Im Konkurrenzkampf der Weltanschauungen

[79] Das Geschenk des Leibes

Man sagt, das unbewältigte Problem der abendländischen Philosophie sei die Leibhaftigkeit, sei die Materie. Die große Leistung abendländischen Denkens ist das Begreifen des Selbstbewußtseins, der Mitvollzug jener Urbewegung des Geistes, der von sich selber ausgeht und zu sich selbst zurückfindet. Von Platon bis Hegel, und auch noch in den Zerfalls- und Folgeerscheinungen von Hegel, lebt, vielfältig abgewandelt, die angedeutete Grundfigur des Denkens. Dies bedeutet keineswegs, daß das Denken sich nicht mit der Welt, mit den Dingen, mit den verschiedenen Stufen und Schichten der Ordnung des Seienden beschäftigt habe. Der Weg durch diese Stufen und Schichten wurde offenbar als Weg des Geistes von sich weg und zu sich selbst. Was ist, ist, sofern es ist, geprägt vom Geist, Zeugnis vom Geist. Das große Rätsel aber ist, wie der Geist, sich selber hell, zugleich von sich hinweg könne in das andere, in das unerhellte, in das passive Sein, das mit dem Ausdruck „Materie“ gemeint ist. Schon bei Platon wird Materie zum zweiten Prinzip, das zwar ohne den Geist nicht zur Existenz gelangt, das aber als solches nicht aus dem Geist ableitbar ist. In mancherlei Gestalten des Neuplatonismus wurde die Problematik derart „gelöst“, daß das Materielle als die Verfrem-[80]dung des Geistes, als der Ausdruck des Abfalls des Geistes von sich selbst begriffen wurde, und es erschien als die Aufgabe des Geistes, sich aus dieser Verfremdung wieder zu lösen, in die schwerelose Reinheit seiner selbst sich zurückzubilden. Gewiß setzte die christliche Botschaft von der „Schöpfung aus dem Nichts“ dem einen scharfen Kontrapunkt entgegen. Alles, gerade auch das „andere“ des Geistes, das Materielle ist von Gott aus dem Nichts erschaffen. Materie ist nicht zweites Prinzip, das von außen in das schöpferische Tun des Geistes hineinkommt, sie ist auch nicht ein Verfallsprodukt des Geistes. Es gibt nur ein Prinzip, den schaffenden Gott, er ist aber Prinzip, welches sein Anderes, welches den Hervorgang des Geschöpfes aus dem Nichts vermag. Auch der Leib erhält so im Christentum grundsätzlich eine neue Würde. Die Menschwerdung des Wortes ist Fleischwerdung, die Erlösung ereignet sich im leibhaftigen Geschehen des Todes und der Auferstehung Christi, das Heil des Menschen wird verstanden als Heil des ganzen Menschen, und das schließt die Verherrlichung des Leibes mit ein. Gleichwohl blieb die Weise zu denken weithin vom platonischen oder neuplatonischen Gegensatz zwischen Geist und Materie bestimmt. Der Grund hier-[81]für liegt auf der Hand: Oft genug und tief genug muß der Mensch, muß jeder Mensch das Schwergewicht seiner eigenen Leibhaftigkeit, die Widerständigkeit des Dunklen und Triebhaften in sich erfahren, die Aufgabe, sein eigenes Dasein auf Gott und seinen Willen auszurichten, erfordert zumindest auch immer wieder das Ringen mit der Leidenschaft des eigenen Ich, das gerade hinter den Ansprüchen und Bedürfnissen der Leibhaftigkeit sich verschanzt. Und doch ist es ein Zeichen der Zeit, daß mit der Infragestellung alles bloß Hergebrachten und Überlieferten auch der Protest gegen eine Entwertung der Leibhaftigkeit sich heute mit vitalem Ungestüm meldet. Das Drängen nach Freiheit, das den Menschen aus aller Entfremdung herausreißen will, ist ein Drängen nach der Befreiung des Leibes, nach dem ungeschmälerten „Ja“ und „Gut“ auch zum Materiellen, zum Triebhaften, zu allem, was sich in uns regt. Doch bereits schlägt die Leidenschaft des Zeitalters wieder um. Die sich selbst genießende enttabuisierte Leibhaftigkeit und Triebhaftigkeit hinterläßt Öde und Langeweile, nicht ungestörte Identität mit sich selbst, sondern sinnlosen und stillosen Selbstverlust. In dieser Situation sind wir, herkommend aus der Geschichte des abendländischen Geistes, aber auch herkommend aus dem Erbe christlichen Glaubens [82] und seiner Botschaft von Materie und Leib dazu gerufen, jene Freiheit zu suchen und zu artikulieren, die Christus uns als Freiheit des ganzen Menschen, als Freiheit auch im Leib und zum Leib, geschenkt hat. Vielleicht kann uns ein Wort des Evangeliums – das jenseits der abendländischen Trennung von Leib und Seele in einem anderen Sprach- und Denkraum formuliert ist – hier einen Weg weisen: Wer sein Leben liebt, wird es verlieren, wer sein Leben verliert, wird es finden (vgl. Lk 17,33; Jo 12,25). Hier ist ein Prinzip für den ganzen Menschen aufgestellt, das indessen gerade auch für die Leibhaftigkeit seine fundamentale Bedeutung hat. Wer sich hat, der entgeht sich, nur jener, der sich gibt, wird mit sich identisch. Der Leib wird oftmals in Spannung zum eigenen Ich erfahren, in jener Spannung, die sich in gelöste Identität aufheben will. In der Leibhaftigkeit erfährt der Mensch seine Bedürftigkeit, die sich in Besitz und Genuß hinein erfüllen will. Bloße „Bezähmung“ der Leibhaftigkeit verkürzt den Menschen, das Erheben der Bedürfnisse der Leibhaftigkeit zum Maß menschlichen Daseins entfremdet die menschliche Person sich selbst. Wie kann der Kontrapunkt der Leibhaftigkeit auf positive Weise eingeholt werden in das Gleichgewicht des Ich mit sich selbst? Die [83] christliche Antwort: indem der Leib als die Chance betrachtet wird, sich selbst zu geben, sich selbst zu verschenken. Das eigentlich „Neue“, das dem menschlichen Dasein in seiner Leibhaftigkeit erschlossen ist, besteht in der Möglichkeit einer Hingabe, die so radikal ist, daß in ihr der Mensch etwas verlieren, etwas hingeben kann. Bloß geistiges Geben geschieht im Grunde immer ohne Selbstverlust, ohne Einbuße. Wer für andere jedoch leibhaftig seine Zeit, seine Kraft, seinen Schweiß, ja sein Blut hergibt, der gewinnt eine neue Tiefe des Du-Sagens, eine neue Fülle somit jenes wahren Selbstseins, das gerade nicht Sich-Bewahren, sondern Sich-Überschreiten bedeutet. Gerade solche Leibhaftigkeit führt den Menschen in eine eigentümliche Nähe zu Gott selbst, der als die Liebe absolutes Sich-Verschenken ist. So erhält auch die Leibwerdung, die in der Menschwerdung des Sohnes Gottes eingeschlossen ist, ihren tiefsten theologischen Rang: Sie ist die höchste Offenbarung des Gottes, der Liebe ist, Offenbarung, in der Gott seine eigene „Geschichte“ mit dem Menschen hat, indem er sich selbst ihm ganz und gar gibt. Ein größeres, ein totaleres Sich-Geben Gottes als sein Sich-Geben im Leib läßt sich nicht denken. Ein göttlicheres Sich-Geben des Menschen als sein Sich-Geben im Leib, als die geschehende Hingabe des Lebens, des [84] Blutes, ob es nun im einen Zeugnis des Martyriums oder, wie Therese von Lisieux es ausdrückte, tropfenweise, Tag für Tag in der Liebe zu den Brüdern vergossen wird, läßt sich wiederum nicht denken. Solches wird zwar erst durch die Offenbarung erkannt, ist eine „theologische“ Aussage, und doch bewährt es seine Gültigkeit in alltäglichen Erfahrungen. Wer ich bin und was ich bin, kommt auch menschlich erst dann heraus, wenn ich nicht um mich selber kreise, wenn ich mich nicht bewahren will. Wer seine Identität mit sich zum Thema macht, der kann sie nicht „erfahren“, weil er die ganze Kraft seiner Ursprünglichkeit nur dann sich entfalten läßt, wenn er den Ur-Sprung, den Sprung von sich weg, riskiert. Erst dort kommt er ganz aus sich heraus, wo er ganz von sich wegkommt. Ein Von-Sich-Weg-kommen, das ihm aber nur widerfährt, eine von außen manipulierte Ekstase des Rausches zieht ihn aber so von sich weg, daß er selbst gar nicht mehr „drinnen“ ist. Die einzige Möglichkeit, selbst zu sein und zugleich von sich weg zu sein, ist: sich geben. Der Sinn und die Möglichkeit des materiellen Daseins ist – um auf die platonische Problematik zurückzukommen – gerade dies: Andersheit, Materialität, ist Möglichkeit des Geistes, sich zu geben. Nicht mehr durch den Eros, die hochziehende Kraft des Geistes, [85] welche die Materie über sich hinaushebt, sondern durch die Agape, die sich verströmende Liebe, der es nichts ausmacht, sich zu verlieren. Wenn sie sich darin verschenkt, erhält das materielle Dasein seinen Sinn. Dieser Sinn des Materiellen, die „Herrlichkeit“, das Über-Sich-Hinausstrahlen des sich verschenkenden Geistes zu sein, wird am deutlichsten sichtbar in der Eucharistie. Hier ist Gottes Sich-Schenken im Leib, Gottes Dasein für uns so hart, so wirklich, so einmalig da, wie es eben nur in der Leibhaftigkeit möglich ist. Hier ist aber auch Leibhaftigkeit zugleich durchdrungen von der Allmacht der Liebe, die gerade, indem sie sich verliert, bei sich ist, ja sich steigert: Eucharistische Leibhaftigkeit ist die Fruchtbarkeit des Samenkorns, das tausendfältig aufersteht und Frucht bringt, wenn es in die Erde fallt und stirbt (vgl. Jo 12,24). Christliches Leben erhält als ganzes seine eucharistische Gestalt: Es ist Sich-Verschenken der unteilbaren, ganzen Menschlichkeit, die als solche das Sakrament des göttlichen Sich-Schenkens wird; es ist zugleich unendliches Sich-Gewinnen, denn es ist Beschenktsein von der unendlichen, göttlichen Hingabe, die nicht nur die innere Spitze menschlichen Geistes, sondern das ganze Menschsein, gerade auch den Leib umfängt und einholt. Bleibt indessen nicht noch eine Frage offen, die sich [86] aus der Erfahrung der Leibhaftigkeit dem Menschen immer wieder aufdrängt und auf die gerade auch moderne Psychologie immer wieder hinweist? Gemeint ist die Frage danach, ob das Sich-Geben als solches nicht eine Überspannung, eine Überanstrengung des Menschen darstellt, der doch nach einem Gleichgewicht, nach einer Balance, nicht nach dem Maßlosen, sondern nach dem Maß verlangt. Ist nicht menschliche Leibhaftigkeit nur dann schön, wenn sie im Maße ist? In der Tat, wenn Sich-Geben als einsame Leistung betrachtet würde, dann wäre es exzentrisch, dann führte es zur Verkrampfung. Die Konsequenz heißt aber nicht: Menschliches Leben ist halb Sich-Geben und halb Sich-Bewahren; sie heißt vielmehr: Menschliches Leben ist ganz Sich-Geben und zugleich ganz Sich-Empfangen – mehr noch: Menschliches Leben ist gegenseitiges Sich-Geben und Sich-Empfangen. Gott selbst hat sich mir gegeben in einem, der neben mir steht, und gerade so hat er mich zu einem Glied an seinem Leib, mich zum Glied am selben Leib wie die anderen gemacht. Menschliches Maß und menschliches Gleichgewicht ist im Leib, seit aber Jesus Christus gekommen ist, nicht mehr im Leib des einzelnen, sondern im Leib, der wir miteinander sind. Wo Jesus Christus in unserer Mitte ist, dürfen wir so füreinander zur Eucharistie, zum Ge-[87]schenk werden, von dem wir leben können. Und gerade das ist auch unsere Gesundheit: Es ist die Liebe, in der wir nicht auf uns, sondern auf die anderen, in der aber die anderen auf uns bedacht sind, weil einer auf uns alle bedacht und weil wir alle auf ihn allein bedacht sind: Jesus Christus in unserer Mitte.