Das Wort für uns

[86] Not mit uns selbst

Auf diese Schwierigkeiten allesamt läßt sich Gewichtiges sagen, läßt sich Antwort geben, die Vorurteile ausräumt und Beten rechtfertigt. Aber käme ein solchermaßen aufgeklärtes und gerechtfertigtes Gebet nicht erst recht in seine Not und in sein Unvermögen hinein. Wieso? Vor Gott stehen dürfen, ihn anreden dürfen, ihm etwas sagen dürfen, das alles entbindet uns nicht von uns selbst.

Wer aber sind wir? Sind wir nicht manchmal noch weiter von uns entfernt als der noch so fern gewähnte Gott? Ist es nicht ein entsetzlich fremdes Gesicht, das wir da vor dem Spiegel zurechtmachen und den anderen mehr oder weniger wohlgelaunt präsentieren? Läuft unser Leben nicht ab wie ein vorprogrammiertes Uhrwerk – aber so, daß dabei wir selbst uns davonlaufen und nicht wissen, was wir mit dem Leben anfangen sollen? Sind wir überhaupt mit uns selbst identisch? Kennen wir uns selbst? Sind wir nicht bei uns daheim ganz anders als in Gesellschaft, vielleicht in einer halben Stunde bereits ganz andere als jetzt? Not mit dem [87] Beten ist nicht nur Not mit Gott, sie ist Not mit uns selbst.

Wer wir sind, wissen wir nicht, und doch sind wir. Und was wir auch täten, wir kämen nicht daran vorbei, daß es uns gibt. Wir sind uns vorgegeben, wir sind uns aufgegeben, und was immer wir beginnen, selbst wenn wir uns vernichten wollten, es wäre schon eine Antwort darauf, daß es uns gibt. Dieser Zweiheit in unserem eigenen Dasein können wir nicht entrinnen: Es gibt mich, ich bin mir gegeben, allem meinem Wollen und Mögen, all meiner Freiheit voraus – aber indem ich bin, muß ich dann eben doch von mir her, nachdenkend, mir Rechenschaft gebend, eben verantwortlich, damit etwas anfangen, daß ich allem meinem Anfangen voraus schon bin.

Ich bin also, ehe ich etwas anfange, aber indem ich bin, fange ich mit mir etwas an. Hier ist ein letzter Zwiespalt, den ich nie ganz in den Griff bekomme. Man kann, wie man so sagt, sein Leben meistern. Aber kann man es wirklich? Spüren wir nicht, wie töricht es wäre, wie aufgeblasen und billig, wollte man sagen: Egal, was auch auf mich zukommen wird, ich [88] werde damit fertig, mir kann nichts etwas anhaben?

Das wäre nicht unsere Wahrheit. Unsere Wahrheit ist viel eher der Ruf nach einem Letzten und Äußersten, das uns auffängt, das uns in allem Zwiespalt die Zusage gäbe, daß wir aufgenommen sind. Aufgenommen durchaus als verantwortlich, aufgenommen durchaus so, daß darin unser Leben nicht zum klappenden Automaten würde, der funktioniert, ohne daß etwas passieren kann. Aber aufgenommen so, daß ich ein Wohin habe, auf das hin ich mit mir etwas anfangen kann, ein Wohin, das Du sagt zu meinem Ich, ein umgreifendes Du, in dem alles, was in mir ist, in seiner Verworrenheit und Vielfalt, in seiner Fülle und Dichte sein darf und sein kann.