Sieben Aspekte des Christseins

[88] Der neue Raum

Eine der bedrängendsten Nöte des heutigen Menschen ist die Raumnot. Zwar stößt der Mensch immer weiter in unbekannte, bislang unerschlossene Räume vor. Doch diese neueröffneten Räume bergen ihn nicht; in ihnen begegnet er immer nur wieder sich selbst, in ihnen läßt er immer mehr und immer dichter seine eigenen Spuren zurück, alles wird nur zur Ausfaltung seines Ich, alles ist erfüllt vom Schutt seines Ich. So macht er zwei scheinbar widersprüchliche, im Grund aber miteinander zusammenhängende Erfahrungen des Raumes: Der Raum ist leer, der Raum fängt ihn nicht auf in seiner Flucht über sich hinaus – der Raum ist besetzt, der Raum wird eng, der Raum läßt ihn nicht frei atmen. Daß die Umweltverschmutzung zu einem der schwierigsten Probleme der Zukunftsplanung wird, hat Symbolcharakter. Andere Symbole: Zersiedlung der Landschaft, Aufstockung des Wohnraums zum Wolkenkratzer, zur überdimensionalen Wohnmaschine, künstlicher Schutz der letzten Reste unbebauten und unverschmutzten Lebensraumes. Wohin weisen diese Symbole? Der Raum, der den Menschen umgibt, der Außenraum, läßt ihn allein und erstickt ihn zugleich, weil er seinen Innenraum verloren hat und weil er ohne Innenraum auch nicht mehr den Zwischenraum zum anderen findet, in dem [89] man sich begegnen, in dem man einander freilassen und nahe sein kann. Auch darauf weisen viele, eher noch fundamentalere Zeichen und Erfahrungen heutigen Lebens hin. In Traum, Rausch und Droge versuchen sich viele Menschen heute einen imaginären Raum zu erschließen. Sie treten die Flucht in ein scheinbares Innen an, um dort geschützt zu sein vor den Zwängen der Gesellschaft, die sie umgibt, um dort die Erfahrung von Freiheit, Erfüllung und Geborgenheit zu machen. Andere erträumen sich im Protest gegen das Bestehende, in der Suche nach einem Paradies neuer Unschuld und Unmittelbarkeit den Raum, in dem sich leben läßt. Und fast alle klagen über die Not um den wirklichen Kontakt, um die lebendige Begegnung, um das gelingende Gespräch, wo doch Kommunikation, Diskussion, Kooperation, soziale Verflochtenheit quantitativ immer dichter und umfassender werden. Schon am Anfang der Neuzeit steht eine neue Erfahrung des Raumes, die die heutige Problematik anzeigt. Bei Blaise Pascal, in seinen „Pensées“, finden wir eine Aussage, wie sie hundert oder zweihundert Jahre früher nicht möglich gewesen wäre: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern“ (Fragment 206 nach Brunschvicg). Doch nicht nur das Empfinden der Leere artikuliert [90] Pascal, er läßt den Partner seiner Gespräche genauso das Gegenteil formulieren: „Ich schaue diese grauenvollen Räume des Universums, die mich einschließen, und finde mich an eine Ecke dieses weiten Weltenraums gefesselt, ohne daß ich wüßte, weshalb ich nun hier und nicht etwa dort bin“ (Fragment 194). Was hat – geistesgeschichtlich – diese neue Raumerfahrung, die dem Mittelalter oder der Antike fremd wäre, entfesselt? Der Versuch des Menschen, von seinem Ich, von seiner Subjektivität her alles zu begreifen und alles zu entwerfen. Ein unendlicher Raum der Möglichkeiten erschließt sich ihm; aber diese Möglichkeiten sind die seinen, sind seine Bindung an sich selbst, sind das Einbegreifen des Alles in die eigene Einmaligkeit, in die Einsamkeit des Menschen mit sich selbst. Es wäre unsinnig, den Ansatz der Neuzeit, ihre Wissenschaft, ihre Technik, ihr Denken anklagen oder rückgängig machen zu wollen. Wohl aber ist es notwendig, daß wir, ans Ende der Neuzeit gelangt, durchstoßen zu einer Erfahrung, die tiefer ist als die, die mit ihrem eigenen Ende die innere Endlichkeit des Menschen, seine von innen unlösbare Not um sich selbst ihm vor Augen stellt. Pascal selbst hat bereits einen Hinweis auf diese tiefere Erfahrung gegeben, indem er entdeckte, daß alle äußere Erfahrung des Menschen abhängt von [91] den Grundentscheiden seines Herzens, das er im Glauben Gott einräumen oder im Unglauben ihm verschließen kann. Verlieren wir uns mit dieser Aussage indessen nicht in eine Introvertiertheit, die uns abdrängt von den höchstrealen Problemen des Raumes, der Lebensraum für den Menschen sein soll? Es ist immerhin interessant zu bemerken, daß Pascal auch den Grund der Möglichkeit für die Außenerfahrung des Raumes tiefer innen als nur bei den Sinnen oder der Vernunft, nämlich beim Herzen ansetzt (vgl. Fragment 282). Doch auch unabhängig von dieser erkenntnistheoretischen Problemstellung gilt: der Außenraum fängt innen an. Wenn ich glaube, daß Gott existiert, und wenn ich diesen Gott nicht nur als ein letztes Fundament oder eine oberste Stütze oder einen äußersten Horizont in mein Denk- und Weltsystem einbeziehe, sondern wenn ich damit rechne, daß dieser Gott mich angeht, daß er mich anspricht, daß ich in wirklichem Kontakt mit ihm stehen kann – kurzum, wenn ich mich einräume für den lebendigen Gott, wartend und wachend offenhalte für ihn, dann bekommt der Raum, auch der Raum um mich, eine neue Bedeutung. Was in diesem Raum auf mich zukommt, will daraufhin befragt werden, was von Gott her jeweils auf mich zukommt. Die Dinge, die [92] im Raum sind, bedeuten nicht nur Punkte innerhalb des unendlichen Koordinatensystems meiner möglichen Anschauung, sie sind nicht nur konstruierbare Fälle der Möglichkeit meines Vorstellens, Denkens und Erfahrens, sie sind auch nicht nur Zufälle einer beziehungslosen Fremde, in die ich wie in ein Gefängnis eingesperrt bin; nein, sie sind Stellen der Begegnung, sie liegen auf dem Weg, den ich zu Gott, den Gott zu mir macht. Der Raum als ganzer wird Weg, wird Kontaktraum, Begegnungsraum. Ich bin mit meinen eigenen Möglichkeiten nicht mehr allein, ich bin aber auch in meinen Unmöglichkeiten nicht mehr nur mir selbst entfremdet, ich bin einfachhin offen und die Wirklichkeit ist offen. Die Dinge beginnen zu sprechen, zusammenzugehören, sie stehen in einem begehbaren und bewohnbaren Raum, in einem Lebensraum. Wer sich Gott einräumt, dem öffnet sich die Welt. Vor allem aber wird er die Menschen verstehen als solche, die ihm von Gott her auf seinen Weg gestellt sind. Er wird die Welt als Lebensraum für den Menschen, als Wohnraum für den Menschen erachten und darum auch bemüht sein, den Außenraum als Zwischenraum, als Raum für den Menschen zu gestalten. In der Heilsgeschichte spielt der „Raum“ immer wieder eine zentrale Rolle. Gewiß wird einerseits [93] der Raum als fremd erfahren, sofern der Mensch sich nicht in dem, was ihm unmittelbar gegeben ist, habend, sichernd, satt festmachen kann. Wer sich für Gott einräumt, wird immer wieder zum Aufbruch, zum Exodus gerufen, dabei aber wird gerade der Raum ihm zum Weg, er wird zwar in seinem Anschein, letzte Heimat hier und jetzt zu bieten, entlarvt; zum Weg werdend, wird aber dieser Raum zugleich „erlöst“, er verliert den Charakter der ziellosen Leere einerseits, der Versperrung und Verschlossenheit andererseits. Und immer wird der Weg Weg zum „Gelobten Land“, Weg in den verheißenen Raum der Erfüllung. Diese Erfüllung aber ist, wenn auch im letzten je künftig, doch schon jetzt im Anbruch; die „Neue Stadt“ ist schon jetzt dabei, vom Himmel herabzusteigen (vgl. Apk 21). Man könnte es geradezu versuchen, das Johannesevangelium auf seine Raumerfahrung hin zu lesen. Der Logos, der seinen Raum in Gott und bei Gott hat, tritt ein in den Lebensraum des Menschen, er schlägt sein Zelt unter uns auf (1,14). Von uns, zu denen er kommt, verlangt er aber die Einräumung: Denen, die ihn aufnahmen, gibt er die Macht, Kinder Gottes zu sein (1,12). Die Begegnung mit Jesus ruft die Frage wach: Meister, wo wohnst du (1,38)? Die Bewegung der Nachfolge steht unter dem Ange-[94]bot und der Verheißung: Kommt und seht! (1,39). Das Weggehen Jesu von uns ist der Eintritt in das Haus des Vaters, wo er uns Wohnung bereiten will (14,1 ff). Diesem Weggehen Jesu, um uns beim Vater Wohnung zu bereiten, entspricht aber von der anderen Seite die gleichzeitige Bewegung seines Kommens zu uns, um mit dem Vater zusammen Wohnung bei denen zu nehmen, die in seiner Liebe bleiben (14,23). Wer bei ihm aushält in seinem Pascha, in seinem Hinübergang zum Vater, der gewinnt gerade hier den neuen Raum, an Jesu Statt den anderen Menschen Raum zu gewähren, die er unserer Liebe anvertraut. Auf Jesu Wort hin nimmt der Jünger, den er liebt, Jesu Mutter als seine Mutter zu sich, empfängt sie ihn als ihren eigenen Sohn (19,26 f). Die Mutter Jesu: sie ist der Mensch, der uns den Aspekt des Raumes vorlebt. Ihr Ja ist die radikale Einräumung des menschlichen Herzens für den kommenden Gott. Indem sie Raum für die Menschwerdung des Wortes in sich selbst eröffnet, wird sie zugleich auf den Weg der Liebe, der Begegnung mit ihrem Nächsten, mit Elisabeth, gewiesen. Die Spannung, das Dunkel und die Erfüllung ihres Lebens besteht darin, daß sie den, der im Hause seines Vaters sein muß, in ihr Haus aufnimmt, in ihr Haus freilich, um ihn immer wieder neu zu verlieren an den [95] Vater und an die anderen. Das äußerste Verlieren, die Leere der Verlassenheit am Kreuz und der Einsamkeit unter dem Kreuz sind indessen der Anfang des neuen Raumes, der neuen Schöpfung; denn hier wird gerade die Leere, die Verlassenheit, das Nichts angenommen. In solcher Annahme aber werden sie verwandelt, werden sie zum Raum, indem der handelnde, der schenkende Gott wohnen und wirken kann. Und so fängt am Kreuz Kirche an als der neue Raum, der Gott für die Menschen und den die Menschen für Gott haben. Für uns als Glaubende genügt es nicht, dies zu wissen oder es als eine interessante Deutung des Heils-geschehens zu reflektieren. Wir müssen die neue Wirklichkeit des Raumes leben, wir müssen sie in dem Raum inkarnieren, den wir in unserer Alltäglichkeit, den wir in den Bedrängnissen unseres Zeitalters erfahren. Raum ist für Christen immer auch Raum für die anderen, Raum, dessen Maß ich nicht nur an meinen eigenen Bedürfnissen und an meinem eigenen Geschmack nehme, sondern am Mitsein mit den anderen, an der Offenheit für die anderen, Maß am Herrn, der selber im anderen zu mir kommt, Maß am Herrn, der im „Zwischenraum“ zwischen mir und den anderen in der Mitte sein will. Das erschöpft sich nicht im „Platzhaben“ für die anderen, [96] es schließt auch ein neues Verhältnis zu den Dingen mit ein. Wo Raum Begegnungsraum wird, werden die Dinge zur Gabe. Zur Gabe für uns von Gott her, zur Gabe für die anderen von uns her. Als Gabe sind die Dinge nicht mehr nur „neutral“, sie wollen verstanden werden in der umfassenden Harmonie des Wortes, das sich in allem, was ist, uns zusagt und darin das eine uns zusagt, was Gott uns sagen will: daß er uns liebt. Wenn aber Gabe dazu da ist, weitergegeben zu werden, dann heißt dies auch, daß wir nie uns im Haben und Verfügen festmachen dürfen. Christlich gehören Armut und Verzicht einerseits, Freude an den Dingen und Freiheit zu den Dingen andererseits unmittelbar zusammen; erst in ihrem Gleichklang sind sie für uns, was sie von Gott her sind: beständiges Ereignis von Gabe und Gegengabe, von Schenken und Empfangen. Dies alles betrifft den einzelnen, seine Weise, die Räume seines Daseins zu verstehen und zu gestalten. Es betrifft aber auch Gesellschaft und Kirche. Raum füreinander, Raum für die anderen, Raum für den Herrn, das verlangt nach den entsprechenden Strukturen. Es kann aber mit Strukturen allein gar nicht gewährleistet werden. In den Strukturen und über sie hinaus muß die „Atmosphäre“ entstehen, muß jene spürbare Offenheit und Unmittelbarkeit [97] wachsen, in denen der Mensch dem Menschen, der Mensch dem Herrn, der Herr dem Menschen begegnen kann.