeit der ewigen Communio Sanctorum erahnen läßt.
Ich möchte daran erinnern, wie das zweite unter den drei bislang bedachten Momenten der „Kunst zu lieben“ ins Licht rückte, daß Gott lieben und den Nächsten lieben nicht nur durch eine nachträgliche vergleichende Konstruktion einander entsprechen, sondern von ihrem Wesen her zusammengehören, [87] dasselbe sind, eines im anderen sind. So kann ich jetzt in einem vierten Moment eine Spiegelbildlichkeit nachzeichnen, die für das Entstehen und Bestehen von Gemeinschaft aus der Liebe entscheidend ist: Es geht nicht nur darum, daß wir den anderen lieben, wie wir Gott lieben, sondern auch und zumal darum, daß wir den anderen lieben, wie Gott ihn liebt. Mit der Liebe, die Gott hat und die Gott ist, den Nächsten lieben, dies ist Bedingung, damit Gemeinschaft entstehen kann. Wie Person nicht von uns entworfen werden, sondern nur dem schöpferischen Akt Gottes verdankt werden kann, so steht es auch mit der Gemeinschaft: Wir können sie nicht „machen“, sie ist Geschenk, sie bildet sich aus Gottes gewährendem Akt. Dieser schöpferische, gewährende Akt, der Person wie Gemeinschaft konstituiert, ist reines Geschenk, aber nicht bloßes Geschenk. Dieser Akt wird als Akt Gottes zugleich der unsere, und so ist gerade die höchste Aktivität in der Liebe und in der Bildung von Gemeinschaft jene, in der wir Gottes Akt mittun, Gottes Wirken mitvollziehen. „Gott allein“ heißt „Gott und ich“, „Gott und ich“ heißt „Gott allein“.
Doch wie geht solches Mittun der Göttlichkeit des Liebens, wie geht das Mittun der schöpferischen Liebe Gottes, der Gemeinschaft sich verdankt? Wir können die Antwort in zwei kontrastierende Formeln fassen: „Zuerst lieben“ – „bis zum Letzten lieben“. Gott liebt nicht nur, weil er geliebt ist, sondern Gott liebt anfänglich, grundlos, einfach aus sich, aus seiner göttlichen Ursprünglichkeit heraus. Als der Erste, als der anfangende Anfang [88] „kann“ Gott gar nicht anders lieben, er ist einfach der Erste, der, vor dem nichts war.
Dies wird nicht dadurch begrenzt, daß Gott der dreieine ist, daß also zu seiner Uranfänglichkeit Wort als Antwort und Liebesgabe als gegenseitiges Geben und Empfangen gehören. Die Originalität, die Anfänglichkeit und Ursprünglichkeit des Göttlichen leuchtet auch und gerade auf in jenem ersten, alles aufschließenden und zugleich vereinenden Ort, in dem Fluß und Rückfluß des einen Liebesgeschehens. Was bedeutet nun für uns diese Göttlichkeit der Liebe als grundlose Anfänglichkeit, als „zuerst lieben“? Liebe wartet nicht und erwartet nichts, Liebe fordert nichts, Liebe fängt einfach an, sie liebt. Gerade so reißt sie den neuen Horizont auf, in welchem ein Zueinander und Miteinander Raum haben, das nie als bloßes Produkt von Ansprüchen und gesteuerten Prozessen geschehen kann. Zuerst zu lieben, das erscheint zunächst als die „einsamste“ Form von Liebe, die nur auf die Personalität des einzelnen Liebenden gestellt ist. Im Grunde aber ist diese Spontanität und einsame Anfänglichkeit der Gemeinschaft stiftende Charakter von Liebe, der Vorstoß in den Raum, in dem du und ich zugleich je du und ich und wir und das Ganze sind.
Wir haben bereits den Kontrapunkt in unserer Spiegelbildlichkeit genannt. Lieben wie Gott liebt heißt: „bis zum Letzten lieben“. In einer johanneischen Phänomenologie der Liebe gehört gerade dieses Gehen bis zum Äußersten, das zugleich völlige Weggabe und Vollendung bedeutet, zum unverwechselbar göttlichen Charakter der Liebe Gottes, [89] wie sie in Jesus aufgeht. Es gibt nichts, was Liebe nicht von sich selber gibt, und sie ist reines Sich-Verlassen auf den anderen hin – und gerade so geht sie in sich selbst, geht sie in ihrer Göttlichkeit nicht unter, sondern auf: Liebe, über die hinaus eine größere nicht gedacht werden kann. So läßt sich die Formel des Anselm von Canterbury für die Göttlichkeit Gottes von der Ebene des Gedankens und des Seins auf jene der Liebe transponieren.2 Die Liebe, die grundlos anfängt und die darin endet, kein Ende zu kennen, unbedingt Liebe zu sein und die Partner nie aufzugeben, ist jene Liebe, die wir am Kreuz Jesu als die wahrhaft göttliche Liebe „lernen“ und die uns auf jene Fährte setzt, die allein zur Gemeinschaft führt: einander lieben, wie Er uns geliebt hat.
Solche Liebe besteht darin, daß der Liebende mit dem Geliebten „sich einsmacht“ – fünftes Moment. Dies ist gewissermaßen der Überschuß der Gemeinschaft über die Liebe und zugleich doch der vollendende Schritt der Liebe, daß sie zur Einheit der Partner und somit zur Gemeinschaft führt. Sich einsmachen bedeutet alles eher als Anpassung. Es ist aber auch mehr als Technik, an den anderen heran- und in ihn hineinzukommen. Sich einsmachen mit dem anderen ist im Grunde die Vollendung des gottgleichen, göttlichen Charakters der Liebe. Gott schafft so, daß daraus nicht nur Wirkungen entstehen, sondern Ursachen. Er schafft nicht nur Pro- [90] dukte, sondern Ursprünge, Partner. Er schafft Wesen, die von sich her sein dürfen, was sie sind. Die Vorgabe der Schöpfung, das, was diese dem Geschöpf zugedacht hat, ist zuhöchst jene Freiheit, die sich von sich selber her entwirft – und gerade darin sich verdankt und in liebender Freiheit jener liebenden Freiheit entspricht, die sie geschaffen und an sich freigegeben hat.
Was bedeutet dies indessen konkret? Liebende Freiheit, die sich mit der liebenden Freiheit des anderen einsmacht, wird gewissermaßen ein leerer Raum, ein bergendes Nichts, in welchem die partnerische Freiheit sich entfalten, sich geben, sich artikulieren kann. Der Anfang des „Sich-Einsmachens“ geschieht nicht in der Diskussion, im Für und Wider der Gründe, in Verteidigung und Angriff, so sehr im Verlauf des Prozesses der Einwurf, die Anfrage, auch der „liebende Streit“ ihren Raum haben. Doch sehr oft kommen mit dem Schlagabtausch der Argumente diese gar nicht als sie selbst zur Sprache und kommt vor allem die Person, der Mensch, das Selbst nicht zur Sprache, die Partner bleiben „außen vor“, treten nicht als sie selbst in den einen offenen Raum. Dieser aber wächst und bildet sich nur, wenn grundloses Anfangen der Liebe bedeutet: sich leermachen, sich öffnen, hervorkommen lassen, wer, wie, was die oder der andere ist, worum es ihr oder ihm geht. Das Wort des anderen wird gewissermaßen auch mein Wort. Ich habe Anteil an ihm, indem ich hörend es hervorgehen lasse, es „entbinde“. Das Gegenübersein zum anderen und das Innesein in ihm werden zwei Seiten einer Wirk- [91] lichkeit, in der dann wie von selbst auch der Partner Anteil an „meinem“ Wort gewinnt und sucht und sich mir öffnet, so daß ich mein Wort ihm sagen und mein Sein ihm aufgehen lassen kann – ohne Berechnung, ohne Planung, einfach in der inneren Dynamik des Leerwerdens füreinander, des Empfangens voneinander, des Gebens aneinander. Die Gegenseitigkeit der Liebe ist das fünfte Moment im Erstehen von Gemeinschaft aus Liebe. Dieses fünfte Moment ist das sensibelste, es ist schlechterdings nicht von einer Seite zu erzwingen oder herzustellen, sondern Geschenk der Partner, das nur aus ihrer Freiheit hervorgeht, noch mehr aber Geschenk an die Partner, das hervorgeht aus dem Ursprung schlechthin, aus dem Gott, der die Liebe ist.
Vielleicht ist sichtbar geworden: Die Momente jenes Liebens, aus dem gegenseitiges Einswerden – Gemeinschaft also – erwächst, sind nicht moralische Imperative, sondern sie beschreiben eine Linie des personalen Seins, die, im Vollzug frei mitgeschrieben und nachgezogen, uns den Weg weist, wie Personalität und Gemeinschaft, Personalität in Gemeinschaft und Gemeinschaft in Personalität, wachsen können.
Zugleich zeigt sich diese Linie unschwer als Nachschrift des trinitarischen Urtextes, der einem neuen Denken und Sein zugrunde liegt. Auf dem Feld „Personalität und Gemeinschaft“ zeigt sich in diesem Urtext freilich eine Besonderheit: Der sich einsmachend das Gespräch entbindende Partner, durch den und in den hinein der andere Partner zu Wort kommt, Wort wird, steht in der Rolle des Va- [92] ters. Sofern aber in dieser Rolle des Vaters der Partner zugleich allererst den anderen zum Wort bringt, ihm sein eigenes Wortsein schenkt, ist er ihm Vater und ist der andere ihm Wort. In dieser Gegenwendigkeit ist das trinitarische Rollenspiel indessen keine Spielerei, sondern Hinweis und Hilfe für den Vollzug: Gemeinschaft beginnt mit meinem „Nicht“, mit meinem Schweigen, welches das Wort im anderen erwartet und zeugt, so daß es ganz sein und ganz mein Wort sein kann. Darin aber wird mein Schweigen selber Ausdruck des anderen, Wort des anderen. Dieselbe Liebe läßt mich dem anderen schweigender Hintergrund und klärendes, erhellendes Wort sein. „Zuerst lieben“ heißt nicht notwendig „zuerst reden“, wohl aber, den eigenen Schwerpunkt in den Partner hinein setzen. Die uns bereits vertraute johanneische Denkfigur der gegenseitigen Verherrlichung von Vater und Sohn in der einzigen Herrlichkeit – doxa –, die der Geist ist, wird auch zum Lebensrhythmus personaler Gemeinschaft. Es geht dabei nicht um die Einebnung der Personen in unterschiedliche und wechselnde Phänomenalitäten, sondern darum, daß die Personen in ihrer bleibenden Unterschiedenheit, einander in sich tragend, je das Ganze in sich tragen und „sind“.
Die kühnste Konsequenz aus dem unlösbaren Zusammenhang zwischen Personalität und Gemeinschaft betrifft unser Verhältnis zu Gott, das also, was man ein „trinitarisches Gottesverhältnis“, ja eine trinitarische Mystik nennen könnte.
[93] Der Ansatz christlichen Gottesverhältnisses ist und bleibt unser Sein in Jesus Christus, in dem er uns im einen Geiste hineinnimmt in sein Verhältnis zum Vater. Eine mehr und mehr individualistische Frömmigkeit hat dies oft genug vergessen, hat die göttlichen Personen wie getrennt nebeneinander gestellt oder sich beschränkt auf ein Ansprechen des göttlichen Gegenüber, von dem kaum ganz deutlich wurde, wie dieses sich zu den drei göttlichen Personen verhält. Da Gott – hier ich, ich vor ihm und ihm gegenüber, ich allenfalls in ihm oder er in mir. Natürlich waren die großen Gestalten christlicher Frömmigkeit und Mystik immer schon über dieses Maß hinausgewachsen, und es gibt auch so etwas wie eine geistliche Erfahrung des Sohnseins, des Vaterseins, des Geistseins, die sich von Jesus Christus her durch das Ernstnehmen der Perichorese, also des gegenseitigen Inneseins der Personen, ergab.
Was uns indessen auf unserem bisherigen Gedanken- und Glaubensgang widerfuhr, reißt eine generell andere Dimension auf. Unser Einssein durch Jesus Christus im Geist mit dem Vater wirkt Einssein miteinander, und dieses Einssein miteinander wird in der umgekehrten Richtung zu einem Bild, zu einem Zeichen, zu – wir müssen es so direkt sagen – einer Präsenz Gottes selbst in der Geschichte. Wir „leben“ Dreifaltigkeit, und was aus diesem Leben entsteht, das ist wahrhaft ihre Gegenwart, ihr von ihr selber ausgehendes Sich-Bezeugen. Gott will und kann unter uns aufgehen, und unsere Liebe, die zwischen dem anderen und mir nichts ande- [94] res sucht als ihn, reinigt unsere Gemeinschaft, reinigt unser Selbstsein, so daß sie offen und transparent werden für Gott selbst. In Gott bleiben heißt in der Liebe bleiben, nichts anderes als dieser Liebe im gegenseitigen Verhältnis Raum geben.
Die Momente der Liebe als Momente des Einsseins machen aus unserer gegenseitigen Beziehung eine lebendige Ikone der Heilsgeheimnisse und letztlich des dreifaltigen Gottes selbst. Die Frage nach der Heiligkeit und Göttlichkeit meines Lebens ist die Frage nach der umformenden und durchformenden Kraft jener Liebe, in der wir teilhaben an Gott selbst. Um Gottes willen kann ich die Verhältnisse freilich nicht lassen, wie sie sind, sondern bin zur Umgestaltung des Lebens aus Jesus Christus her gerufen. Aber zugleich kann ich nie bei einem bloßen Wirken für eine evangeliumgemäße Verwandlung der Verhältnisse stehenbleiben, sondern weiß, daß Gültigkeit und Wirksamkeit meines christlichen Handelns davon abhängen, ob in ihm Gott der Handelnde, ob in ihm Gott der Daseiende, Gegenwärtige ist. Nur wenn Er die Botschaft und das Zeugnis seiner selbst zwischen uns zu sein vermag, sind wir auf der Spur jenes neuen Ich, Du und Wir, die unser Fragen und Suchen leitet.