Linien des Lebens

[75] Lebenslinien

Eine unerwartet intensive, ja einzigartige Erfahrung von Landschaft eröffnete sich mir beim Urlaub in den Bergen nach einer Zeit der Krankheit.

Von dem Haus, in dem ich mit Freunden wohnte, führte ein Rundweg um eine Hügelkuppe. Von hier aus erschloß sich in immer neuen Konstellationen das Panorama der Alpen. Wie die Linien sich schnitten und zusammenstrebten, wie sie ihre Verhältniswinkel änderten und auseinanderliefen, wie sie sich in „Schößen“ der Landschaft konzentrierten und Schichten von nahe und ferne zur einen Gestalt gerinnen ließen: Dies bedachtsam anzuschauen war eine unerschöpfliche Faszination – und es war mehr als nur ein gedankliches Spiel. Proportion, Konstellation, unabschließbare Vielfalt der Perspektiven im Einen und Selben ließen mich etwas von Gott erahnen, in dem alle Beziehungen und Verhältnisse, alle Linien und Wege dieser Welt entspringen und aufgehoben sind in ihrer unermeßlichen Fülle. Gedanken aus dem „Pilgerbüchlein der Seele zu Gott“ von Bonaventura oder von Nikolaus von Kues wurden mir aufs neue sprechend – und sprechend wurde mir zugleich das eigene Leben.

[76] Welches Geschenk, dies einmal nicht als selbstverständlich verplanen und verbrauchen zu können, sondern als gewährt zu erfahren.

Wie wichtig, in diesem gewährten Leben Linien zu entdecken, die so nicht die Hand der Willkür schreiben konnte.

Wie kostbar, sich einbezogen zu finden in ein immer neues und immer weiteres Netz von Begegnungen und Verbindungen.

Unausweichlich traf dahinein freilich auch der Widerspruch: Bilder des Sinnlosen, zerbrochene Zusammenhänge, Schrecklichkeiten, die den Atem blockieren, bare Finsternis. Ich konnte und wollte dies nicht abweisen, aber ich konnte es dem Geheimnis zu-trauen, das durch alles das nicht weggewischt wird in seinem stillen, heiligen Glanz. Und ich spürte, daß gerade dieses Geheimnis es fordert, sich dem anderen, dem Dunklen nicht zu entziehen, sondern zuzuwenden und auszusetzen.

Und so wagte ich, die Rundgänge des Schauens in die Welt- und Lebenslinien, in die „Gotteslinien“ fortzusetzen. Mit selten so verspürter Eindringlichkeit wurde dabei mein Blick hineingezogen in das Johannesevangelium. In der Tat, hier begegnen uns die Lebenslinien Gottes. Der am Herzen des Vaters seit Ewigkeit Ruhende (vgl. Joh 1,18) steigt ab, das Wort wird Fleisch (Joh 1,14). Sein Leben kreuzt sich [77] mit unserem Leben, vermengt sich mit ihm, und dabei ist es im Sog des Vaters: nach oben gezogen und gerade, in der äußersten Aussetzung, am Kreuz, alles an sich ziehend (vgl. Joh 12,32). Gesandt sein und senden, den Weg weisen und nachfolgen, verherrlichen und verherrlicht werden (vgl. bes. Joh 12 und 17) – im Grunde immer und überall in diesem Evangelium Linien, Bewegungen, Anziehungen, gegenseitiges Innesein, und dies nicht als leichtes Spiel, sondern als todernste und lebensernste Gottes-, Welt- und Menschengeschichte.

„Vom Vater bin ich ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater“ (Joh 16,28). Zugleich aber: „Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht mehr sehen; und abermals eine kleine Weile, dann werdet ihr mich sehen“ (Joh 16,16). Schließlich: „Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast; denn sie sollen eins sein, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir. So sollen sie vollendet sein in der Einheit, damit die Welt erkennt, daß du mich gesandt hast und die Meinen ebenso geliebt hast wie mich“ (Joh 17,22f.). In dieser Bewegung vom Vater her und auf den Vater hin, in die Welt hinein und aus der Welt heraus, hin zu den Jüngern und mit und zwischen den Jüngern hinein in jenes Einssein, in welchem die Einheit des Vaters und Sohnes im Geiste aufstrahlt – da ist alles umfangen, [78] nicht spekulativ in eine Synthese verdünnt, sondern ausgehalten und durchlitten in der Liebe, die bis zum Letzten geht, aber im Letzten und Äußersten Voll-endung schenkt (vgl. Joh 13,1 und 19,30).

Die Linien, aus denen sich die Schemata erbildeten, um die Welt in den Griff des Verstehens zu bringen, sie in die Spannungen von Ost und West und Süd und Nord zu bannen, sind geschichtlich abgebrochen. Lebenslinien, Lebensgeschichten lösen sich auf. Nur noch Punkte, verstanden als unverbindliches buntes Kaleidoskop oder aber als Abbrüche ins Nichts, spielen sich gegenseitig zu oder aus. Sarx, in sich Nicht-Konsistentes, Hinfälliges, in Vergehen Zerrinnendes: „Fleisch“ ist dies – aber das Wort ist Fleisch geworden und nimmt uns, die Gebrochenen und Zerbrechlichen, in seine Lebenslinien hinein. Wir verlieren uns nicht ins Wesenlose, sinken nicht ab ins Bodenlose; wir sind gehalten und verknüpft in den Bewegungen der bergenden und einenden Liebe des Vaters zum Sohn, des Sohnes zum Vater im Geist. So werden auch unser Dasein und Leben zur „Landschaft“, in der wir und andere Weg und Ziel finden.