Im Konkurrenzkampf der Weltanschauungen
[8] Der Gott der Hundert Prozent
Man sollte die Sache auch immer einmal von der anderen Seite her betrachten. Beim Menschlichen, beim Gesellschaftlichen, beim Politischen hat sich das einigermaßen herumgesprochen. Wenn man´s nicht tut, wird man darauf aufmerksam gemacht, daß man einseitig ist.
Aber warum machen wir es nicht genauso mit Gott? Wir betonen immer, daß es heute so unselbstverständlich, ja so schwierig sei zu glauben, und wir haben gute Gründe dafür. Nun, wir glauben trotzdem, aber wir glauben sozusagen durch „unsere guten Gegengründe“ hindurch, wir filtrieren unseren Glauben durch ein bißchen Unglauben, und was dabei herauskommt, ist höchst sonderbar: ein Halbglaube, und somit genau das, was todsicher die Wirklichkeit nicht trifft. Denn Gott ist oder Gott ist nicht, nur „vielleicht“ ist Gott jedoch bestimmt nicht.
Das ist gemeint mit der Aufforderung, man solle die Sache einmal von der anderen Seite, von der Seite Gottes her anschauen: Wir sollen einmal von Gott her denken, ob das, was wir ihm als unseren Glauben zumuten, damit noch im Einklang stehen kann, daß er Gott ist. Wenn nämlich nicht, dann ist es kein Wunder, daß uns das Glauben so schwer fällt. Das Leben mit dem bloßen „Vielleicht“ oder das Tragen der ganzen Last Gottes mit der nur halben Kraft, das [9] ist in der Tat eine Fehlkonstruktion, die einen nur quälen, mit der man nicht leben kann.
Halten wir also einmal eine Gewissensforschung über die Verkennungen Gottes, die unseren Glauben nur allzu oft verzerren – dann nämlich, wenn wir nur aus der Käferperspektive unsere Schwierigkeiten und nicht aus der Perspektive dessen die Dinge sehen, an den sich unser Glaube doch richtet. Glauben, das heißt seinen Schwerpunkt in den hineinverlagern, an den man glaubt, das heißt umsteigen in die Perspektive dessen, auf den man sich verläßt, das heißt weggehen von dem, was man bloß in sich selbst und aus sich selbst findet. So kann es also gar nicht anders sein: Wenn wir glauben, haben wir nicht mehr unseren eigenen Boden unter den Füßen und nicht mehr unsere eigenen Schwierigkeiten zu Bedingungen unseres Sehens, sondern wir gewinnen Boden in Gott, wir sehen von ihm aus und denken von ihm aus.
Wir aber tun, also ob Gott nur zu 49 oder zu 51% existierte. Wäre er zu 49%, so wäre er unerträglich, denn beinahe die Hälfte von allem, was wir selber tun können, nimmt er uns weg. Und wäre er zu 51%, so wäre er ohnmächtig, denn beinahe die Hälfte von allem hängt doch an uns selbst, der ganze Durchgriff zu unserer Wirklichkeit gelänge ihm nie; [10] denn zur Hälfte hinge sie uns ja doch am eigenen Bein. Gott kann also nur zu 100% Gott sein – oder er ist nicht. Glaube mag daher so schwer sein, wie immer er will. Wenn wir glauben, dann können auch wir´s nur zu 100%. Und wenn alles dagegenspricht, daß wir es können: es gehört ohnehin zum Glauben, gerade daran zu glauben, daß nicht wir das Glauben können, sondern daß Gott es in uns kann; Glaube ist ein Geschenk.
Ein anderer Fehlansatz in unserem Glauben: Wir tun oft, als ob Gott nur ein Gott am Rande wäre, der Gott eines Anfangs, der einmal gewesen ist – und jetzt sind wir allein damit, aus diesem Anfang etwas zu machen; der Gott des Endes – aber dieses Ende ist erst später einmal; der Gott an der Spitze des Weltgebäudes – aber diese Spitze ist weit weg von unserem wirklichen Leben; der Gott in der innersten Tiefe unserer Existenz – aber wir agieren in großem Abstand von dieser Tiefe an einer durch sie kaum behelligten Oberfläche herum; der Gott als Inbegriff aller Normen – aber unser wirkliches Handeln wird weit mehr von den Situationen als von den Normen bestimmt; der Gott als Wert aller Werte, als höchstes Gut – aber wir haben es mehr mit Notwendigkeiten und Brauchbarkeiten des Augenblicks als mit letzten Werten und höchsten [11] Gütern zu tun. Wir machen so Gott ganz groß, aber so groß, daß er uns nicht mehr wehtut, nicht mehr weh und nicht mehr wohl; denn in solche Distanz gespannt zu unserem Leben, kann er dieses nicht mehr anrühren. Gott aber sagt: Dein Heil bin ich; Gott spricht den Menschen gerade dort an, wo er es nicht vermutet; Gott ist der Überraschende, der Rufende, der Gott, der mir in dem Sinn „inwendiger ist als mein Innerstes“ (Augustinus), daß er mir näher ist als das mir Zunächstliegende. Gott ist nur wirklich Gott, wenn er der Gott meiner Wirklichkeit ist. Glauben heißt, meine Wirklichkeit einlassen auf die seine und so ihn einlassen in meine Wirklichkeit. Ganz nahe bei dieser Verkennung Gottes liegt eine andere: Wir tun so, als ob Gott nicht hörte und nicht handelte. Wir zweifeln zwar nicht daran, daß es ihn gibt; aber daß es ihn gibt, reicht dann höchstens hinein in unser Sollen und Dürfen, in unser Erklären und Verstehen der Wirklichkeit. Im übrigen haben wir jedoch diese Wirklichkeit gerade durch unser Erklären- und Verstehenkönnen „dichtgemacht“. Wir haben erkannt und bilden uns etwas darauf ein, daß die Meteorologie eigene Gesetze hat, die relativ unabhängig davon zutreffen, wie oft der Wettersegen gespendet wird. Wir haben uns der Erforschung der Welt zugewendet, um zu sehen, wie sie ist und funk-[12]tioniert – auch wenn Gott nicht wäre. Nun, man kann das „Funktionieren“ einer Geige durchaus so untersuchen, daß man dabei von der Kunst dessen absieht, der aus diesem Instrument Unglaubliches, Unerahntes hervorruft, ohne daß er dabei die physikalischen Gesetze der Tonerzeugung überspränge. Im Klartext: Daß Gott endlichen Ursachen und Ursachenbereichen ihre Eigenständigkeit gewährt, spricht keineswegs dagegen, daß er in all diesen Bereichen als die allgegenwärtige und allwirkende Ursache uns nahe ist. Übrigens: auch unter Menschen soll ein Gespräch besser gelingen, auch Menschen sollen sich besser kennenlernen, wenn sie nicht nur auf die physischen und psychischen Regelmechanismen achten, nach denen das Gespräch abläuft, sondern wenn sie einfach einander, du auf du, zuhören; dann, gerade dann werden Menschen füreinander wirklich und mächtig. Beispiele hinken freilich immer; die herangezogenen hinken dann, wenn ich mit ihnen den direkten und unmittelbaren Eingriff der göttlichen Ursächlichkeit (das, was man gängig Wunder nennt), ausschließen wollte.
Nochmals in der Nähe, aber etwas anderer Art ist jene Verkennung Gottes, die mit einem vielzitierten Sprichwort zusammenhängt: „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“ Natürlich ist es wahr, daß ich meine [13] Hände nicht in den Schoß legen darf, um Gott zum Angestellten meiner Trägheit oder Wehleidigkeit zu machen. Natürlich nimmt Gott mir nicht das ab, wozu er mir die Kraft und Fähigkeit gegeben hat, natürlich ist er nicht der bloße Lückenbüßer für das, was in der Apparatur seiner Welt nicht ganz klappt. Aber so wenig es Gott zu 49 oder zu 51% geben kann, sowenig gibt es ihn als jenen, der 49 oder 51% zu meiner Aktivität dazutäte. Wie im Gespräch beiden Partnern, wenigstens dann, wenn sie sich ganz ernst nehmen, nicht nur ihr eigenes Wort, sondern eben auch das des Partners „gehört“, wie Gespräch also nicht die Addition von isolierten Gesprächsbeiträgen ist, sondern eben ein Geschehen, so ist es auch bei unserem Verhältnis zu Gott: alles liegt an ihm, alles liegt an uns, halbieren geht nicht. Gott schenkt mir alles: dies, daß ich kann, was ich kann, und dieß, daß ich ihm das schenken kann, was ich nicht kann, damit er es kann. Alles liegt aber auch an mir: daran, daß ich meinen Part um seinetwillen übernehme als den Part, den er mir gönnt und anvertraut, und daran, daß ich es als das Höchstes meines Parts erkenne und anerkenne, daß ich ihm letztlich alles, das, was ich kann, und das, was ich nicht kann, überantworte. Glaube ist nicht Passivität; Vertrauen, Sich-Verschenken, seine Armut ver-[14]schenken, das ist der höchste Vollzug eigener Freiheit. Noch gründlicher freilich hieße es Gott verkennen, wenn wir so täten, als ob die Rede von Gott nur die populäre Verkleidung einer Realität wäre, die an sich „philosophisch“, ,,spekulativ“ ist. Natürlich, es stimmt, ja es ist sogar dogmatisch festgelegt, daß alles Reden von Gott, auch das der Offenbarung und des kirchlichen Lehramtes, mehr sagt, wie Gott nicht ist als wie Gott ist. Alle Versuche, über ihn zu reden, sind nur ein Stammeln, jedes Wort und jeder Gedanke sind zu klein für die Realität des lebendigen Gottes. Das gilt aber vom philosophischen und begrifflichen Reden nicht weniger als vom „einfältig“ religiösen. Im Gegenteil. Philosophisches Reden, so unabdingbar es ist, hat sogar einen Nachteil, ein Minus an Treffsicherheit: es ist Reden über Gott, und das wird Gott weniger gerecht als das Reden zu Gott; denn wenn Gott ist, so ist er allgegenwärtig, aber allgegenwärtig nicht nur wie die Luft, sondern allgegenwärtig als das angehende, als das lebendige Du. Ich bin in meiner Wirklichkeit in meiner Endlichkeit, so wie ich bin, von Gott gemeint und angesprochen, und wenn ich all diese Wirklichkeit einbringe in mein Reden von Gott, bin ich in der Nähe dessen, wovon ich rede. Es ist für die Vernunft das Unbegreifliche, das Ärgernis, daß dieser Gott den [15] Sprung über sich selbst hinaus tut, daß dieser Gott anderes, Endliches sein läßt; und diesem Gott der unbegreiflichen Nähe zu mir, der unerklärlichen Zuneigung zu mir kann nur das ganz konkrete Sprechen und Denken gerecht werden. Lange Zeit haben auch die großen Denker ihre Gedanken über Gott als Anrede Gottes formuliert – etwa Augustinus und Anselm von Canterbury. Wenn ich Du sage, bestehe ich nicht auf meinem Gedanken, sondern ich liefere ihn aus, gebe ihn weg an den, den ich anrede. Direkte Rede hält sich nicht fest, sondern läßt sich selber los. Direkte Rede, Anrede ist Gott gegenüber freilich nur deswegen möglich, weil Gott zuerst uns angeredet hat. Dies ist das Tiefste und Innerste Gottes, tiefer und wichtiger als alle noch so wesentlichen Gedanken, die ich mir selbst über Gott machen kann. Nein, die konkrete, die einfache Rede vom handelnden und wirkenden Gott ist nicht Verkleidung einer dahinterliegenden philosophischen Wahrheit, sondern sie ist Antwort. Nur in dieser Antwort ist Gott da als Gott, denn in ihr ist er da als der, der er ist: der Redende, der Schenkende, der Sich-Öffnende.
Wenn wir nicht damit rechnen, daß Gott hineinreicht in die Wirklichkeit unseres Lebens, so hat das mitunter auch einen anderen Akzent: Wir tun so, als ob er zu groß und zu gut wäre, sich um unsere [16] Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten zu kümmern. Wir wollen ihn nicht behelligen mit den Bagatellen unseres Alltags. Was soll einen Gott, der die Jahrtausende und das Weltall umspannt, diese winzige Portion Mensch interessieren, die ich bin? Aber er hat es schließlich uns selbst gesagt, daß er, dem mehr an dem einen verlorenen Schaf liegt als an den 99 „sicheren“, das Herz des Menschen, deswegen so erschaffen hat, weil er selbst genauso empfindet. Wir können, wie Guardini es einmal ausdrückte, uns Gott nicht menschlich genug vorstellen. Und das ist eigentlich logisch; denn woher sonst als aus sich selbst sollte Gott auf eine solche Idee gekommen sein wie auf die des menschlichen Herzens? Die Kleinen, die Kinder, die Liebenden, das sind jene, die ihn verstehen; denn sie sind jene, die größer sind als die berechnende Enge und selbstbezogene Angst dessen, der sich in sich selbst verbeißt.
Es passiert indessen nicht nur, daß wir Gott weit weg von uns schieben, ins unerreichbare „Über-uns“; genauso häufig unterläuft uns dieses andere: Zu tun, als ob Gott „nebendran“ wäre, neben der übrigen Wirklichkeit, ein Sektor von ihr, ein Sektor neben anderen. Wir sind vielleicht sogar sehr religiös; aber wir sind es nur in Sachen Religion. Frömmigkeit ist ein Bezirk, und so lange wir uns in diesem Bezirk [17] aufhalten, ist Gott hundertprozentig Gott; aber der Bezirk Religion nimmt keine 100% unseres Lebens ein, er ist ein Naturschutzpark, in den wir uns zur Erbauung, Erholung und Vertiefung, in den Muße-, Stern- und Krisenstunden unseres Daseins flüchten. Zwischen diesen Bezirk und den grauen Alltag aber schiebt sich etwas wie eine dicke, kugelsichere Glasscheibe. Wenn wir, so ganz normal, in der Familie, im Beruf, in der Politik unsere Dinge tun, dann läuft das einfach in sich selber ab; man könnte geradezu von einer Schizophrenie unseres Verhaltens sprechen. Und wenn wir dem entgegenhalten, es gehe doch gar nicht anders, Gott selber wolle doch, daß man den Wert der verschiedenen Daseinsbereiche beachte und nicht verwische, dann bleibt Gott eben doch nur Sektionschef, Abteilungsleiter; er hört auf, der Gott zu sein, dem alles gehört, der Gott, der alles in allem ist. Nichts gegen die Autonomie der weltlichen Daseinsbereiche! Aber diese Autonomie und die Theonomie lassen sich nicht gegeneinander ausspielen, sie sind kommunizierende Größen. Wenn ich ganz in Gott bin, wenn ich in allem in Gott bin, dann und nur dann kann ich mich auch ganz freigeben an die Bereiche dieser Welt – freigeben nämlich so, daß ich nicht der Gefangene dieser Bereiche bin, sondern sie in ihrem Sinn, in ihrem Maß, in ihrer [18] Bedeutung ernst nehme. Jawohl, es gilt der Satz des Paulus: ,,Alles ist euer“ (1 Kor 3,22); er gilt aber nur, wenn auch der nächste gilt, und dieser nächste Satz heißt: ,,Ihr aber sei Christi.“
Vielleicht sind wir indessen von dem Gang einer solchen Gewissenserforschung bislang keineswegs betroffen; denn wir haben die Sache Gottes doch nun wirklich auf unsere Fahnen geschrieben, wir haben es immer und im ganzen und in allem mit Gott zu tun. Und vielleicht ist er dennoch nicht wahrhaft unser Gott; denn wir tun, als ob wir Gott zu „managen“ hätten. Um es ein bißchen scherzhaft zu sagen: ,,Lieber Gott, wir wissen, daß alles auf dich ankommt und daß du alles in allem bist. Aber leider bist du so unmodern, daß die Menschen dich heute einfach nicht mehr verstehen; du kommst nicht mehr an. Und, ehrlich gesagt, dein Evangelium und deine Kirche stellen es reichlich ungeschickt an, dich für den Menschen von heute zum Zuge zu bringen. Doch zum Glück gibt es ja uns; und wir sind von heute. Wir werden dich schon wieder hinkriegen, laß uns nur machen, wir bekommen dich wieder auf Hochglanz, wir machen dich wieder modern!" Nein, so wichtig das ist mit dem Aggiornamento, so wahr es ist, daß das eine und selbe Wort Gottes immer neu der Übersetzung bedarf, so sehr uns Gott selber in [19] die Solidarität mit den Fragen und Nöten der Menschen neben uns verweist: Gott an den Mann bringen kann niemand als Gott selbst. Wir werden erst taugliche Werkzeuge für solche Übersetzung, für solche neue Nähe Gottes zum Menschen, wenn wir die Ohnmacht Gottes „anzukommen“ als unsere eigene riskieren, wenn wir so ratlos sind vor dem Menschen von heute wie das Wort des Evangeliums, so fremd und so anders wie Jesus seinen Zeitgenossen gegenüber, die sich gefreut haben, daß da nun endlich einer das Reich Gottes rasch und effektvoll zum Zuge bringt. Ja, wir müssen dort sein, wo der Mensch vor Gott ist; denn Jesus selbst ist dort gewesen: in der Verlassenheit von Gott, in der Feme von Gott. Wir müssen aber zugleich dort sein, wo Gott ist vor dem Menschen: die Verlassenheit Jesu am Kreuz, seine Ohnmacht dem Vater gegenüber ist im selben Atemzug die „Ohnmacht“ Gottes vor der Schuld und Selbstherrlichkeit der Welt, seine Fremde allem menschlichen Genügen und Sich-Verschließen gegenüber. Nur im Durchgang durch solche Ohnmacht gewinnt Gott und gewinnt auch die Wirklichkeit des Menschen von heute in uns Raum.
Das allerdings ist notwendig um Gottes willen. Gerade, wenn wir den Mut haben, die Sache von der anderen Seite, von der Seite Gottes aus zu sehen, ge-[20]rade wenn wir den Sprung in Gott hinein wagen, sind wir zugleich angewiesen, aber auch befähigt, die Schwierigkeiten des Glaubens, die Fremde und Not des Glaubens, kurzum alles das ernst zu nehmen, was heute den Menschen von Gott abzuschneiden, was ihm Gott zu versperren droht. Vielleicht zeigen sich vor allem drei „Versperrungen Gottes“ in unserer Situation.
Die erste: Gott kommt in der Natur, im menschlichen Dasein, in der Geschichte nicht mehr so offenkundig, so augenscheinlich vor, wie es für Menschen anderer Zeitalter der Fall war. Natur, Existenz, Geschichte fallen unter das Gesetz menschlichen Vermessens, Erklärens und Berechnens. Dies durchaus zu Recht. Doch in dem, was der Mensch zählen, analysieren, experimentieren, herstellen und sicherstellen kann, kann Gott gar nicht als Gott erscheinen. Der – in sich legitime, aber begrenzte – methodische Ansatz neuzeitlicher Wissenschaft läßt dies gar nicht zu. Da aber immer mehr Bezirke und Situationen des Lebens unter diesem methodischen Ansatz der Wissenschaft und Technik stehen, wird durch ihn der Lebensraum, der Erfahrungshorizont des Menschen immer durchgängiger bestimmt. Und was außerhalb dieses methodischen Ansatzes fällt, scheint für viele außerhalb der Wirklichkeit zu fallen. Ge-[21]wiß rächt sich diese Verengung des Lebens, diese scheinbar totale Identifizierung des Daseins mit dem, was machbar und planbar ist. Daß alles Wissen und Können des Menschen aus sich selbst ihm den Sinn und die Erfüllung allein nicht gewährt, beunruhigt den Menschen wieder; die Ursprünge brechen immer wieder durch. Doch der von der Wissenschaft vorgezeichnete Begriff der Wirklichkeit als der einer experimentierbaren und berechenbaren läßt oft diese Ursprünge nur wie Traumhaftes, Utopisches, Unbewußtes erscheinen. Ein „wirklicher“ Gott hat es nicht leicht, in die von der menschlichen Möglichkeit her projektierte und bestimmte Wirklichkeit wieder einzubrechen.
Die zweite Versperrung Gottes ist grundsätzlich immer da, sie erhält aber gerade heute eine besondere Dichte: Wie kann Gott sein, wenn er das Absurde, das Unbegreifliche, das Schreckliche zuläßt? Wie kann das heillose Antlitz erfahrener Wirklichkeit und das Antlitz des Gottes, der unser Heil sein will, im selben Horizont des Bewußtseins aufgehen? Es stimmt indessen merkwürdig, daß diese Frage gerade in einer Zeit aufbricht, die von der Machbarkeit der Zukunft des Menschen träumt. Doch je höher die Macht des Menschen heraufwächst, desto empfindlicher erfährt er zum einen seine Ohnmacht: der [22] Raum dessen, was er noch nicht kann, der Raum dessen, dem er einfach ausgeliefert ist, verschiebt sich, aber er verringert sich nicht. Zum andern und selbst dann, wenn der Mensch in der Tat alles unter seine Macht brächte, wächst mit dieser Macht auch die Möglichkeit, sie zu mißbrauchen, wächst die Unsicherheit des Menschen vor sich selbst. Wer werde ich morgen sein, was werde ich morgen mit mir anfangen? Vielleicht öffnen gerade die schrecklichen Erfahrungen, die der Mensch mit sich und seiner Welt macht und die Gott so weit wegzurücken scheinen von seiner Welt, ihm auch wieder neue Perspektiven auf diesen Gott zu. Der Gott, den er versteht, der Gott, mit dem er klarkommt, der Gott, den er in sein System unterbringt, der zerbricht ihm. Vielleicht bricht aber darin auch das Gefängnis auf, in dem der Mensch mit sich allein war.
Die dritte Versperrung ist vielleicht die folgenschwerste, wenn auch die unauffälligste und lautloseste: Gott scheint unnötig zu werden, uninteressant, ohne Bezugspunkt im Dasein. Man kommt so aus, man kann nicht nur alles erklären, sondern findet es auch redlicher und schlichter, mit den bleibenden Unerklärlichkeiten einfach so zu koexistieren, ohne sie doch noch irgendwie unterzubringen. Die Unschuld eines rein menschlichen Lebens, die Direkt-[23]heit eines Hierseins und Jetztseins, das nicht mehr über sich hinausfragt, die Identifikation mit dem Schönen, das sich gibt, und mit dem Schweren, das sich gibt, das Stehenlassen der Rätsel, der Verzicht auf jeden „Überbau“ -- das fasziniert viele. Gott ist dann einfach nicht mehr gefragt. Er wird nicht pathetisch „abgeschafft“, geleugnet oder „getötet“, er ist einfach nicht mehr da, abgedrängt, allenfalls Kulturgut der Erinnerung an gestern.
Zu all dem ließe sich vieles sagen, müßte vieles gesagt werden. Und doch wäre mit dem Scharfsinn und der Geschäftigkeit guter Antworten allein wenig getan. Gott selbst benimmt sich dem gegenüber nicht eigentlich wie ein beflissener Advokat, der seine eigene Sache verteidigt. Er scheint gelassen zuzusehen, und gerade das regt manche auf: Warum sagst du denn nichts, warum tust du denn nichts? Nun, Liebende sind so. Sie verteidigen sich nicht, sie rechtfertigen sich nicht, aber sie sind da.
Übrigens: Als Jesus Fleisch annahm aus Maria, der Jungfrau, schien Gott auch nicht „aktiver“ in der Geschichte seines Volkes zu sein als heute. In Maria hatte er seine verborgene Zukunft in der Welt. Maria war da. Zu 100%. Sollten nicht auch wir da sein?