Forderung und Spielraum des Evangeliums – gleichermaßen maximal

[113] I. Wie sehen Sie das Problem Gemeindekirche – Volkskirche?*

So hilfreich für die Fixierung des Problems das Begriffspaar Volkskirche und [114] Gemeindekirche ist, so schief scheint mir die durch dieses Begriffspaar vorgestellte Alternative. Zur Kirche gehört immer, daß sie sich auf die Glaubensentscheidung des einzelnen gründet, zur Kirche gehört aber auch, daß sie das Heilsangebot an alle auszurichten hat, und daß sie durch ihre Geschichtlichkeit auch mit geschichtlicher Tradition verknüpft.

Wahr ist freilich, daß die Selbstverständlichkeit eines traditionellen Zugehörens zur Kirche durch Hineingeborensein in den Kontext unserer modernen Gesellschaft abnimmt und mehr und mehr Fragen aufwirft. Wahr ist, daß die unselbstverständliche Entscheidung des einzelnen eine größere Rolle als in früheren Epochen spielt und dadurch auch die Intensität der Gemeinschaft in der Kirche zunimmt. Wahr ist, daß Kirche von Anfang an Gemeinde ist – aber nicht wahr ist, daß Kirche nur Gemeinde ist. Eine Kirche, die sich aufs Gemeindesein reduzierte, unterböte die Inkarnation, das Daseinwollen des Evangeliums unter den Menschen in allen Dimensionen, in denen sie miteinander sind. Eine bloße Gemeindekirche unterböte nicht nur die Kirche, sondern die Gemeinde selbst, die nur als Gemeinde aus „Juden und Griechen“, aus solchen, die sich nicht selber gewählt haben, Gemeinde ist. Die Weise, wie sich – um es einmal so zu sagen – Volkskirchliches und Gemeindekirchliches durchdringen, wird sich geschichtlich ändern, aber beide Elemente werden ihr Recht und ihre Bedeutung in der Gemeinde als ganzer und in der Kirche als ganzer behalten und durchsetzen müssen.

II. Soll eine Gemeinde eher Maximalforderungen an ihre Mitglieder stellen oder eher ein plurales und gestuftes Engagement verlangen (im Sinne einer offenen Gemeinde)?*

Ich widersetze mich ein bißchen der Tendenz, die christlichen und entsprechend die kirchlichen Forderungen quantitativ einzustufen: Maximal- oder Minimalforderungen. Das Evangelium selber scheint mir eine andere Dynamik zu haben als jene, die sich durch eine solche quantitative Skala einfangen läßt. Um ihr dennoch ihr relatives Recht einzuräumen: Die Forderung und das Erbarmen, die Eindeutigkeit und der Spielraum sind im Evangelium gleichermaßen maximal. Das heißt konkret: Wenn Gott sich mit dem Menschen in Jesus Christus total identifiziert hat, läßt diese seine Identifikation ihrerseits keine bloße Teilidentifikation zu. Die Forderung auch der Kirche wird darum immer eine Zumutung sein müssen; provokatorisch ist aber auch die Bereitschaft Jesu, den glimmenden Docht nicht zu löschen. Wir werden daher um jene Haltung nicht herumkommen, die nur jenseits dieser Dynamik als zwiespältig erscheint: Menschen von der Kirche „überfordert“ sein zu lassen und Menschen, die dieser Überforderung je nur partiell gerecht werden, doch nicht aus der Kirche hinauszukatapultieren. Übrigens: auch menschlich betrachtet fällt es auf die Dauer schwerer, sich mit dem zu identifizieren, was nur von den Maßen der Zumutbarkeit und Verträglichkeit her bestimmt ist, als mit dem, was einen über die eigene Gewohnheit hinausruft. Also: Identität und Offenheit der Gemeinde, Klarheit und Weite, Forderung und Spielraum dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern müssen in ihrem Zusammenhang glaubhaft gemacht werden.

III. Sehen Sie in den heutigen Bemühungen um eine Gemeindekirche die Gefahr einer Entwicklung zu einer sektenhaften Elitekirche gegeben?*

Die Reduktion auf die Gemeindekirche brächte in der Tat die Gefahr einer Elitekirche mit sich. Das Ja zu den volkskirchlichen Zügen auch im Kirchenbild der Zukunft erfordert indessen zugleich die Offenheit für geistliche Aufbrüche und Bewegungen, die zeichenhaft verdeutlichen, worum es im Evangelium geht, ohne daß das eigene „Charisma“ zur Verengung auf sich selber, zur Geschlossenheit in sich selber verleiten darf.

IV. Welche Probleme im Zusammenhang mit Theorie und Praxis der Gemeinde sehen Sie über die hier genannten hinaus?*

Zu nennen wären viele Fragen; vielleicht vor allem: Wie können die innere Intensität und Lebendigkeit der Gemeinde und die Offenheit für Kirche im ganzen, wie können die christliche Unterscheidung der Gemeinde und ihre Kommunikation mit der Gesellschaft im ganzen, wie können die Treue zum Urtext des Evangeliums und die Notwendigkeit der je neuen Übersetzung, wie können die Allgemeinheit von Gemeinde und die Offenheit für die freien Initiativen und Aufbrüche in ihr und über sie hinaus, wie können die Einungsaufgabe des Amtes und die Mitwirkung mit dem Amt einerseits und die vielen Gaben und Dienste, die vielen Kompetenzen und „Autoritäten“ in ihr zur Synthese gebracht werden?

In dieser Kürze alles ein bißchen formelhaft, aber nur zum Schein irenisch.