Leben heißt antworten
Man hat mich nicht gefragt, ob ich geboren werden will – und doch ist mein Leben eine Antwort. Meinen Intelligenzquotienten und meine Blutgruppe, meine Muttersprache und mein Elternhaus, meinen Geburtsjahrgang, das Gesellschaftssystem und die Umwelteinflüsse, unter denen ich stehe, das habe ich mir alles nicht ausgesucht. Und doch kann mir nicht egal sein, was aus meinem Leben und aus dem der Menschen um mich herum, was aus meiner Welt und unserer gemeinsamen Zukunft wird. Vielleicht sieht es danach aus, daß ich sehr wenig ändern kann, daß man viel mehr mit mir anfängt, als daß ich selber etwas anfangen könnte. Aber wie steht es mit jenen, die wirklich etwas Großes angefangen haben? Etwas, das zum Heil oder Verhängnis für viele die Welt verändert hat? Bei vielen war das Netz ihrer Chancen vermutlich noch enger gestrickt als bei mir. Wie immer ich mich entscheide, verhalte, verweigere, gehenlasse, einbringe, in die Hand nehme, aus der Hand gebe, es bleibt dabei: mein Leben ist Antwort.
Antwort worauf? Sicher, auf Ungezähltes, auf das Schrillen des Weckers und die Schlagzeile in der Zeitung, auf die Verkehrssignale und die leisen Signale der freundlichen oder abweisenden Blicke derer, die an mir vorbeihuschen, auf die Slogans der Werbung und die Parolen der Parteien, auf die Träume der Nacht und die Erzählungen der Kameraden, auf Sonnenschein oder Regenwetter. Aber bin ich wirklich nicht mehr als ein Mosaik aus flimmernden Tupfern verschwimmender Augenblicksreaktionen? Mich hochstilisieren zur Persönlichkeit, nein, darauf lasse ich mich nicht ein. Aber in dem vielen, was auf mich zukommt, bin doch irgendwo ich selbst gefragt, ich selbst gemeint. Leben heißt antworten.
[4] Antworten worauf? Es ist eine ungeheuerlich befreiende, aber auch im letzten ernst fordernde Antwort auf diese Frage, wenn mir aufgeht: Mein Leben ist Antwort, ich selbst bin Antwort auf einen Ruf. Nicht ins Dasein gestoßen, nicht unbestellt und doch abgeholt, nicht Produkt von Zufällen, sondern ins Dasein gerufen, zum Dasein gerufen.
Unter den paar Stellen der Schrift, die einem im Ohr bleiben, gehört trotz seiner Fremde oder gerade wegen dieser Fremde der Anfang des Johannesevangeliums: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.“ (Joh 1,1–3) Vielleicht habe ich im Religionsunterricht einmal davon gehört, daß der Ausdruck „Wort“ ein Motiv der griechischen Philosophie sei, etwas mit Gedanke und Idee zu tun habe, daß es den allem zugrunde liegenden Sinn und Plan meine. Aber vielleicht geht mir das noch näher, wenn ich die Übersetzung zulasse: „Im Anfang war der Ruf.“ Ruf, in dem Gott sich selber sagt, in dem Gott selber, von aller Ewigkeit, von allem Anfang an Gespräch ist – Ruf, in dem Gott aber auch über sich hinausrufen kann, anderes rufen kann, eben die Welt, den Menschen, mich. Und dann wäre in diesem einen Ruf auch der ganz persönliche und einmalige Ruf mit drinnen, der mich ruft, mich meint, mich in die Antwort und Verantwortung ruft für mein Leben.
Und die andere rätselhafte Geschichte, auf die sich dieser Anfang des Johannesevangeliums bezieht, erhielte so ebenfalls ein neues Licht: die Schöpfungsgeschichte. Gott spricht, Gott ruft – und alles wird. So wie es aus Gottes Ruf hervorgeht, so ist es gut, und der Mensch ist gut, der diese Schöpfung sieht und wahrnimmt und sie in seine Hut nimmt. Nicht als launischer Herrscher, sondern als Bild des liebend rufenden Gottes ist er hineingestellt in diese Welt. Er ist Mund Gottes für die Schöpfung, der Gottes rufendes Ja zum Klingen bringen soll in der Welt. Und er ist der Mund der Schöpfung, der ihre Antwort Sprache, Anbetung, Lobpreis werden läßt vor Gott. Dann aber folgt die Verdrehung: der [5] Mensch selber will sein wie Gott, nicht antworten, sondern das erste Wort haben. So aber wird der Mensch sich selbst und wird die Welt dem Menschen fremd. Er versteckt sich, und Gottes Ruf stöbert ihn aufs neue auf: Adam, wo bist du?
Menschheitsgeschichte wird zur Fluchtgeschichte vor dem Ruf und zur Geschichte des immer neuen rufenden Nachgehens Gottes, das den Menschen nicht versinken, sondern in den Bund, in die Partnerschaft, in die Antwort zurückrufen will. Bis hin zu jenem Ereignis – und da wären wir wieder zum Anfang des Johannesevangeliums zurückgekehrt –, das uns die Weihnachtsbotschaft kündet: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt.“ (Joh 1,14a) Das Wort ist Fleisch geworden, der Ruf ist Mensch geworden, Geschichte geworden, uns auf den Leib gerückt in der Leibhaftigkeit des menschgewordenen Sohnes Gottes.
Der Evangelist schreibt denselben Vers weiter: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14a und b). Er und die anderen Zeugen haben sich eingelassen auf den fleischgewordenen Ruf Gottes, der Jesus heißt, und haben, diesem Ruf antwortend, die Erfahrung gemacht, daß in ihm wirklich der nahegekommen ist, der jedem einzelnen Sinn und Fülle des Lebens zuspricht. Leben ist Leben, wenn wir uns rufen lassen vom Ruf, der im Anfang war und jetzt in Jesus da ist und uns trifft.
Von da aus erscheint es als innere Logik, daß dasselbe erste Kapitel des Johannesevangeliums die Berufung der ersten Jünger, das Ereignis der ersten Nachfolge beschreibt. Der Einstieg erfolgt über Johannes den Täufer. Er ist der Rufer in der Wüste, der die satt und müde, leer und hoffnungsarm gewordene Gläubigkeit Israels wieder aufstöbert und es uns sagt: Nein, Gottes Ruf ist nicht beerdigt im fernen „Es war einmal“, seine Taten sind nicht Vergangenheit, welche nicht mehr die Gegenwart berühren. Gott will handeln, hier und jetzt, und wir müssen sein altes Wort er-[6] wecken, damit es uns neu leben läßt mit dem lebendigen Gott.
Diese Predigt erregt Aufsehen, sie weckt Hoffnung, sammelt wache Menschen. Aber Johannes macht eindeutig klar: Nicht ich bin jener, der kommen soll. Er erkennt in Jesus den, auf dem der Geist Gottes ruht, den, der den neuen Anfang bringt. „Seht, das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt.“ (Joh 1,29; vgl. zum Ganzen Joh 1,19–34) Jesus ist also jener, der das Nein der Menschen zu ihrem Ruf auf sich lädt, es sühnt und heilt und die neue Schöpfung, die neue Menschheit schafft, der Sohn Gottes (vgl. 1,34), der Messias, der Gesalbte Gottes (1,41).
Und nun die Stimme des Evangelisten selbst: „Am Tag darauf stand Johannes wieder dort, und zwei seiner Jünger standen bei ihm. Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes! Die beiden Jünger hörten, was er sagte, und folgten Jesus. Jesus aber wandte sich um, und als er sah, daß sie ihm folgten, fragte er sie: Was wollt ihr? Sie sagten zu ihm: Rabbi – das heißt übersetzt: Meister –, wo wohnst du? Er antwortete: Kommt und seht! Da gingen sie mit und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm; es war um die zehnte Stunde. Andreas, der Bruder des Simon Petrus, war einer der beiden, die das Wort des Johannes gehört hatten und Jesus gefolgt waren. Dieser traf zuerst seinen Bruder Simon und sagte zu ihm: Wir haben den Messias gefunden. Messias heißt übersetzt: der Gesalbte (Christus). Er führte ihn zu Jesus. Jesus blickte ihn an und sagte: Du bist Simon, der Sohn des Johannes, du sollst Kephas heißen. Kephas bedeutet: Fels (Petrus). Am Tag darauf wollte Jesus nach Galiläa aufbrechen, da traf er Philippus. Und Jesus sagte zu ihm: Folge mir nach! Philippus war aus Betsaida, dem Heimatort des Andreas und Petrus. Philippus traf Natanaël und sagte zu ihm: Wir haben den gefunden, über den Mose im Gesetz und auch die Propheten geschrieben haben: Jesus aus Nazaret, den Sohn Josefs. Da sagte Natanaël zu ihm: Aus Nazaret? Kann von dort etwas [7] Gutes kommen? Philippus antwortete: Komm und sieh! Jesus sah Natanaël auf sich zukommen und sagte über ihn: Da kommt ein echter Israelit, ein Mann ohne Falschheit. Natanaël fragte ihn: Woher kennst du mich? Jesus antwortete ihm: Schon bevor dich Philippus rief, habe ich dich unter dem Feigenbaum gesehen. Natanaël antwortete ihm: Rabbi, du bist der Sohn Gottes, du bist der König von Israel! Jesus antwortete ihm: Du glaubst, weil ich dir sagte, daß ich dich unter dem Feigenbaum sah? Du wirst noch Größeres sehen. Und er sprach zu ihm: Amen, amen, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel geöffnet und die Engel Gottes auf- und niedersteigen sehen über dem Menschensohn.“ (Joh 1,35–51)
Doch was hat das mit mir zu tun? – Auch ich bin gerufen, auch mein Leben ist Antwort. Und wenn er der ist, als den die Jünger ihn bezeugen, dann darf ich getrost sagen: Mein Leben ist Antwort auf ihn. Ja, egal, was Gott mit mir vorhat, egal, wohin mein konkreter Weg mich weist, es gilt für jeden, der irgendwo einmal Christus begegnet ist: sein Leben ist Antwort auf ihn. Was ich auch tun werde, es hat mit Ihm zu tun, es ist Stellungnahme zu Ihm. Der Ernst dieses Wortes soll mich nicht hineinreden in eine bestimmte Berufsbahn und Lebensform, sondern nur mich freisetzen ins Gespräch mit Ihm, damit wirklich Er mich rufen kann, wohin Er will – und nur so bin ich ganz frei, ganz mit mir eins. Es gäbe mich nicht, hätte Er mich nicht ins Dasein gerufen. Ich bin nur ganz ich, wenn ich eins bin mit diesem Ruf. Antwort, mich selber mitbringen, unverwechselbar und einmalig, ganz von mir aus, aber eben im Hören auf ihn: dies ist das Wunder der Freiheit. Wer Liebe versteht, nur der kann solche Freiheit verstehen.
Die Geschichte von den ersten Jüngern, von ihrer Berufung, wie sie das vierte Evangelium überliefert, ist unerschöpflich. Es ist keine psychologische Geschichte, kein Charakterbild. Und doch darf ich wissen: Hier wird auch meine Geschichte erzählt, so oder so. Es ist stellvertretende Geschichte, Geschichte, die auch mich, gerade mich hinein[8] nimmt in ihre Dynamik. Und so darf ich mich einmal zu diesen beiden ersten Jüngern stellen, Andreas und seinem Genossen, die mit Johannes zusammen sind, während Jesus vorübergeht. Ich darf mich sodann zu Philippus gesellen, den tags darauf der Ruf Jesu trifft. Und schließlich darf ich zugegen sein in der Begegnung zwischen dem zögernden Natanaël und Jesus, der ihn bereits kennt. Später wird meine Geschichte auch noch in die des Simon münden, dem Jesus den neuen Namen gibt. Aber zuerst geht es einmal um die drei genannten Situationen: Jesus wendet sich um – Jesus ruft – Jesus kennt schon.
Johannes der Täufer hatte seinen Freunden von Jesus erzählt. Und nun geht dieser Jesus vorbei: Da ist er, da ist der von Gott für das Heil der Menschen Gesandte, das Lamm Gottes. Und für die beiden, Andreas und seinen Freund, ist es klar: Wenn der das ist, dann laufen wir ihm nach. Da steht also äußerlich nicht der Ruf am Anfang, sondern der Hinweis. Und dieser Hinweis ist so ungeheuerlich, daß er die beiden nicht mehr bleiben läßt, wo sie waren. Das geht einfach nicht, einem zu begegnen, von dem alles abhängt, der den Sinn und die Wahrheit und die Zukunft in sich trägt, und dann bei sich zu bleiben. Ja, wenn das wahr ist, was von Jesus bezeugt wird, wenn das stimmt, wovon die Glaubenden, die Überzeugten, die Zeugen sprechen, dann kann mein Leben nicht mehr so weitergehen wie bisher. Was nützt es, ob ich Chancen gewinne oder verliere, ob ich Pläne erfülle oder sie sich mir durchkreuzen; wenn er Er ist, dann kann ich nicht ich sein ohne ihn. Und Jesus wendet sich um: Was wollt ihr? Ihre Antwort ist wunderbar: Meister, wo wohnst du? Vertraut werden mit ihm, das Bescheidwissen übersetzen in lebendigen Umgang mit ihm, sich einschwingen in seine Weise zu leben, zu sehen, zu handeln. Eintreten in einen Lebensraum mit ihm. So ist es mit den ersten losgegangen, so ist es im Grunde mit den Jüngern geblieben während der ganzen Jahre, da sie mit Jesus zusammenwaren. Wir lesen bei Markus über die Apostel – die Übersetzung bleibt ganz bewußt noch härter und fremder am Urtext als die offizielle [9] Fassung –: „Er machte die Zwölf, damit sie bei ihm seien.“ (Mk 3,14)
Bei Philippus geht es anders. Da geht es so, wie Markus und die anderen es als den Grundtyp der Berufung erzählen: Jesus sieht ihn und ruft: Folge mir nach! Es kann der Fall sein, daß ich meine, Schwester oder Mönch, Missionar oder Weltpriester werden zu sollen – und dann führt mein Weg in allem treuen Suchen seines Willens doch anderswohin. Doch ganz sicher komme ich nie auf die Idee, mich radikaler für ihn zu öffnen und bedingungslos ihm nachzugehen, ohne daß nicht dahinter etwas von ihm steckt. Zu etwas kann ich mich selbst, kann irgendein Schein mich verführen. Zu ihm kann nur er selber mich führen. Und darum geht es. Wo er mich beunruhigt, wo er hineinreicht in mein Leben, da begegne ich dem Ruf, der ich bin, der mir meine Identität schenkt. Aufmerksam sein auf die Spuren, die er in mein Leben schreibt, wachsam sein für die Begegnungen, in denen er selber mich anspricht, sensibel sein für jene heilsame Unruhe, die von ihm ausgeht, um mich auf seinen Weg mitzunehmen: das ist Ausstieg aus dem Leerlauf eines Lebens, das nur nach je besseren Angeboten und je attraktiveren Möglichkeiten Ausschau hält, das Ergriffene bei der ersten Enttäuschung wieder weglegt oder sich mit dem Spatz in der Hand in schlauer Resignation zufrieden gibt.
Aber da ist nicht nur Philippus, sondern auch Natanaël, der es von Philippus hört: Wir haben den Messias gefunden! Natanaël ist skeptisch. Aus Nazaret, kann von dort etwas Gutes kommen? Die Stadt steht für keinen der großen biblischen Verheißungsnamen, die man mit dem kommenden Messias und Reich zusammenbringen könnte. Aber was Jesus den beiden ersten gesagt hatte, als sie ihn fragten, wo er wohne, das sagt nun aus seiner tastend ersten Erfahrung Philippus dem Natanaël: Komm und sieh! Und wie der Neuling sich prüfend heranwagt an diesen fremden Jesus, da sagt er ihm auf den Kopf zu, daß er ihn schon gesehen hat. Sein Herz ist entdeckt, sein Leben liegt offen vor diesem Unbekannten.
[10] Vielleicht bin auch ich Natanaël. Vielleicht habe auch ich meine Schwierigkeiten und Vorbehalte, vielleicht ist Nachfolge mir ein Wagnis, von dem ich noch nicht genau weiß, wie es verantworten. Wenn ich aber mit seinem Wort lebe, wenn ich mich in das Neue und Andere der Gemeinschaft mit ihm hinein öffne, dann werde ich genau diese Entdeckung machen: Er selber ist meinem Herzen auf der Spur, er selber kennt mein Leben, ich sehe mich neu von ihm her, in seinem Licht. Er schenkt mir mich – ich bin durchschaut, erkannt. Leben mit dem Ruf Jesu heißt Leben mit dem Ursprung, mit der Quelle, die mir mein eigenes Leben schenken, Leben mit dem Licht, in dem ich allererst mich selber sehen lerne. Nicht im Sinn einer ätzenden Analyse oder einer belastenden Minderwertigkeit, im Gegenteil: Durchschaut werden von ihm heißt angenommen sein von ihm und so sich annehmen können. Nur wer sich annehmen kann, kann sich wagen. Und nur der kann sich annehmen, der sich angeschaut und angenommen weiß von dem, der größer ist als er.
Stehe ich neben Andreas und seinem Freund? Muß ich mit ihnen mir sagen: Wenn du es bist, dann kann ich nicht ruhig weiterleben, dann muß ich dir nachlaufen, bis du dich umwendest und mir Gemeinschaft mit deinem Leben schenkst!? – Bin ich Philippus und habe es bislang nur noch nicht gemerkt: einfach gerufen, einfach getroffen von dem Wort „Folge mir!“? – Oder bin ich der noch zögerliche Natanaël, der dann doch den Schritt auf ihn zu tut – und sich selbst entdeckt in seinem Blick?
Jedenfalls sind drei Dinge notwendig, damit es nicht bei schöner Betrachtung und unverbindlichem Abheben in eine Welt neben meinem Leben bleibt. Zum einen muß ich Schritte tun, Schritte hin bis zu seiner Wohnung. „Meister, wo wohnst du?“ Wein schmeckt nur beim Trinken, Musik erschließt sich nur dem, der sich von ihr in Schwingung bringen läßt, Gespräch gelingt nur in der Auslieferung des Vertrauens. Wer Jesus ist, weiß nur, wer mit ihm geht, wer bei ihm wohnt. Noch einmal: Mit seinem Wort leben, auf [11] seine Gesten schauen, mit ihm zum Vater gehen, mit ihm sich den Menschen öffnen.
Ein zweites kommt hinzu, und das kann uns mit besonderer Deutlichkeit dieser Simon sagen, den sein Bruder Andreas mitzieht zum Herrn. Auf den Kopf zu gibt ihm Jesus den neuen Namen: Kephas, Fels. Das ist eine delikate Sache, aber ganz wichtig. Der neue Name. Wir wollen immer unsere Identität finden. Wir wollen uns verwirklichen. Wir wollen fragen, ob mir das paßt und ob ich das kann, ob das meinem Stil und Wesen entspricht, was dieser Jesus von mir will. Alles keine ganz verkehrten Fragen. Alles ganz natürlich wichtige Dinge. Aber reichen sie aus? Eigentlich kann in keiner personalen Beziehung etwas geschehen, wenn ich nicht riskiere, in ihr neu zu werden. Nicht im Sinn einer klischeehaften Anpassung an den andern, gewiß nicht. Aber wenn ich nicht den Sprung in den andern hinein tue, trete ich immer nur auf der Stelle, mein Leben ist bald ausgetreten und ausgeleiert. Ich brauche gar nicht erst alt werden, ich bin schon alt. Nur im Sprung zum andern entspringt die Quelle, die ich bin. Und das ist ganz radikal so in der Begegnung mit dem, der mich geschaffen hat und neu schafft. Mich loslassen an ihn, von ihm meinen neuen Namen, meine neue Identität gewinnen, mich einfach auf ihn einlassen und von ihm her leben – dann werde ich erst entdecken, daß wahrhaft ich das bin, daß ich wirklich dem begegne, der mich besser kennt als ich mich kenne, daß ich mit dem lebe, der mein Leben geschaffen hat. Mut zur neuen Identität, Mut zum neuen Namen, Mut, mich dahin senden zu lassen, wofür ich noch keine Garantien und keine eigenen Erfahrungen ins Feld führen kann.
Meister, wo wohnst du? – Mut zum neuen Namen, zur neuen Identität – und ein letztes: Leben miteinander. Diese Berufungsgeschichten gehen jeden einzelnen ganz persönlich an, sind die Sache des Herzens, der innersten und unvertretbaren Einmaligkeit eines jeden persönlich, ganz gewiß. Aber einer sagt dem andern weiter, was er beim Herrn erfahren hat; und wer zum Herrn geht, der geht zu den [12] andern, der tritt ein in eine Gemeinschaft, der bleibt nicht isoliert, der bringt sich ein in die größere Weggemeinschaft.
Doch ist nicht gerade dieses wunderbar? Diese drei Erfahrungen sind es doch, nach denen wir uns sehnen: Lebensraum, Atemraum, in dem ich dasein kann: Meister, wo wohnst du? – Nicht verurteilt sein zu sich selbst, sondern einen neuen Anfang wagen können, den Sprung über sich hinaus, in dem der Sprung zu sich selbst gelingt – Gemeinschaft finden, die über sich selbst hinauswächst, die dicht ist und eine Mitte hat, und die offen ist, immer neu offen über alle Ränder hinaus.
Ja, im Anfang ist der Ruf. Und der Ruf ist Fleisch geworden und wohnt bei mir, damit ich Antwort werde, und so Ruf der Hoffnung und der Liebe für viele.