Wesen und Gestalt von auctoritas

[1] Verehrte, liebe Gäste, liebe Leoniner!

Für mich persönlich ist der heutige Tag – oder was dieser Tag ausdrückt – ein so tiefgreifender Einschnitt in meinen Dienst als Bischof, wie das selten sonst der Fall ist. Schon als ich 1968 – gerade eben ahnend, wo Aachen liegt – in Bonn zum ersten Mal in das Leoninum gerufen wurde, um da – von Godesberg aus, wo ich wohnte – einige spirituelle und philosophische Gedanken mit einer Arbeitsgemeinschaft von Studenten anzustellen, war schon unser verehrter, lieber Spiritual Dr. Bender da. Und noch ehe ich ahnte, demnächst Bischof von Aachen zu werden, habe ich Direktor Heinemann als Regens bei einer Regentenkonferenz in Luzern kennengelernt und mich für diesen interessanten Mann auch tatsächlich meinerseits interessiert. Wer hätte gedacht, daß ich dann – vom ersten Augenblick, von der ersten Stunde an - immer wieder mit Ihnen beiden, liebe Mitbrüder, in einer so intensiven, vertrauensvollen und vieles bewegenden und aushaltenden Gemeinschaft des Weges verbunden sein durfte.

Diese Gemeinschaft geht natürlich nicht zu Ende. Sie ändert nur ihre Gestalt. Und es drängt mich einfach, Ihnen zu sagen, daß es wenige gibt, mit denen ich so sehr verbunden bin. Ich glaube, gerade das Durchtragen auch in schwierigen Situationen ist etwas, was prägt. Und ich danke Ihnen dafür, daß Sie in Mut, Gelassenheit und Gemeinschaft immer diesen Weg gegangen sind. Ich habe volles Vertrauen, daß die Weggemeinschaft bleibt, und ich weiß, daß Sie Ihren Weg und die Weise, diesen Weg zu gehen, genauso verstehen, daß darin nicht ein Präjudiz für die Kommenden ist, sondern daß darin Freigabe für die Kommenden geschieht. So wie Sie Autorität ausgeübt haben und ausüben, sind andere nicht gezwungen, kleine oder große Para-Heinemänner und Para-Bender zu werden, sondern sie sind freigegeben, sie selbst zu sein und gerade darin die Tradition, die hier ge-[2]wachsen ist, fortzusetzen.

Sie haben, liebe Mitbrüder Weigei und Bündgens, mein und vieler ganzes Vertrauen und wir gehen miteinander und werden einfach weiterhin, wie das bis jetzt der Fall war, den Weg suchen als einen gemeinsamen. Und das Vertrauen, daß das gutgeht, ist ein Vertrauen auf den, der in Ihnen wirkt, der zwischen uns wirkt und der schon viele Erweise seiner Kraft, seiner Nähe und seines Wirkens auch in Ihnen persönlich und in Ihrem Dienst erbracht hat.

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Es ist in der Tat naheliegend, gerade an einem solchen Tag ein wenig über auctoritas nachzudenken, und wenn ich das um der Knappheit dessen willen, was das Programm erfordert, auf eine etwas abstrakte und allgemeine Weise tue, so bitte ich, mir das nachzusehen. Ich bitte die Hörer darum, sich Kontexte selber zu denken zu dem, was ich sage, und auch zwischen den Zeilen zu lesen, – nicht, weil ich nicht den Mut zum Klartext hätte, aber weil es mir manchmal wichtig erscheint, wesentliche Dinge auch auf der Ebene des Wesentlichen zu bedenken.

Eigentlich ist es ein Unthema, als Theologe, Priester und Bischof angesichts von konkreten Ämtern von Autorität zu sprechen. Denn gilt das nicht mehr, was wir im 23. Kapitel des Matthäusevangeliums hören, daß wir alle Brüder und Schwestern sind und nur einer der Herr ist, – daß wir uns nicht Rabbi und Meister nennen sollen? Aber auf der anderen Seite steht doch auch im selben Evangelium das Wort vom Binden und Lösen, von der übertragenen Schlüsselgewalt. Und auch jemand, der so sehr aus dem Neuen und Anderen des Evangeliums lebt, wie Paulus, spricht davon, daß er den Anderen Vater im Evangelium sei und sie gezeugt habe. Wie ist das: Können wir uns also nur selbst bedienen im Evangelium entweder aus Worten, die gegen auctoritas von Menschen sprachen, oder aus solchen, die sie doch zulassen, – oder sollen wir einen billigen Kompromiß hier eingehen? Diese Frage soll einmal einen Moment lang stehen bleiben, ehe wir ihr nähertreten.

Ich möchte jetzt einfach darüber nachdenken, welche Weise von Mächtigkeit ursprünglich vom Wortsinn her und von der Phänomenologie dessen, was hier beschrieben wird, her eine Realität wie auctoritas bedeutet.

Auctoritas hat etwas mit Macht zu tun. Aber mit Macht, die offenkundig anders lauft als das, was wir uns normalerweise spontan unter Macht vorstellen. Wenn wir von Macht reden, denken wir heimlich immer auch an [3] Gewalt und denken im Grunde an etwas, was Ausdehnung des Mächtigen bedeutet, und diejenigen, die ohnmächtig sind, ziehen sich zurück. Macht heißt also, einen wachsenden Einflußbereich von mir aus, der ich mächtig bin, abdecken und diesen Einflußbereich zementieren oder gar nach vorne hin öffnen, so daß immer weniger Bereiche entstehen, in denen ich nicht der Mächtige bin, in denen ich nicht meine Zeichen aufgerichtet habe, in denen ich nicht derjenige bin, der sagt, wie es jetzt zu sein und zu gehen habe. So verstehen wir normalerweise Macht.

Autorität – dieses Wort kommt von auctoritas; ich habe mehrere Lexika zurate gezogen und in dem alten Lateinisch-Deutschen Wörterbuch von Georgia Interessantes gefunden. Es steht dort, daß auctoritas von auctor kommt, auctor von augere und daß augere heißt: wachsen lassen, reifen lassen, etwas von sich aus sich entfalten lassen und daß Autorität – von daher gesehen – eine Weise von Macht auszuüben bedeutet, die gerade denjenigen, über den die Macht ausgeübt wird, selber bemächtigt und selber ermächtigt, so daß also nicht mein Einfluß wächst und der andere kleiner wird, sondern, daß die Größe meiner Macht von der Größe der Macht des Anderen, der diese Macht empfängt und Partner in dieser Macht wird, abhängt. Autorität ist Macht, die partnerisch denjenigen, über den sie mächtig ist, nun bemächtigt, er selber zu sein. Und das ist etwas ganz anderes!

Es kann aber im Grunde gar nicht anders sein. Welche Macht ist denn die leitende Macht Gottes? Es ist die Macht zu schaffen, also etwas sein zu lassen, was, ohne daß er es schaffte, nicht da wäre. Nur weil er es schafft, ist etwas da. Durch seine Macht ist Anderes da und dieses Andere hat seinerseits Seinsmacht und diese Macht ist am größten und am radikalsten dort, wo sie eben nicht nur vorhandene Effekte, wo sie nicht nur Wirkungen erzielt, sondern wo sie Ursachen vermag. Die größte Macht ist die Macht, nicht nur Ursache zu sein, sondern auch Ursache von Ursache zu sein, also Ursächlichkeit mitzuteilen, so daß ein Anderer oder ein Anderes sich von sich aus entfalten kann. Die größte Macht Gottes, seine Allmacht, besteht nicht darin, daß alles klappt, sondern daß er zur Freiheit befähigt und in Freiheit freigibt.

Freilich, wenn wir uns dieses näher überlegen, dann stellen wir einige wesentliche Merkmale fest, die zur Autorität als einer solchen gehören. Zunächst könnten wir denken – müssen es aber sofort korrigieren – , Auto-[4]rität bedeute einfach Macht über den Willen und die Freiheit anderer, so daß dieser Andere das, was ich will, auch will. Ist es das? Es ist ein erster Hinblick. Ich bewirke, daß der Andere will, was ich will. Wenn das alles wäre, dann könnte aber dies auch Trick, Übermächtigung und Überlistung bedeuten, und das wäre gerade nicht das Wesen von Autorität, das wäre nicht jene auctoritas, die den Anderen wirklich befähigt. Sondern, indem der Andere aufgrund meiner auctoritas will, was ich will, muß er sich selber wollen. Es muß seine Entfaltung sein. Er muß sich selber ergreifen. Auctoritas ist nur auctoritas, wenn sie den Anderen dazu befähigt, selber zu wollen und sich zu wollen, indem er das will, was ich will, also es von sich her zu wollen, was ich will.

Ist das schon alles? Es ist nur ein nächster Schritt. Denn auch, wenn ich den Anderen wollen lassen wollte, was ich will, so daß er das selber will, könnte im Heimlichen doch noch der Betrug der Übermächtigung drinnenstecken, daß hier nur sublimiert wird, was im ersten Anfang verworfen wurde. Und so kommen wir nicht daran vorbei, zu sagen, daß er das Gute wollen muß, also das wollen muß, was von sich her gut ist, was von sich her wollenswert ist. Dann aber ist es so, daß Autorität immer sich relativiert an dem, was von sich her das Gute ist. Dann ist also mein Wille nur dann wahrhaft mein Wille, wenn ich für mich, aber auch für den Anderen das Gute will.

Dadurch ist Autorität von sich her ein Stück bloßer Machtverzicht. Auf bloße Macht wird verzichtet, denn meine Macht und Mächtigkeit wird nicht nur als etwas Abstraktes hingestellt, sondern ich möchte, was von sich her gut ist, ich nehme Maß. Ich habe eine Autorität über mir und in mir, die Autorität des Guten, die will, was für alle und was für den Anderen gut ist. Dies ist ein entscheidender Schritt. Autorität nimmt sich selber zurück, indem sie das Gute in sich mächtig sein läßt.

Darin ist noch ein weiterer Schritt enthalten, nämlich derjenige des Einklangs, der Übereinkunft. Es ist nicht nur so, daß ich dem Anderen sage, was er zu wollen hat, sondern die Autorität schafft einen wirklichen Einklang, eine Partnerschaft. Aus Autorität kommt ein partnerschaftliches Verhältnis, und in diesem partnerschaftlichen Verhältnis ist sogar drinnen, daß wir nicht nur das allgemein Gute wollen, sondern, daß auch der Andere von sich her befähigt ist, das Gute zu entdecken, mir mitzuteilen, so daß also etwas wie Hinhören oder Gehorsam dann in eine Gegenseitigkeit [5] des Gebens und Empfangens wächst. Wenn ich nicht auch empfange vom Anderen, über den ich „Autorität“ habe, was das Gute ist, – wenn er es nicht mitteilen kann an mich, so daß ich auf ihn höre, dann ist die Autorität nicht ganz Autorität; denn ich bin dann nicht ganz derjenige, der wirklich den Anderen wachsen, sein und entstehen läßt.

So stellen wir von der inneren Dynamik des Ganzen her folgende wesenhafte Punkte in Autorität fest: Wollen, und zwar so wollen, daß der Andere will, mit seiner Freiheit; das eigene Wollen aber so wollen, daß der Andere von sich her dieses will; darin wollen, daß er das Gute will, und selber das Gute wollen; darin sich selber dem Guten unterwerfen und seine Autorität am Guten aufgeben und schließlich dann im Guten zu einem Einklang kommen, der als Einklang um sich wirbt und Andere mit in sich hineinbezieht, und so gerade auch wollen, daß der Andere Autorität über mich wird.

Ich habe im Grunde nichts anderes getan, als genetisch einmal das auch beschrieben (ich führe das hier nicht aus), was auch Trinität als absolute Freiheit meint: Das ist so verstandene auctoritas. Und ich habe nichts anderes als den Zusammenhang von communio und auctoritas beschrieben.

Wenn ich jetzt dieses auf unsere anfänglich gestellte Frage zurücktrage, wie es denn möglich sei, daß es Autorität in Kirche gibt, dann heißt die Losung: Ja, es gibt Autorität, auch zugewiesene Amtsautorität. Aber das Wesen dieser Amtsautorität ist nicht, die Autorität Jesu Christi als einzige zu ersetzen und nicht nur sich auf sie zu berufen in einem äußeren Titel, sondern sie transparent zu machen, so daß eigentlich in mir kein anderer da ist als Er: Daß ich freigebe auf Ihn. Ich sage es manchmal mit dem Bild: Die repraesentatio Christi capitis – die Darstellung Christi als des Hauptes – geschieht nicht darin, indem ich mich zur großen Christusfigur schnitze und so in die Öffnung stelle, so daß die anderen Jesus nur in mir sehen und nicht auf den Herrn selber schauen können, sondern die auctoritas, die in der repraesentatio Christi besteht, liegt darin, daß ich Fenster werde, – Fenster, durch das die Aussicht auf ihn hin gewährleistet wird.

Aber dann hat eben derjenige, der Autorität ausübt, eine mehrfache Kenosis, eine mehrfache Selbstentäußerung zu leben, in der er erst Autorität wird. Er hat die Autorität zu leben, daß er sagt: Du allein bist maßgeblich, nicht ich. Er hat das aber auszuweisen, indem er sagt: Du, über den ich Autorität habe, Du bist es, Du bist der Richtige; auf Dich kommt es an. [6] Er vermehrt die Sichtbarkeit Christi („augere“), er läßt den Anderen wachsen in seiner Freiheit. Und dies sind nicht zwei Dinge, sondern dasselbe. Denn was ist Jesus Christus? Er ist derjenige, der uns das Leben Gottes mitteilt, der uns am Leben Gottes teilgibt, der unser Leben will. So ist eben die Herrlichkeit Gottes der lebendige Mensch, wie es Irenäus von Lyon ausgedrückt hat.

Dann aber ist es entscheidend, daß desweiteren die Gemeinschaft mächtig wird als solche, – daß also Gemeinschaft selber mehr vermag als nur der Amtsträger. Das Mächtigwerden der Gemeinschaft als einer solchen im gegenseitigen Austausch zwischen allen Gliedern und auch zwischen Amt und Gemeinde ist entscheidend.

Sie können demgegenüber sagen: Das sind idealtypische Bilder, die sich mit der Wirklichkeit nicht nur faktisch schneiden, sondern auch schneiden müssen. Ich gebe zu, daß es ein hartes und schwieriges Unterfangen ist, Autorität in diesem Sinn ausüben zu wollen. Ich gebe zu, daß es auch die Ordnung des Ganzen erfordert, um ihretwillen Widerstand einzubauen. Aber, wenn dieser Widerstand nicht Not ist, sondern wenn er Gefallen macht „Endlich darf ich mal“, dann ist er Zeichen eines radikalen Mißverständnisses von geistlicher Autorität. Es muß demjenigen, der widerspricht, und demjenigen, der hemmt, und demjenigen, der doch von außen her auf eine Ordnung drängt, eine Not sein, dies tun zu müssen, – eine wirkliche Not, und er muß auch diese Not einbauen und innerlich hineinsehen und hineinbinden in die Realität dessen, daß er aus Freiheit, auf Freiheit hin, in Freiheit die Freiheit Jesu zum Gange bringt.

Eines freilich wird dabei nicht umgehbar sein. Die höchste Autorität hat jener, von dem das alte Wort sagt: „A ligno regnat Deus - Vom Holze her herrscht Gott“. Die wahre Herrschaft Gottes besteht darin, daß ich den Anderen in seiner Freiheit auch ausleide.

Im Grunde hat Autorität letztlich die Gestalt der Bodenplatten des Barbarossaleuchters in Aachen. Da steht die neue Stadt, das himmlische Jerusalem; aber es steht auf Platten, die das Ganze tragen. In diesen Platten ist die auctoritas Jesu in seinem Leben und auf diesen Platten sind die acht Seligkeiten der Armen und Schwachen dargestellt. Jesus selber ist Fundament und Boden geworden. Er ist an den Boden gegangen, seine höchste Autorität ist Fußwaschung, Kreuzigung, Gottverlassenheit, in der er es ganz und gar austrägt und so in die Freiheit hineingibt.

[7] Niemand, der Autorität ausübt, wird letztlich an dieser Kreuzgestalt der Autorität vorbeikommen und diese Kreuzgestalt der Autorität ist gerade die Radikalität der Autorität, die, wenn sie Gottes ist, nichts anderes sein kann, als Liebe.

Und so möchte ich, liebe Mitbrüder Bender und Heinemann, Ihnen zwei Abbildungen von einer wichtigen Bodenplatte des Barbarossaleuchters als kleines Zeichen der Dankbarkeit und der Verbundenheit mit den Aachener Dom heute Überreichen. Und im übrigen freue ich mich ganz einfach darauf, daß wir in solcher auctoritas, die zugleich communio ist, weitergehen dürfen, und ich bin glücklich, daß meine lieben Mitbrüder Weigel und Bündgens bereit sind, diesen unseren Weg mit uns fortzusetzen.